# taz.de -- Indigene auf der Krim: Halbinsel der Unseligen | |
> Bald jährt sich die Annexion der Krim zum zehnten Mal. Für die Minderheit | |
> der Krimtataren ist es nicht die erste Unterdrückung von russischer | |
> Seite. | |
Bild: Ein Denkmal in der Stadt Siren auf der Halbinsel Krim erinnert an die Dep… | |
LWIW taz | Am Vormittag sind in der Yana-Zhyzhky-Straße im westukrainischen | |
Lwiw kaum Menschen unterwegs. Die wenigen Geschäfte in der Altstadtgasse | |
haben gerade erst geöffnet. Nur vor einem Lokal wirbt eine Aufstelltafel | |
für krimtatarische Speisen: Jantiki, gebackene Teigtaschen, und Lagman, ein | |
würziger Eintopf. Die kahlen Zweige einer Kletterpflanze an der hellgrün | |
gestrichenen Fassade sind mit blau-gelben Stoffbändchen dekoriert, die vom | |
kalten Februarwind hin und her geweht werden. Aus dem Inneren ist Musik zu | |
hören. | |
Krimsky Dworik, auf Deutsch in etwa Krim-Hof, ist das Lokal von Lerane | |
Khaibulaiva. Sie ist Krimtatarin und will erzählen, wie sie nach Lwiw | |
gekommen ist und im September vergangenen Jahres das Café eröffnet hat. Und | |
warum die Krim trotzdem ihre Heimat bleibt und sie wieder zurückwill. | |
„Inshallah“, wie sie sagt. So Gott will. | |
Einstweilen muss die Dekoration im Café für Heimatgefühl sorgen: Fotos und | |
Aquarelle mit Landschaften, Bilder von ortstypischen Pflanzen und eine | |
Landkarte der Halbinsel hängen an den geweißten Wänden, eine Auswahl | |
traditioneller Kopfbedeckungen liegt auf dem Bord. Aus dem Boxen ertönt | |
krimtatarische Musik. Der Sender sei aus Simferopol, wo ihre Eltern und | |
ihre Schwestern leben. „Nur Musik, keine Nachrichten.“ | |
Sie muss Kompromisse machen, erzählt die 43-Jährige beim Kaffeekochen: „Der | |
gemahlene Kaffee kommt mit kaltem Wasser in den Jezva.“ Das ist eine kleine | |
Blechkanne, groß genug für etwa einen doppelten Espresso. „Auf | |
krimtatarische Art würde ich das jetzt über offenem Feuer kochen, aber das | |
geht hier drinnen nicht.“ Brandschutzvorschriften. Stattdessen stellt sie | |
das Gefäß in heißen Sand. Nach wenigen Minuten kocht es auf und Kaffeeduft | |
verbreitet sich. Den Inhalt gibt sie in fein getöpferte Tässchen, die ihr | |
Onkel einst der Familie schenkte. „Als ich die Krim verlassen habe, habe | |
ich meine Mutter gefragt, ob ich das Service mitnehmen darf.“ | |
Krimtataren sind die indigene Bevölkerung der Krim. Über Jahrhunderte hatte | |
sie dort einen eigenen Staat: das Krimkhanat, das eng mit dem Osmanischen | |
Reich verbunden war. Nach mehreren Kriegen zwischen Russland und den | |
Osmanen kam die Halbinsel ab 1774 unter russische Herrschaft und wurde | |
kolonisiert. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die muslimischen | |
Krimtataren die größte Bevölkerungsgruppe. | |
Die Krimtataren waren 1944 auf Stalins Befehl vom NKWD, der damaligen | |
sowjetischen Geheimpolizei, nach Sibirien und in zentralasiatische Länder | |
deportiert worden. Innerhalb von drei Tagen im Mai verlor ein Volk seine | |
Heimat. Man warf ihnen kollektiv eine Kollaboration mit den deutschen | |
Besatzern vor. Rund 200.000 Menschen wurden in Viehwagons verfrachtet. | |
Viele starben schon auf der Fahrt. Weitere überlebten die Arbeitslager und | |
den Hunger in der Steppe nicht. Erst Ende der 1980er Jahre erlaubte die | |
Sowjetunion die Rückkehr. 2015 erkannte das ukrainische Parlament die | |
Deportation als Völkermord an. | |
