# taz.de -- Wahlen in Russland: Schlange stehen gegen Putin | |
> Aus Protest kommen Tausende um Punkt 12 zu den Wahllokalen. Eine | |
> Möglichkeit, Unzufriedenheit zu zeigen – doch der Kreml hat sie im Blick. | |
Bild: Stiller Protest um 12 Uhr mittags vor den Wahllokalen: Alexei Nawalny hat… | |
MOSKAU taz | Die Menschen schleichen umher, schauen sich vorsichtig um und | |
reihen sich in die Schlange an der Schule „Admiral Kusnezow“ im Westen | |
Moskaus ein. Es ist Punkt 12 Uhr mittags in Moskau. Tag drei der Wahl eines | |
Präsidenten in Russland, der keine Wahl zulässt und am Ende des Tages | |
pompös den Sieger verkünden wird: [1][Wladimir Putin], wieder zu dem | |
gemacht, der er auch schon die vergangenen zwölf Jahre war. | |
Weder frei noch fair ist diese Wahl. Die Abstimmung ist eine perfekt | |
inszenierte Legitimierungsmaßnahme der bestehenden Verhältnisse. Das | |
Staatsfernsehen zeigt Menschen, die „zusammenstehen gegen den Westen“, | |
„Patrioten unseres Landes“ eben, sagt der Moderator. | |
Die Zentrale Wahlkommission vermeldet bereits am Sonntagmorgen eine | |
Wahlbeteiligung von mehr als 60 Prozent, auf Tschukotka im äußersten Osten | |
des Landes liegt sie da bereits bei 80 Prozent, genauso hoch wie vom Kreml | |
vor einem halben Jahr als Ziel gesetzt. Ähnlich hoch sollen die Zahlen in | |
den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten sein, in denen niemand | |
überprüfen kann, was an den Wahlurnen abläuft. | |
Der Druck ist überall hoch. Staatsangestellten werden Prämien geboten, zur | |
Wahl zu gehen. Ihnen wird damit gedroht, sie würden ihre Stelle verlieren, | |
wenn sie nicht „für den Richtigen“ stimmten. Soldat*innen, Ärzt*innen, | |
Lehrer*innen, Ministeriumsmitarbeiter*innen treten zuweilen | |
geschlossen an die Urne. Manche müssen einen Screenshot ihrer | |
elektronischen Abstimmung an ihren Chef schicken. Viele tun das, um keinen | |
Ärger zu haben. „Ist doch eh schon alles entschieden im Kreml, auf meine | |
Stimme kommt es nicht an“, sagen die Menschen dann. | |
## Das Land ist nicht so geschlossen, wie es scheint | |
Auch jeder, der sich um 12 Uhr in die Schlange am roten Backsteingebäude | |
unweit des Moskauer Ukrainski-Boulevards stellt, Familien mit Kinderwagen, | |
ältere Frauen und jüngere Männer, weiß, dass diese Abstimmung die am | |
stärksten manipulierte Wahl in den vergangenen 30 Jahren ist. Sie wissen, | |
dass der Kreml sie als Verräter*innen bezeichnet und der Regierung ihre | |
Unzufriedenheit bestenfalls egal ist. | |
Und doch kommen sie, stehen hier, wie auch vor anderen Wahllokalen des | |
Landes, um genau das zu demonstrieren: ihr Nicht-einverstanden-Sein mit der | |
Politik ihres Landes. [2][„Mittag gegen Putin“] haben verschiedene | |
[3][oppositionelle Kräfte] die Aktion genannt, damit die Machthaber anhand | |
der Schlangen um eine bestimmte Zeit sehen, dass das Land nicht so | |
geschlossen ist, wie sie es in ihren Propagandasendungen gern erzählen. | |
Etwa 100 Menschen stehen am Wahllokal 2567 an. „Ich stimme doch nicht für | |
einen Mörder“, sagt Andrei, 43. Er hatte am Tag zuvor eine SMS der Behörden | |
bekommen, nicht an der Aktion teilzunehmen. Denn diese weise „Anzeichen | |
extremistischer Aktivitäten“ auf, so sieht es der Staat. | |
Andrei und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung | |
getroffen, zu kommen. „Es ist ein Flashmob, wohl der letzte Strohhalm, an | |
dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die | |
Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch | |
alles einfallen wird“, sagt der Moskauer leise. | |
## „Ich verstehe, was unsere Diktatur für uns noch parat hält“ | |
Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: „Ich bin gekommen, um mich nicht | |
allein zu fühlen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich | |
Kritiker*innen des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene | |
legale Möglichkeit.“ Natürlich werde sie sich am Abend ärgern, wenn sie | |
„die gemalten Resultate dieses Zirkus“, wie sie die Wahl bezeichnet, sehen | |
wird. Sie werde wohl auch weinen, sagt sie: „Weil ich verstehe, was unsere | |
Diktatur für uns noch parat hält.“ Doch in der 12-Uhr-Schlange könne sie | |
Mensch sein und sehen, dass sie gar nicht so wenige seien. | |
Die fünf Polizisten, die die Wartenden in kleinen Gruppen ins Wahllokal | |
lassen, wirken nervös, fast alle telefonieren. Die Aktion ist auch eine Art | |
soziologisches Experiment, der Kreml wird – trotz aller Beschönigung – die | |
Lage genau verfolgen, gerade auch die Aktionen der Unzufriedenen. | |
Die ersten Festnahmen gab es bereits um kurz nach Sonntagmittag, an den | |
zwei Tagen zuvor war es ebenfalls zu Zwischenfällen gekommen, weil einige | |
Frauen – die Zentralkommission bezeichnete sie als „Beschränkte“ und | |
„Verräterinnen“ – Farbe in die Wahlurnen gegossen oder Wahlkabinen | |
angezündet hatten. Ihnen drohen nun bis zu fünf Jahre Haft. | |
Auch vor den russischen Botschaften in mehreren europäischen Hauptstädten | |
bildeten sich lange Schlangen. Die Witwe des in Haft verstorbenen | |
Oppositionellen Alexei Nawalny, Julia Nawalnaja, reihte sich zur | |
Stimmabgabe in Berlin ein. Warum dort, dazu äußerte sich ihr Team nicht. | |
Außerdem demonstrierten dort rund 800 Menschen gegen den russischen | |
Präsidenten. | |
17 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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