# taz.de -- Politikerin über Befreiung der Krim: „Die Minen in den Köpfen r… | |
> Seit der Besetzung Russlands 2014 leben die Krimtataren unter ständiger | |
> Repression, sagt Tamila Taschewa. Sie vertritt die Ukraine auf der Krim. | |
Bild: Die Kertsch-Brücke während eines Militärangriffs im August 2023 | |
taz: Frau Taschewa, vor zehn Jahren hat Russland auf der ukrainischen | |
Halbinsel Krim [1][ein illegales Referendum] abgehalten und sie so | |
annektiert. Wie ist die Situation dort heute? | |
Tamila Taschewa: Die Russische Föderation hat die Krim zu einem großen | |
Militärstützpunkt ausgebaut, mit 35.000 permanent stationierten Soldaten. | |
Auch die Kolonisation der Region ist in vollem Gange. Wir schätzen, dass | |
mindestens 800.000 Menschen aus Russland dort zusätzlich angekommen sind. | |
Die Bevölkerung wird ersetzt, was nach humanitärem Völkerrecht ein | |
Kriegsverbrechen ist. Es gilt das Recht der Russischen Föderation, | |
gleichzeitig ist es eine Zone der Gesetzlosigkeit, da die lokale | |
Bevölkerung keine Freiheiten mehr hat. | |
Auch haben sich die wirtschaftlichen Versprechungen Putins nicht erfüllt. | |
Die Krim ist eine graue Sanktionszone mit sehr hohen Lebensmittel- und | |
Treibstoffpreisen, ohne Wirtschaft und Entwicklungsmöglichkeiten, aber mit | |
ständiger politischer Verfolgung der Menschen. | |
Bis heute sind 214 zivile politische Gefangene auf der Krim bekannt, 135 | |
davon sind Krimtataren. Wie erklären Sie sich das? | |
Ich bin selbst Krimtatarin und kenne [2][die Geschichte meines Volkes] sehr | |
gut. Wegen der Deportation von 1944, als Stalin alle Krimtataren nach | |
Mittelasien verschleppte, konnte ich nicht auf der Krim geboren werden. Als | |
ich fünfeinhalb Jahre alt war, kehrten meine Familie und ich auf die Krim | |
zurück. Die Krimtataren wissen sehr genau, wer ihr Feind ist. Ihr Feind ist | |
die gesamte russische imperiale Maschinerie, sei es das Russische Reich, | |
die Sowjetunion oder die Russische Föderation. Die Deportation von 1944 war | |
ein Versuch, die Krimtataren durch Völkermord vollständig auszulöschen. Aus | |
diesem Grund haben sie die Russische Föderation 2014 bei dem Referendum | |
nicht akzeptiert. Sie wussten, dass dies ihre allmähliche Vernichtung | |
bedeuten würde. | |
Und genau das geschieht jetzt: Mobilisierung, Verfolgung, | |
Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Verschwindenlassen. Die Krimtataren haben | |
verstanden, dass sie nur überleben können, wenn sie nicht mehr unter | |
russischer Herrschaft stehen. Deshalb entscheiden sie sich für die | |
Demokratie und die Ukraine. | |
Zwischen Russland und der Ukraine finden [3][ständig Gefangenenaustausche] | |
statt, die aber meist nur Militärangehörige betreffen. Warum ist es nicht | |
möglich, inhaftierte Zivilisten von der Krim zu befreien? | |
Das liegt unter anderem daran, dass nach internationalem Recht | |
Militärangehörige nicht gegen Zivilisten ausgetauscht werden dürfen. In der | |
Regel wird Militär gegen Militär ausgetauscht. In der Ukraine gibt es keine | |
zivilen russischen Gefangenen, also gibt es auch keinen zivilen Austausch. | |
Aber mit den Krimtataren oder den Krimbewohnern im Allgemeinen ist es noch | |
komplizierter. Russland identifiziert unsere Zivilisten als russische | |
Staatsbürger. | |
Im Jahr 2021 verabschiedete die Ukraine die Strategie für die Deokkupation | |