Erneut unter die Herrschaft Moskaus zu fallen, war für viele Krimtataren | |
deshalb eine Horrorvorstellung. [1][Als Russland 2014 die Halbinsel | |
annektierte], demonstrierten sie in der Gebietshauptstadt Simferopol | |
dagegen. Doch das hielt den Kreml genauso wenig auf wie der laue | |
internationale Protest. Die Aktion war offenbar lange vorbereitet. Später | |
verteilte Putin Orden, auf denen als Beginn der Krimbesetzung der 20. | |
Februar graviert ist. Da war in Kyjiw sogar noch der moskaufreundliche | |
Präsident Viktor Janukowitsch im Amt. | |
Und die Befürchtungen der Krimtataren stellten sich als berechtigt heraus. | |
Es gab Verhaftungen, Menschen verschwanden, die russischen Behörden | |
schikanierten Krimtataren. Mal aus politischen Gründen, mal um sich deren | |
Besitz anzueignen. Die Selbstverwaltung der Volksgruppe, der Medschlis, | |
wurde verboten. Zehntausende Krimtataren verließen seitdem die Halbinsel. | |
An ihren achten Geburtstag kann sich Lerane Khaibulaiva noch gut erinnern. | |
Es war der 21. Juni 1988. Sie saß das erste Mal in einem Flugzeug. Und die | |
Reise führte aus Usbekistan, wo sie geboren wurde, in die Heimat ihrer | |
Großeltern. Auf die Krim. Für ihre krimtatarische Familie begann damit ein | |
neues Leben in einer alten Heimat. Doch ein Happy End wurde es für Lerane | |
Khaibulaiva nicht. Sie musste seither sogar zweimal fliehen. | |
Die Deportation 1944 hat auch die Familiengeschichte der Khaibulaivas | |
geprägt. Im Morgengrauen hatte Stalins Geheimpolizei an ihre Türe geklopft. | |
15 Minuten Zeit hatten alle zum Packen. Die Vorfahren ihrer Mutter seien | |
mit nichts als einer Schaufel in der usbekischen Steppe ausgesetzt worden. | |
Damit sollten sie sich ein Loch graben als Unterkunft. Die Vorfahren ihres | |
Vaters wurden nach Sibirien gebracht und mussten dort Bäume fällen. Der | |
Besitz der Vertriebenen wurde verstaatlicht. Auf der Halbinsel wurden | |
Menschen aus Russland und vom ukrainischen Festland angesiedelt. | |
Was den Moskauer Diktator wirklich zur Deportation der Krimtataren | |
veranlasste, bleibt unklar. Vielleicht folgte er einfach den Gewohnheiten | |
des Völkerverschiebers. Deportationen nationaler Minderheiten waren unter | |
Stalin keine Seltenheit. Und wie schon Zarin Katharina II. und später | |
Wladimir Putin sagte, sollte die Krim für alle Zeiten zu Russland gehören. | |
Da störten andere Menschen nur. | |
Um den Hals trägt Khaibulaiva einen Anhänger in den Umrissen der Halbinsel. | |
Er ist aus Glas und gefüllt mit Lavendel. „Der wächst bei uns auf der Krim | |
überall und füllt die Luft mit seinem Duft.“ In den ersten Jahren nach der | |
Rückkehr 1988 habe die Familie in einem Dorf im Norden der Krim gelebt. In | |
der Nähe der Stadt Dschankoy. | |
Ihr Vater arbeitete in einer Kolchose. „Wir hatten nicht viel, aber ich | |
hatte eine glückliche Kindheit.“ In eine Stadt dürften krimtatarische | |
Familien wie ihre nicht ziehen, solange es die Sowjetunion gab. Eigentlich | |
seien ihre Vorfahren aus dem Süden der Halbinsel gewesen, dort, wo sich das | |
Krimgebirge befindet. Erst die Unabhängigkeit der Ukraine beendete die | |
Diskriminierung. | |
Nach dem Schulabschuss 1997 hat Khaibulaiva Journalismus studiert an der | |
Universität von Simferopol. „Es war ein Fernstudium, so konnte ich weiter | |
bei den Eltern wohnen und nebenher für eine regionale Zeitung arbeiten.“ | |
