| # taz.de -- Indigene auf der Krim: Halbinsel der Unseligen | |
| > Bald jährt sich die Annexion der Krim zum zehnten Mal. Für die Minderheit | |
| > der Krimtataren ist es nicht die erste Unterdrückung von russischer | |
| > Seite. | |
| Bild: Ein Denkmal in der Stadt Siren auf der Halbinsel Krim erinnert an die Dep… | |
| LWIW taz | Am Vormittag sind in der Yana-Zhyzhky-Straße im westukrainischen | |
| Lwiw kaum Menschen unterwegs. Die wenigen Geschäfte in der Altstadtgasse | |
| haben gerade erst geöffnet. Nur vor einem Lokal wirbt eine Aufstelltafel | |
| für krimtatarische Speisen: Jantiki, gebackene Teigtaschen, und Lagman, ein | |
| würziger Eintopf. Die kahlen Zweige einer Kletterpflanze an der hellgrün | |
| gestrichenen Fassade sind mit blau-gelben Stoffbändchen dekoriert, die vom | |
| kalten Februarwind hin und her geweht werden. Aus dem Inneren ist Musik zu | |
| hören. | |
| Krimsky Dworik, auf Deutsch in etwa Krim-Hof, ist das Lokal von Lerane | |
| Khaibulaiva. Sie ist Krimtatarin und will erzählen, wie sie nach Lwiw | |
| gekommen ist und im September vergangenen Jahres das Café eröffnet hat. Und | |
| warum die Krim trotzdem ihre Heimat bleibt und sie wieder zurückwill. | |
| „Inshallah“, wie sie sagt. So Gott will. | |
| Einstweilen muss die Dekoration im Café für Heimatgefühl sorgen: Fotos und | |
| Aquarelle mit Landschaften, Bilder von ortstypischen Pflanzen und eine | |
| Landkarte der Halbinsel hängen an den geweißten Wänden, eine Auswahl | |
| traditioneller Kopfbedeckungen liegt auf dem Bord. Aus dem Boxen ertönt | |
| krimtatarische Musik. Der Sender sei aus Simferopol, wo ihre Eltern und | |
| ihre Schwestern leben. „Nur Musik, keine Nachrichten.“ | |
| Sie muss Kompromisse machen, erzählt die 43-Jährige beim Kaffeekochen: „Der | |
| gemahlene Kaffee kommt mit kaltem Wasser in den Jezva.“ Das ist eine kleine | |
| Blechkanne, groß genug für etwa einen doppelten Espresso. „Auf | |
| krimtatarische Art würde ich das jetzt über offenem Feuer kochen, aber das | |
| geht hier drinnen nicht.“ Brandschutzvorschriften. Stattdessen stellt sie | |
| das Gefäß in heißen Sand. Nach wenigen Minuten kocht es auf und Kaffeeduft | |
| verbreitet sich. Den Inhalt gibt sie in fein getöpferte Tässchen, die ihr | |
| Onkel einst der Familie schenkte. „Als ich die Krim verlassen habe, habe | |
| ich meine Mutter gefragt, ob ich das Service mitnehmen darf.“ | |
| Krimtataren sind die indigene Bevölkerung der Krim. Über Jahrhunderte hatte | |
| sie dort einen eigenen Staat: das Krimkhanat, das eng mit dem Osmanischen | |
| Reich verbunden war. Nach mehreren Kriegen zwischen Russland und den | |
| Osmanen kam die Halbinsel ab 1774 unter russische Herrschaft und wurde | |
| kolonisiert. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die muslimischen | |
| Krimtataren die größte Bevölkerungsgruppe. | |
| Die Krimtataren waren 1944 auf Stalins Befehl vom NKWD, der damaligen | |
| sowjetischen Geheimpolizei, nach Sibirien und in zentralasiatische Länder | |
| deportiert worden. Innerhalb von drei Tagen im Mai verlor ein Volk seine | |
| Heimat. Man warf ihnen kollektiv eine Kollaboration mit den deutschen | |
| Besatzern vor. Rund 200.000 Menschen wurden in Viehwagons verfrachtet. | |
| Viele starben schon auf der Fahrt. Weitere überlebten die Arbeitslager und | |
| den Hunger in der Steppe nicht. Erst Ende der 1980er Jahre erlaubte die | |
| Sowjetunion die Rückkehr. 2015 erkannte das ukrainische Parlament die | |
| Deportation als Völkermord an. | |
| Erneut unter die Herrschaft Moskaus zu fallen, war für viele Krimtataren | |