der Krim. Was ist das? | |
Egal wann die Krim befreit wird, wir müssen darauf vorbereitet sein. | |
Deshalb haben wir begonnen, uns mit wichtigen Fragen nach der Deokkupation | |
zu beschäftigen: Werden die Menschen zuerst etwas zu essen haben? Welche | |
Papiere werden sie haben? Wie erhalten sie Sozialleistungen? Welche | |
Dokumente werden die Kinder vorlegen, wenn sie zur Schule gehen? Welche | |
Schulbücher werden sie benutzen? Wie können wir wieder unabhängige Medien | |
auf die Krim bringen? Wie schnell können Wahlen stattfinden? Wir sind uns | |
bewusst, dass das sehr komplexe Fragen sind. Die Menschen haben Angst vor | |
dem Unbekannten. Es ist deshalb wichtig, dass sie klare Antworten bekommen. | |
Am Beispiel der bereits befreiten Gebiete in Kyjiw, Charkiw und Cherson | |
weiß die Ukraine, mit welchen Problemen sie konfrontiert werden könnte. Auf | |
der Krim ist die Situation noch komplizierter, da die Halbinsel schon viel | |
länger unter Besatzung steht. Wie wollen Sie damit umgehen? | |
Erstens brauchen wir Behörden vor Ort. Unter Kriegsrecht sind das | |
Militärverwaltungen. Das heißt, wir kommen mit Militärverwaltungen auf die | |
Halbinsel, weil wir verschiedene Stellen koordinieren müssen: Militär, | |
Ordnungskräfte, Medizin, Bildung und so weiter. Zweitens gibt es die Frage | |
des Personals – wie und wer dort arbeiten wird. Wir haben 2023 eine | |
Personalreserve geschaffen, für die sich bereits Leute bewerben. Bis jetzt | |
sind es nur 2.500. Für die Krim brauchen wir etwa 50.000 Menschen. [4][Im | |
Vergleich zu Cherson], das neun Monate besetzt war, ist die Krim seit zehn | |
Jahren besetzt. Das bedeutet, dass das lokale Personal weder die | |
ukrainische Gesetzgebung noch die ukrainische Sprache kennt. | |
Es ist wichtig zu verstehen, dass diejenigen, die in leitenden Positionen | |
gearbeitet haben, wegen Kollaboration und Unterstützung des | |
Besatzungsregimes strafrechtlich verfolgt werden. Einige von ihnen haben | |
Kriegsverbrechen begangen und gegen das Völkerrecht verstoßen. Sie werden | |
sich vor Gericht verantworten müssen. Das betrifft 2.000 bis 3.000 | |
Menschen. Wir werden uns überlegen, was wir mit dem Rest der unteren | |
Führungsebene machen. Zum Beispiel werden wir sie nach einer Überprüfung in | |
ihren Positionen belassen, oder das Spektrum der Ämter, die sie bekleiden | |
können, einschränken. | |
Im Zusammenhang mit der Deokkupation wird oft von „kognitiven | |
Reintegration“ gesprochen. Was ist das? | |
Kommunikation ist sehr wichtig. Den Menschen auf der Krim muss erklärt | |
werden, dass die Rückkehr der Ukraine für sie keinen völligen Zusammenbruch | |
bedeutet. Die „kognitive Reintegration“ ist einer der schwierigsten Aspekte | |
der Deokkupation der Krim. Man könnte sie auch als kognitive Minenräumung | |
bezeichnen. Denn Russland legt mit seiner Bildungs-, Kultur- und | |
Informationspropaganda Minen in die Köpfe der Menschen. Diese Minen müssen | |
wir räumen. Wir verstehen, dass nach der Befreiung der Krim eine | |
Übergangszeit notwendig sein wird, damit das ukrainische Recht dort voll | |
zur Geltung kommen kann. | |
Wir verstehen auch, dass die ukrainische Sprache nicht sofort in allen | |
Gebieten der befreiten Halbinsel funktionieren wird. Deshalb arbeiten wir | |
derzeit mit den zuständigen Ministerien an der Entwicklung von Mechanismen | |