Doch auf lange Sicht seien die Jobaussichten in der größeren Stadt besser | |
gewesen und so habe die Familie in Simferopol ein Haus gebaut. Sie baute | |
sich eine Existenz auf, arbeitete freiberuflich als Journalistin und in der | |
Werbebranche. | |
Schon Jahre vor der Revolution auf dem Maidan 2014 habe sich die Lage | |
allerdings verschlechtert. Als Journalistin sei sie mit ihrer | |
Berichterstattung über die krimtatarische Gemeinschaft immer weniger | |
gefragt gewesen. „Die Redaktionsleiter waren oft prorussisch. Die wollten | |
das nicht“, erinnert sie sich. | |
Auf einer Reise lernte sie 2005 ihren späteren Ehemann kennen. „Er kam aus | |
Lwiw.“ 2009 heirateten sie. „Es war praktisch, dass mein Vater das Haus für | |
zwei Familien mit eigenen Eingängen gebaut hatte.“ 2011 wurde ihr Sohn | |
Timur geboren. „Leider ist mein Mann kurz vor der Geburt plötzlich | |
gestorben.“ | |
In den Tagen Ende Februar 2014 überschlugen sich dann die Ereignisse: „Es | |
flogen viele Helikopter über die Stadt. Das gab es sonst nicht. Auf allen | |
Kanälen lief russische Propaganda. Es wurde gehetzt, vor allem gegen | |
Krimtataren und ukrainische Menschen“, erinnert sie sich. Das Stadtzentrum | |
sei leer gewesen. „Die Leute hatten Angst.“ Russische Truppen besetzten in | |
kürzester Zeit alle wichtigen Punkte auf der Halbinsel. Unter ihren | |
Gewehrläufen stimmten zusammengetriebene Abgeordnete für den Anschluss an | |
Russland. Ein Referendum über den Beitritt zur Russländischen Föderation | |
wurde für den 16. März angesetzt. | |
„Einer meiner Nachbarn protestierte öffentlich vor dem Regierungsgebäude in | |
Simferopol dagegen und trug eine ukrainische Flagge.“ Friedlich und allein. | |
Dann verschwand er. „Zeugen haben beobachtet, wie er von russischen | |
Soldaten mitgenommen wurde.“ Khaibulaiva engagierte sich in der Suche nach | |
dem vermissten Reşat Amet, so der Name des Nachbarn. „Ich habe viele Posts | |
in sozialen Netzwerken gemacht, war in Kontakt mit Leuten in Kyjiw und | |
international.“ | |
Ein Foto aus jener Zeit zeigt sie mit einem Schild, auf dem der Name des | |
gesuchten Mannes steht. Sie habe Informationen zusammengetragen, solange es | |
Hoffnung gab. Doch rund zwei Wochen später wurde die übel zugerichtete | |
Leiche in einem Wald in 40 Kilometer Entfernung gefunden, der Kopf mit | |
Klebeband umwickelt, die Beine gefesselt. | |
Mit der Zeit wurde es auch für sie selbst immer gefährlicher. „Durch meine | |
Beteiligung an der Suche hatte ich mich exponiert.“ Ein Bekannter, der vom | |
ukrainischen Geheimdienst SBU zum russischen Geheimdienst FSB übergelaufen | |
war, habe sie schließlich gewarnt. Der FSB sei auf sie aufmerksam geworden. | |
„Er hat mir geraten, die Krim zu verlassen. Also bin ich gegangen.“ | |
Geschichten wie die von Khaibulaiva sind keine Ausnahme. Die Autorin, | |
Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Yevheniia Henova hat sie | |
gesammelt. In Kyjiw stellt sie Ende Februar ihr Buch vor. Die Sammlung | |
unter dem Titel „Crimean Tatar Families“ umfasst 14 persönliche | |
Erzählungen, die Erfahrungen von Vertreibung, Konflikt und Not | |
dokumentieren. „Sie sind verbunden durch das gemeinsame Streben nach einer | |
befreiten Krim und der Wiederherstellung ihrer angestammten Heimat“, sagt | |
sie. Leider könne sie in dem Buch nicht alles erzählen, weil es die noch | |
auf der Krim lebenden Verwandten in Gefahr bringen könnte. | |