| deshalb eine Horrorvorstellung. [1][Als Russland 2014 die Halbinsel | |
| annektierte], demonstrierten sie in der Gebietshauptstadt Simferopol | |
| dagegen. Doch das hielt den Kreml genauso wenig auf wie der laue | |
| internationale Protest. Die Aktion war offenbar lange vorbereitet. Später | |
| verteilte Putin Orden, auf denen als Beginn der Krimbesetzung der 20. | |
| Februar graviert ist. Da war in Kyjiw sogar noch der moskaufreundliche | |
| Präsident Viktor Janukowitsch im Amt. | |
| Und die Befürchtungen der Krimtataren stellten sich als berechtigt heraus. | |
| Es gab Verhaftungen, Menschen verschwanden, die russischen Behörden | |
| schikanierten Krimtataren. Mal aus politischen Gründen, mal um sich deren | |
| Besitz anzueignen. Die Selbstverwaltung der Volksgruppe, der Medschlis, | |
| wurde verboten. Zehntausende Krimtataren verließen seitdem die Halbinsel. | |
| An ihren achten Geburtstag kann sich Lerane Khaibulaiva noch gut erinnern. | |
| Es war der 21. Juni 1988. Sie saß das erste Mal in einem Flugzeug. Und die | |
| Reise führte aus Usbekistan, wo sie geboren wurde, in die Heimat ihrer | |
| Großeltern. Auf die Krim. Für ihre krimtatarische Familie begann damit ein | |
| neues Leben in einer alten Heimat. Doch ein Happy End wurde es für Lerane | |
| Khaibulaiva nicht. Sie musste seither sogar zweimal fliehen. | |
| Die Deportation 1944 hat auch die Familiengeschichte der Khaibulaivas | |
| geprägt. Im Morgengrauen hatte Stalins Geheimpolizei an ihre Türe geklopft. | |
| 15 Minuten Zeit hatten alle zum Packen. Die Vorfahren ihrer Mutter seien | |
| mit nichts als einer Schaufel in der usbekischen Steppe ausgesetzt worden. | |
| Damit sollten sie sich ein Loch graben als Unterkunft. Die Vorfahren ihres | |
| Vaters wurden nach Sibirien gebracht und mussten dort Bäume fällen. Der | |
| Besitz der Vertriebenen wurde verstaatlicht. Auf der Halbinsel wurden | |
| Menschen aus Russland und vom ukrainischen Festland angesiedelt. | |
| Was den Moskauer Diktator wirklich zur Deportation der Krimtataren | |
| veranlasste, bleibt unklar. Vielleicht folgte er einfach den Gewohnheiten | |
| des Völkerverschiebers. Deportationen nationaler Minderheiten waren unter | |
| Stalin keine Seltenheit. Und wie schon Zarin Katharina II. und später | |
| Wladimir Putin sagte, sollte die Krim für alle Zeiten zu Russland gehören. | |
| Da störten andere Menschen nur. | |
| Um den Hals trägt Khaibulaiva einen Anhänger in den Umrissen der Halbinsel. | |
| Er ist aus Glas und gefüllt mit Lavendel. „Der wächst bei uns auf der Krim | |
| überall und füllt die Luft mit seinem Duft.“ In den ersten Jahren nach der | |
| Rückkehr 1988 habe die Familie in einem Dorf im Norden der Krim gelebt. In | |
| der Nähe der Stadt Dschankoy. | |
| Ihr Vater arbeitete in einer Kolchose. „Wir hatten nicht viel, aber ich | |
| hatte eine glückliche Kindheit.“ In eine Stadt dürften krimtatarische | |
| Familien wie ihre nicht ziehen, solange es die Sowjetunion gab. Eigentlich | |
| seien ihre Vorfahren aus dem Süden der Halbinsel gewesen, dort, wo sich das | |
| Krimgebirge befindet. Erst die Unabhängigkeit der Ukraine beendete die | |
| Diskriminierung. | |
| Nach dem Schulabschuss 1997 hat Khaibulaiva Journalismus studiert an der | |
| Universität von Simferopol. „Es war ein Fernstudium, so konnte ich weiter | |
| bei den Eltern wohnen und nebenher für eine regionale Zeitung arbeiten.“ | |
| Doch auf lange Sicht seien die Jobaussichten in der größeren Stadt besser | |
| gewesen und so habe die Familie in Simferopol ein Haus gebaut. Sie baute | |
| sich eine Existenz auf, arbeitete freiberuflich als Journalistin und in der | |