für eine Übergangszeit, zum Beispiel spezielle zweisprachige Schulbücher | |
für Kinder. Der Reintegrationsprozess soll für die Menschen so sanft wie | |
möglich sein, gleichzeitig muss der Staat Stärke zeigen und alle Rechte und | |
Interessen der Bürger berücksichtigen. | |
In Deutschland wird derzeit über die [5][Lieferung von Taurus-Raketen] an | |
die Ukraine diskutiert, mit denen diese offenbar versuchen will, die | |
Kertsch-Brücke zu zerstören, die die Krim mit Russland verbindet. Wie | |
könnten die Menschen auf der Halbinsel darauf reagieren? | |
Die Kertsch-Brücke sollte nicht als ziviles Bauwerk betrachtet werden. Alle | |
Einrichtungen, die Russland nach 2014 auf der Krim gebaut hat, haben einen | |
potenziell militärischen Zweck. Die Brücke dient dem schnellen Transfer von | |
Ausrüstung, Truppen und Nachschub. Sie ist eine wichtige Verbindungsstraße | |
zwischen Russland und der Krim. Ihre Zerstörung würde das militärische | |
Potenzial Russlands für eine Offensive im Süden der Ukraine verringern. | |
Deshalb ist sie für uns sehr wichtig, aber wir brauchen auch die | |
entsprechenden Waffen. | |
Die Ukraine hat die Brücke bereits angegriffen, und wir haben auf der Krim | |
unterschiedliche Reaktionen erlebt. Diejenigen, die wir als Kolonisatoren | |
bezeichnen, haben natürlich Angst, sind nervös und verlassen schließlich | |
die Krim. Der proukrainische Teil der Halbinselbevölkerung hat sich über | |
die Angriffe gefreut. Diejenigen, die beiden Seiten neutral | |
gegenüberstehen, versuchen, ihr Leben weiterzuführen, und ignorieren, was | |
um sie herum geschieht. Wir haben eine interessante Tendenz festgestellt: | |
Je mehr Angriffe auf militärische Ziele auf der Krim stattfinden, desto | |
mehr Menschen beginnen, ihre proukrainische Haltung auf verschiedene Weise | |
zu zeigen. In privaten Gesprächen sagen uns viele, dass sie das Gefühl | |
haben, dass die Ukraine zum ersten Mal seit 2014 wirklich um die Krim | |
kämpft. | |
In europäischen Ländern heißt es oft, wenn Putin die Krim verliere, | |
provoziere ihn das zum Einsatz von Atomwaffen. Was sagen Sie zu solchen | |
Befürchtungen? | |
Ich halte es für einen großen Mythos, dass Russland sofort Atomwaffen | |
einsetzen wird. Die Ukraine sollte diesen Krieg nicht nur überleben dürfen. | |
Die Ukraine muss gewinnen können und Russland muss verlieren können. Alle | |
Handlungen sollten darauf ausgerichtet sein. Es wird keinen gerechten | |
Frieden für die Ukraine geben ohne die Befreiung aller unserer Gebiete, | |
einschließlich der Krim. Wir sind sehr dankbar für all die Hilfe, die | |
bereits geleistet wurde, aber sie reicht noch nicht aus, um diesen Krieg zu | |
unseren Bedingungen zu gewinnen. Was bedeutet „Hissen der weißen Fahne“? Es | |
bedeutet, dass wir aufhören zu existieren. Man darf den tausendfachen Tod | |
unseres Volkes nicht ignorieren. Ist die Welt bereit, die Augen zu | |
schließen, wenn ein ganzes Volk vernichtet wird? | |
17 Mar 2024 | |
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[2] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/krim-2024/545059/die-krim-und-di… | |
[3] /Ukraine-und-Russland-einigen-sich/!5983646 | |
[4] /Protokolle-aus-der-Ukraine/!5973841 | |
[5] /Bundestagsstreit-um-den-Taurus/!5995108 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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