Eine der Protagonistinnen ist Gulnara Bekirova. Sie ist selbst Mitglied des | |
krimtatarischen Medschlis. Ihr Ehemann war 257 Tage in einem russischen | |
Gefängnis inhaftiert. „Seitdem ist er chronisch krank.“ Ihre Großeltern | |
hätten ihr viele Geschichten aus der Zeit der Deportation erzählt. „Und | |
seit 2014 erleben wir das selbst.“ Ihr Elternhaus sei dreimal durchsucht | |
worden. Auch sie selbst sei ins Visier der Besatzer gekommen, weil sie an | |
der Demonstration gegen die Okkupation am 26. Februar 2014 teilgenommen | |
habe. Schließlich habe auch sie die Halbinsel verlassen müssen. | |
## Geschichte einer dreifachen Flucht | |
Für Khaibulaiva war die Flucht von der Krim allerdings nicht der Endpunkt: | |
Sie erzählt ihre Geschichte ruhig, auch wenn es ihr schwerfalle, über den | |
Verlust der Heimat zu sprechen. Die Tage Ende Februar und Anfang März seien | |
immer belastend. „Aber mittlerweile habe ich ein bisschen Übung darin.“ Und | |
es sei ihr wichtig, dass die Krim nicht in Vergessenheit gerät. | |
Ihr Weg führte sie in die Region Kyjiw. In der Kyiwer Vorstadt Irpin lebten | |
Bekannte, die bei der Wohnungssuche halfen, ihren Sohn holte sie später zu | |
sich. An JournalistInnen mangelte es in der Hauptstadtregion allerdings | |
nicht. Also sattelte sie beruflich um. An einem U-Bahnhof im Kyjiwer | |
Stadtteil Obolon eröffnete sie eine Imbissbude mit krimtatarischen | |
Gerichten. „Ich wollte mein eigener Chef sein, unabhängig.“ Gekocht habe | |
sie schon immer gern und so habe sie ihre Geschichte durch Essen erzählen | |
können. „Geschäftlich eine meiner schlechtesten Entscheidungen“, sagt sie | |
und schmunzelt. An der U-Bahn hätten einfach zu wenige Menschen Zeit für | |
richtiges Essen gehabt. Nach sieben Monaten musste sie den Imbiss | |
dichtmachen. | |
Doch die Sache mit dem Essen ließ sie nicht los. Nach einem Ausflug in die | |
PR-Branche suchte sie einen Investor. Im Februar 2018 erfüllte sie sich | |
einen kleinen Traum und eröffnete ein eigenes Café mit krimtatarischer | |
Küche in Irpin. Die Vorstadt mit ihren rund 60.000 Einwohnern in der | |
waldreichen Umgebung war in den Jahren nach dem Maidan aufgeblüht und zog | |
viele Menschen an, die näher an der Natur leben wollten und sich auch gutes | |
Essen leisten konnten. | |
Das Café trug den gleichen Namen wie ihr jetziges Lokal. Auf Fotos sieht | |
man sie strahlend vor dem Eingang stehen. Geschäftlich hat der Laden | |
allerdings den Lockdown im ersten Jahr der Coronapandemie nicht | |
überstanden. Sie fand einen neuen Job im Marketing der lokalen Universität. | |
In Irpin und Kyjiw habe sie neue Freunde kennengelernt, von denen einige | |
nun in der ukrainischen Armee sind. Auf einem Regal neben dem Lokaleingang | |
stehen gerahmte Danksagungen von verschiedenen Militäreinheiten. Wie viele | |
andere UkrainerInnen unterstützt sie ukrainische SoldatInnen mit Spenden. | |
In jener Zeit lernte Khaibulaiva auch ihren zweiten Ehemann kennen. „Er | |
heißt Olexandr und kommt aus der Zentralukraine.“ Er hatte vier Jahre als | |
Soldat in der Antiterroroperation (ATO) gedient, wie in der Ukraine der | |
Krieg gegen die von Russland unterstützten sogenannten Volksrepubliken im | |
Donbas genannt wird. In Irpin sei er 2019 in der Rehabilitation nach einer | |
Verwundung gewesen. „So haben wir uns kennengelernt.“ Nach seiner | |