| Werbebranche. | |
| Schon Jahre vor der Revolution auf dem Maidan 2014 habe sich die Lage | |
| allerdings verschlechtert. Als Journalistin sei sie mit ihrer | |
| Berichterstattung über die krimtatarische Gemeinschaft immer weniger | |
| gefragt gewesen. „Die Redaktionsleiter waren oft prorussisch. Die wollten | |
| das nicht“, erinnert sie sich. | |
| Auf einer Reise lernte sie 2005 ihren späteren Ehemann kennen. „Er kam aus | |
| Lwiw.“ 2009 heirateten sie. „Es war praktisch, dass mein Vater das Haus für | |
| zwei Familien mit eigenen Eingängen gebaut hatte.“ 2011 wurde ihr Sohn | |
| Timur geboren. „Leider ist mein Mann kurz vor der Geburt plötzlich | |
| gestorben.“ | |
| In den Tagen Ende Februar 2014 überschlugen sich dann die Ereignisse: „Es | |
| flogen viele Helikopter über die Stadt. Das gab es sonst nicht. Auf allen | |
| Kanälen lief russische Propaganda. Es wurde gehetzt, vor allem gegen | |
| Krimtataren und ukrainische Menschen“, erinnert sie sich. Das Stadtzentrum | |
| sei leer gewesen. „Die Leute hatten Angst.“ Russische Truppen besetzten in | |
| kürzester Zeit alle wichtigen Punkte auf der Halbinsel. Unter ihren | |
| Gewehrläufen stimmten zusammengetriebene Abgeordnete für den Anschluss an | |
| Russland. Ein Referendum über den Beitritt zur Russländischen Föderation | |
| wurde für den 16. März angesetzt. | |
| „Einer meiner Nachbarn protestierte öffentlich vor dem Regierungsgebäude in | |
| Simferopol dagegen und trug eine ukrainische Flagge.“ Friedlich und allein. | |
| Dann verschwand er. „Zeugen haben beobachtet, wie er von russischen | |
| Soldaten mitgenommen wurde.“ Khaibulaiva engagierte sich in der Suche nach | |
| dem vermissten Reşat Amet, so der Name des Nachbarn. „Ich habe viele Posts | |
| in sozialen Netzwerken gemacht, war in Kontakt mit Leuten in Kyjiw und | |
| international.“ | |
| Ein Foto aus jener Zeit zeigt sie mit einem Schild, auf dem der Name des | |
| gesuchten Mannes steht. Sie habe Informationen zusammengetragen, solange es | |
| Hoffnung gab. Doch rund zwei Wochen später wurde die übel zugerichtete | |
| Leiche in einem Wald in 40 Kilometer Entfernung gefunden, der Kopf mit | |
| Klebeband umwickelt, die Beine gefesselt. | |
| Mit der Zeit wurde es auch für sie selbst immer gefährlicher. „Durch meine | |
| Beteiligung an der Suche hatte ich mich exponiert.“ Ein Bekannter, der vom | |
| ukrainischen Geheimdienst SBU zum russischen Geheimdienst FSB übergelaufen | |
| war, habe sie schließlich gewarnt. Der FSB sei auf sie aufmerksam geworden. | |
| „Er hat mir geraten, die Krim zu verlassen. Also bin ich gegangen.“ | |
| Geschichten wie die von Khaibulaiva sind keine Ausnahme. Die Autorin, | |
| Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Yevheniia Henova hat sie | |
| gesammelt. In Kyjiw stellt sie Ende Februar ihr Buch vor. Die Sammlung | |
| unter dem Titel „Crimean Tatar Families“ umfasst 14 persönliche | |
| Erzählungen, die Erfahrungen von Vertreibung, Konflikt und Not | |
| dokumentieren. „Sie sind verbunden durch das gemeinsame Streben nach einer | |
| befreiten Krim und der Wiederherstellung ihrer angestammten Heimat“, sagt | |
| sie. Leider könne sie in dem Buch nicht alles erzählen, weil es die noch | |
| auf der Krim lebenden Verwandten in Gefahr bringen könnte. | |
| Eine der Protagonistinnen ist Gulnara Bekirova. Sie ist selbst Mitglied des | |
| krimtatarischen Medschlis. Ihr Ehemann war 257 Tage in einem russischen | |
| Gefängnis inhaftiert. „Seitdem ist er chronisch krank.“ Ihre Großeltern | |
| hätten ihr viele Geschichten aus der Zeit der Deportation erzählt. „Und | |
