# taz.de -- Wahlen in Russland: Keine Erwartungen und kaum Hoffnung | |
> In Russland sterben die Dörfer, die Alten leben abgehängt zwischen | |
> verlassenen Häusern. Sie stimmen für Putin – nicht aus Überzeugung, | |
> sondern aus Gewohnheit. | |
Bild: „Putin Anti-Christ“ – eine Kirche in einem Dorf in der Oblast Twer | |
Oblast Twer taz | Ein kleiner Ort im Gebiet Twer. Es ist der letzte Tag der | |
Präsidentschaftswahlen in Russland – Sonntag, der 17. März. Auf dem | |
Bahnsteig wartet eine alte Dame auf ihren Zug. Sie hat einen leeren | |
Einkaufstrolley dabei. An der nächsten Bahnstation will sie Zucker, Mehl | |
und Milch kaufen – die Lebensmittel sind dort etwas billiger. Jewdokija | |
(Name geändert, Anm. der Red.) wird bald 75, sie ist schon lange Rentnerin. | |
Das Dorf, in dem sie lebt, liegt zwischen St. Petersburg und Moskau, in | |
beide Städte sind es jeweils mehrere hundert Kilometer. Alle fünfzehn, | |
zwanzig Minuten rasen Schnellzüge mit schrillem Warnsignal ohne Halt am | |
Dorfbahnhof vorbei. „Ich war schon wählen. Was soll man sonst tun?“, fragt | |
Jewdokija. „Natürlich hab ich [1][für Putin gestimmt], für wen sonst? Die | |
anderen kenne ich doch gar nicht.“ | |
Wie Jewdokija denken die meisten im Dorf. Etwa vierhundert Menschen leben | |
noch hier, die meisten von ihnen sind im Rentenalter. Schon immer sind sie | |
diszipliniert zur Wahl gegangen. Das Internet nutzen sie kaum, die meisten | |
Information aus der Welt außerhalb ihres Dorfes bekommen sie aus dem | |
Fernsehen. Als dort vor der Wahl die Kandidaten vorgestellt wurden, war | |
ihnen niemand außer dem amtierenden Präsidenten bekannt. Und die | |
Wahlkampfreden der anderen klangen wenig überzeugend. | |
Doch auch mit Putin verbinden sie keine Hoffnung auf einen Aufschwung im | |
Dorf. Einige stimmten aus Gewohnheit für ihn, andere aus Mangel an | |
Alternativen: Den anderen Kandidaten trauen sie nicht, und Putin ist | |
immerhin schon über 20 Jahre da. Gut leben sie damit nicht, aber sie leben. | |
## „Die Dörfer sterben. Arbeit gibt es hier keine“ | |
„Wir erwarten keine Verbesserungen mehr, aber man kann ja nichts tun. Man | |
kommt irgendwie durch. Die Hälfte der Häuser hier steht leer, die Menschen | |
verlassen sie einfach und kommen nicht zurück. Die Dörfer sterben. Arbeit | |
gibt es hier keine. Die jungen Leute gehen in die Stadt, und die, die dort | |
keinen Job finden, arbeiten in der Strafkolonie hier in der Nähe“, erzählt | |
Jewdokija. | |
Direkt an der Eisenbahnlinie liegt das örtliche Kulturhaus. Das Gebäude ist | |
in keinem guten Zustand. An einigen Stellen ist der weiße Putz abgeplatzt | |
und man sieht die roten Ziegelsteine der Fassadenwand. Der Eingang ist | |
festlich mit Luftballons und Plakaten geschmückt: Heute ist ein staatlicher | |
Feiertag, man begrüßt den Frühlingsanfang. In dem Gebäude ist auch das | |
Wahllokal des Dorfes – gleich gegenüber vom örtlichen [2][Alkoholgeschäft], | |
aus dessen Lautsprechern russicher Pop tönt. | |
Bis zum Mittag dieses Wahlsonntags haben fast alle Dorfbewohner ihre Stimme | |
abgegeben, in einem kleinen Saal des Kulturhauses. Der Dielenboden ist mit | |