Entlassung aus dem Dienst fing er ein Medizinstudium an. Geheiratet haben | |
die beiden dann am 21. Januar 2022. | |
Keine fünf Wochen später begann Russland vor zwei Jahren seinen Angriff auf | |
die ganze Ukraine. Khaibulaiva war in ihrer Wohnung in Irpin, erinnert sie | |
sich. „Es war 5 Uhr früh. Das Telefon meines Mannes hörte nicht auf zu | |
vibrieren, weil so viele Nachrichten ankamen.“ Dann habe sie vom Fenster | |
aus auch schon das erste Feuer in der Stadt gesehen. Irpin ist nur wenige | |
Kilometer entfernt von Hostomel, wo im Morgengrauen russische Truppen mit | |
Hubschraubern gelandet waren und heftige Kämpfe begannen. | |
[2][Die Lage war in den ersten Tagen unübersichtlich]. Die Brücke nach | |
Kyjiw war bereits zerstört. Sie habe sich um die betagten Nachbarn | |
gekümmert. „Komischerweise hatte ich keine Angst“, erinnert sie sich. „I… | |
habe irgendwie funktioniert.“ Am 1. März sei dann ein russisches Flugzeug | |
niedrig über die Stadt geflogen und habe eine Bombe auf ein Haus in der | |
Nähe geworfen. „Da hat mein Mann gesagt, dass wir fliehen müssen.“ In jen… | |
Wochen im März wurde Irpin zum Schlachtfeld. Für die Russen war die Stadt | |
ein Hindernis auf dem Weg nach Kyjiw. Rund 70 Prozent der Gebäude wurden | |
beschädigt. 300 Zivilisten getötet. | |
Mit einem Autokonvoi machte sich Khaibulaiva mit Mann und Kind auf den Weg | |
Richtung Süden, auf Nebenstraßen weg von den russischen Truppen. Den Konvoi | |
habe die Kirche organisiert. „Ich weiß nicht mehr, wie die Dörfer hießen, | |
durch die wir gefahren sind.“ Schilder waren alle abgeschraubt oder | |
übermalt, um den Angreifern die Orientierung zu erschweren. Sie hatten | |
Glück: Die russische Armee hatte in jenen Tagen zahlreiche Autos von | |
fliehenden Zivilisten beschossen. Ihres nicht. Sie erreichten Kaniw, die | |
Heimatstadt ihres Mannes südlich vom Kyjiw am Dnipro gelegen. | |
„Von dort bin ich eine Woche später weiter nach Lwiw gefahren und mein Mann | |
hat sich freiwillig zum Dienst bei der Armee gemeldet.“ Er habe in der | |
Brigade gekämpft, die im September 2022 die Stadt Isjum in der Region | |
Charkiw befreite. „Dort wurde er wieder verwundet. Ein Granatsplitter hat | |
ihn am Kopf getroffen.“ | |
Nach einem Jahr in der Armee habe sein Professor von der Universität | |
verlangt, dass er sein Studium fortsetze. „Die Ukraine braucht Ärzte, hat | |
er gesagt.“ Nun wohne er wieder in Irpin und versuche den versäumten Stoff | |
aufzuholen. Doch die Erlebnisse haben auch Spuren hinterlassen. „Er hat ein | |
Trauma und geht zur Therapie“, sagt sie. | |
Das Paar sieht sich einmal im Monat. Wieder zurück nach Kyjiw | |
beziehungsweise Irpin wolle sie nicht, solange der Krieg dauert. Lwiw werde | |
viel seltener angegriffen. „Ich muss an meinen Sohn denken.“ Viel weiter | |
als in Lwiw kann man sich in der Ukraine kaum von der Krim entfernen. Nur | |
70 Kilometer weiter befindet sich die Grenze nach Polen. | |
Nun wagt sie seit September den nächsten Versuch in der Gastronomie. Das | |
Café mache ihr Freude. „Das ist mehr als ein Geschäft. Da ist meine Seele.�… | |
Für die Renovierung der Räume habe sie eine staatliche Förderung bekommen. | |
„In der Gastronomie heißt es, die ersten drei Monate seien die schwersten. | |
Und uns gibt es jetzt schon fünf Monate.“ Von Freitag bis Sonntag sei das | |
kleine Lokal mit seinen sechs Tischen abends ausgebucht. „An den anderen | |