| seit 2014 erleben wir das selbst.“ Ihr Elternhaus sei dreimal durchsucht | |
| worden. Auch sie selbst sei ins Visier der Besatzer gekommen, weil sie an | |
| der Demonstration gegen die Okkupation am 26. Februar 2014 teilgenommen | |
| habe. Schließlich habe auch sie die Halbinsel verlassen müssen. | |
| ## Geschichte einer dreifachen Flucht | |
| Für Khaibulaiva war die Flucht von der Krim allerdings nicht der Endpunkt: | |
| Sie erzählt ihre Geschichte ruhig, auch wenn es ihr schwerfalle, über den | |
| Verlust der Heimat zu sprechen. Die Tage Ende Februar und Anfang März seien | |
| immer belastend. „Aber mittlerweile habe ich ein bisschen Übung darin.“ Und | |
| es sei ihr wichtig, dass die Krim nicht in Vergessenheit gerät. | |
| Ihr Weg führte sie in die Region Kyjiw. In der Kyiwer Vorstadt Irpin lebten | |
| Bekannte, die bei der Wohnungssuche halfen, ihren Sohn holte sie später zu | |
| sich. An JournalistInnen mangelte es in der Hauptstadtregion allerdings | |
| nicht. Also sattelte sie beruflich um. An einem U-Bahnhof im Kyjiwer | |
| Stadtteil Obolon eröffnete sie eine Imbissbude mit krimtatarischen | |
| Gerichten. „Ich wollte mein eigener Chef sein, unabhängig.“ Gekocht habe | |
| sie schon immer gern und so habe sie ihre Geschichte durch Essen erzählen | |
| können. „Geschäftlich eine meiner schlechtesten Entscheidungen“, sagt sie | |
| und schmunzelt. An der U-Bahn hätten einfach zu wenige Menschen Zeit für | |
| richtiges Essen gehabt. Nach sieben Monaten musste sie den Imbiss | |
| dichtmachen. | |
| Doch die Sache mit dem Essen ließ sie nicht los. Nach einem Ausflug in die | |
| PR-Branche suchte sie einen Investor. Im Februar 2018 erfüllte sie sich | |
| einen kleinen Traum und eröffnete ein eigenes Café mit krimtatarischer | |
| Küche in Irpin. Die Vorstadt mit ihren rund 60.000 Einwohnern in der | |
| waldreichen Umgebung war in den Jahren nach dem Maidan aufgeblüht und zog | |
| viele Menschen an, die näher an der Natur leben wollten und sich auch gutes | |
| Essen leisten konnten. | |
| Das Café trug den gleichen Namen wie ihr jetziges Lokal. Auf Fotos sieht | |
| man sie strahlend vor dem Eingang stehen. Geschäftlich hat der Laden | |
| allerdings den Lockdown im ersten Jahr der Coronapandemie nicht | |
| überstanden. Sie fand einen neuen Job im Marketing der lokalen Universität. | |
| In Irpin und Kyjiw habe sie neue Freunde kennengelernt, von denen einige | |
| nun in der ukrainischen Armee sind. Auf einem Regal neben dem Lokaleingang | |
| stehen gerahmte Danksagungen von verschiedenen Militäreinheiten. Wie viele | |
| andere UkrainerInnen unterstützt sie ukrainische SoldatInnen mit Spenden. | |
| In jener Zeit lernte Khaibulaiva auch ihren zweiten Ehemann kennen. „Er | |
| heißt Olexandr und kommt aus der Zentralukraine.“ Er hatte vier Jahre als | |
| Soldat in der Antiterroroperation (ATO) gedient, wie in der Ukraine der | |
| Krieg gegen die von Russland unterstützten sogenannten Volksrepubliken im | |
| Donbas genannt wird. In Irpin sei er 2019 in der Rehabilitation nach einer | |
| Verwundung gewesen. „So haben wir uns kennengelernt.“ Nach seiner | |
| Entlassung aus dem Dienst fing er ein Medizinstudium an. Geheiratet haben | |
| die beiden dann am 21. Januar 2022. | |
| Keine fünf Wochen später begann Russland vor zwei Jahren seinen Angriff auf | |
| die ganze Ukraine. Khaibulaiva war in ihrer Wohnung in Irpin, erinnert sie | |
| sich. „Es war 5 Uhr früh. Das Telefon meines Mannes hörte nicht auf zu | |
| vibrieren, weil so viele Nachrichten ankamen.“ Dann habe sie vom Fenster | |
| aus auch schon das erste Feuer in der Stadt gesehen. Irpin ist nur wenige | |