Fußmatten bedeckt, in der Ecke knistert das Feuer im Kachelofen. Es ist | |
sehr warm im Raum, eine Mitarbeiterin der Wahlkommission hat gerade noch | |
einmal Brennholz von draußen geholt. | |
An Stellwänden im Wahllokal kann man sich über die verschiedenen Kandidaten | |
informieren. In der Mitte des Raumes steht die versiegelte, durchsichtige | |
Wahlurne, [3][die Wahlkabinen] sind seitlich mit Vorhängen geschlossen. | |
Alle Wahlhelferinnen sind Mitarbeiterinnen der Gemeindeverwaltung oder des | |
Kulturzentrums. Wenn gerade keine Wähler im Raum sind, unterhalten sich die | |
Frauen über Haushaltsdinge. Im Flüsterton, damit die Gespräche nicht von | |
der aufgestellten Videokamera mitgeschnitten werden. | |
## Der einzige Arzt im Dorf ist 80 Jahre alt | |
Sterbende Dörfer wie dieses gibt es in Russland zu Tausenden. Zu | |
Sowjetzeiten gab es hier einen landwirtschaftlichen Großbetrieb, eine | |
sogenannte Sowchose, eine Fabrik und eine Bäckerei. Jetzt erinnern nur noch | |
alte zweistöckige Holzhäuser – die ehemaligen Arbeiter-Wohnheime – an die… | |
Vergangenheit. Die meisten von ihnen stehen längst leer. Viele sind schon | |
eingesackt oder ganz eingestürzt. | |
Arbeit bieten nur noch staatliche Einrichtungen. Im Dorf gibt es ein | |
Internat für die Kinder aus dem umliegenden Dörfern. Allerdings ist kaum | |
noch jemand da, um sie zu unterrichten. Der Lehrermangel ist katastrophal, | |
genauso wie der Mangel an Ärzten. Jüngere Leute wollen wegen der niedrigen | |
Löhne und schlechten Wohnbedingungen nicht auf dem Land arbeiten. In der | |
örtlichen Krankenstation arbeitet seit vielen Jahren nur noch ein Arzt, er | |
ist fast 80 Jahre alt. Zu größeren Behandlungen müssen die Dorfbewohner 40 | |
Kilometer weit fahren. Aber auch dort fehlen im Krankenhaus schon lange | |
zahlreiche Fachärzte. | |
## Angst vor den ukrainischen Raketen | |
Über den Krieg in der Ukraine spricht man hier mit Entsetzen. Im September | |
2022 waren im Dorf siebzehn Männer zwischen 25 und 52 Jahren mobilisiert | |
worden. Die Dorfbewohner haben Angst um sie. Außerdem befürchten sie, dass | |
irgendwann auch auf ihr Dorf Raketen fliegen könnten. „Als ob es bei uns | |
noch keinen Krieg gegeben hätte. Ich höre, was sie im Fernsehen sagen: es | |
ist so schrecklich, was uns erwartet. Wir sitzen auf einem Pulverfass“, | |
sagen die Leute im Dorf. | |
Auf einer Anhöhe am Dorfrand steht eine alte, verfallene Kirche. Eigentlich | |
sollte sie restauriert werden, aber dazu ist es irgendwie nie gekommen. | |
Mittlerweile ist das Dachgewölbe eingestürzt, aus den Mauerresten wachsen | |
Moos und kleine Bäume. Aus dem einst prächtigen Gebäude ist eine Ruine | |
geworden. Im Inneren liegen Haufen von Ziegelsteinen. Und an eine der noch | |
erhaltenen Wände hat jemand mit oranger Farbe geschrieben: „Putin ist der | |
Antichrist“. | |
Durchs ganze Dorf hört man das laute Warnsignal der durchfahrenden | |
Schnellzüge Moskau – St.Petersburg. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
18 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ekaterina Kabanowa | |
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Sahra Wagenknecht | |
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