Tagen ist es schwieriger.“ Wenn es Luftalarm gebe, kommen weniger Gäste, | |
aber sie müsse trotzdem alles bereithalten. | |
Sie fühle sich wohl in Lwiw. Die Menschen seien freundlich. Die | |
krimtatarische Gemeinde in Lwiw sei nicht groß. „Vielleicht um die 1.000 | |
Menschen“, schätzt Khaibulaiva. „Da kennt man praktisch jeden.“ Während… | |
erzählt, kommt ein englischsprachiger Gast herein. Sie nimmt die Bestellung | |
auf und bringt Pilaf, ein herzhaftes Reisgericht mit Lammfleisch. Wie sich | |
herausstellt, ist der Mann aus Afghanistan. Im Internet wirbt Khaibulaiva | |
damit, dass ihr Essen halal ist. | |
Sie trägt einen gelben Strickpullover und ein hellblaues Kopftuch: die | |
Farben der krimtatarischen Gemeinschaft. „Mein Sohn geht inzwischen hier | |
zur Schule. Und hat neue Freunde gefunden.“ Zu Hause fühle sie sich | |
allerdings nicht. „Es gibt nur einen Ort, der mein Zuhause ist.“ Und das | |
sei die Krim. „Ich will in dem Haus schlafen, das mein Vater für uns gebaut | |
hat.“ Doch das sei erst möglich, wenn Russland dort nicht mehr herrscht. | |
Wer sich auf der Krim nicht unterordne, lebe gefährlich. | |
Die Menschenrechtsgruppe KPG versucht, einen Überblick über die politische | |
Verfolgung durch die Besatzer zu behalten. Die Nichtregierungsorganisation | |
gibt es seit 2014. Sie will Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen | |
auf der Halbinsel schaffen. Ihre Datenbank enthält Informationen über mehr | |
als 1.400 Opfer politisch und religiös motivierter Verfolgungen auf der | |
Krim. Zum Beispiel sammle sie Informationen über Gerichtsverhandlungen. | |
Ein jüngstes Beispiel ist die Verhaftung der Menschenrechtsaktivistin | |
Lutfiye Zudiyeva am 22. Februar. Mitarbeiter der russischen Behörde gegen | |
Extremismus durchsuchten ihr Haus und nahmen sie mit. Ihr wird Missbrauch | |
der freien Meinungsäußerung vorgeworfen, unter anderem weil sie auf | |
Facebook einen Artikel von Radio Liberty geteilt hatte, ohne darauf | |
hinzuweisen, dass dieses Medium in Russland als „ausländischer Agent“ gilt. | |
[3][Auch die ukrainischen Behörden befassen sich damit]: „Wir wissen, dass | |
es im Januar 2024 mindestens 100 Fälle von Verfolgung von Krimtataren aus | |
religiösen Gründen gibt“, sagt Tamina Tasheva. Sie ist Beauftragte des | |
ukrainischen Präsidenten für die Krim. Derzeit seien auf der Krim 208 | |
politische Gefangene bekannt, davon 125 KrimtatarInnen. Anfang März hat die | |
Ukraine Material an die Staatsanwaltschaft des Internationalen | |
Strafgerichtshofs übergeben. Es enthalte dokumentiere derzeit mehr als 90 | |
Tatbestände der Verfolgung von Vertretern der Orthodoxen Kirche der Ukraine | |
auf der Krim, Zeugen Jehovas, Muslimen, Protestanten und anderen religiösen | |
Minderheiten. | |
Auch der Vater von Lerane Khaibulaiva wünsche sich die Rückkehr der | |
Tochter. Ihre Eltern müssten im Alltag sehr vorsichtig sein. Mehrmals die | |
Woche telefoniere sie mit ihnen. „Dann sprechen wir nur krimtatarisch und | |
meiden politische Themen.“ In der Öffentlichkeit sprächen die Eltern nur | |
Russisch, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken. „Im Bus sollte man keine | |
ukrainischen Nachrichten auf dem Smartphone lesen.“ Die Krim verlassen | |
wollen Eltern und Schwestern aber trotzdem nicht. „Mein Vater sagt, wir | |
warten hier auf die Ukraine.“ | |
13 Mar 2024 | |
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