| Kilometer entfernt von Hostomel, wo im Morgengrauen russische Truppen mit | |
| Hubschraubern gelandet waren und heftige Kämpfe begannen. | |
| [2][Die Lage war in den ersten Tagen unübersichtlich]. Die Brücke nach | |
| Kyjiw war bereits zerstört. Sie habe sich um die betagten Nachbarn | |
| gekümmert. „Komischerweise hatte ich keine Angst“, erinnert sie sich. „I… | |
| habe irgendwie funktioniert.“ Am 1. März sei dann ein russisches Flugzeug | |
| niedrig über die Stadt geflogen und habe eine Bombe auf ein Haus in der | |
| Nähe geworfen. „Da hat mein Mann gesagt, dass wir fliehen müssen.“ In jen… | |
| Wochen im März wurde Irpin zum Schlachtfeld. Für die Russen war die Stadt | |
| ein Hindernis auf dem Weg nach Kyjiw. Rund 70 Prozent der Gebäude wurden | |
| beschädigt. 300 Zivilisten getötet. | |
| Mit einem Autokonvoi machte sich Khaibulaiva mit Mann und Kind auf den Weg | |
| Richtung Süden, auf Nebenstraßen weg von den russischen Truppen. Den Konvoi | |
| habe die Kirche organisiert. „Ich weiß nicht mehr, wie die Dörfer hießen, | |
| durch die wir gefahren sind.“ Schilder waren alle abgeschraubt oder | |
| übermalt, um den Angreifern die Orientierung zu erschweren. Sie hatten | |
| Glück: Die russische Armee hatte in jenen Tagen zahlreiche Autos von | |
| fliehenden Zivilisten beschossen. Ihres nicht. Sie erreichten Kaniw, die | |
| Heimatstadt ihres Mannes südlich vom Kyjiw am Dnipro gelegen. | |
| „Von dort bin ich eine Woche später weiter nach Lwiw gefahren und mein Mann | |
| hat sich freiwillig zum Dienst bei der Armee gemeldet.“ Er habe in der | |
| Brigade gekämpft, die im September 2022 die Stadt Isjum in der Region | |
| Charkiw befreite. „Dort wurde er wieder verwundet. Ein Granatsplitter hat | |
| ihn am Kopf getroffen.“ | |
| Nach einem Jahr in der Armee habe sein Professor von der Universität | |
| verlangt, dass er sein Studium fortsetze. „Die Ukraine braucht Ärzte, hat | |
| er gesagt.“ Nun wohne er wieder in Irpin und versuche den versäumten Stoff | |
| aufzuholen. Doch die Erlebnisse haben auch Spuren hinterlassen. „Er hat ein | |
| Trauma und geht zur Therapie“, sagt sie. | |
| Das Paar sieht sich einmal im Monat. Wieder zurück nach Kyjiw | |
| beziehungsweise Irpin wolle sie nicht, solange der Krieg dauert. Lwiw werde | |
| viel seltener angegriffen. „Ich muss an meinen Sohn denken.“ Viel weiter | |
| als in Lwiw kann man sich in der Ukraine kaum von der Krim entfernen. Nur | |
| 70 Kilometer weiter befindet sich die Grenze nach Polen. | |
| Nun wagt sie seit September den nächsten Versuch in der Gastronomie. Das | |
| Café mache ihr Freude. „Das ist mehr als ein Geschäft. Da ist meine Seele.�… | |
| Für die Renovierung der Räume habe sie eine staatliche Förderung bekommen. | |
| „In der Gastronomie heißt es, die ersten drei Monate seien die schwersten. | |
| Und uns gibt es jetzt schon fünf Monate.“ Von Freitag bis Sonntag sei das | |
| kleine Lokal mit seinen sechs Tischen abends ausgebucht. „An den anderen | |
| Tagen ist es schwieriger.“ Wenn es Luftalarm gebe, kommen weniger Gäste, | |
| aber sie müsse trotzdem alles bereithalten. | |
| Sie fühle sich wohl in Lwiw. Die Menschen seien freundlich. Die | |
| krimtatarische Gemeinde in Lwiw sei nicht groß. „Vielleicht um die 1.000 | |
| Menschen“, schätzt Khaibulaiva. „Da kennt man praktisch jeden.“ Während… | |
| erzählt, kommt ein englischsprachiger Gast herein. Sie nimmt die Bestellung | |
| auf und bringt Pilaf, ein herzhaftes Reisgericht mit Lammfleisch. Wie sich | |
| herausstellt, ist der Mann aus Afghanistan. Im Internet wirbt Khaibulaiva | |
| damit, dass ihr Essen halal ist. | |
| Sie trägt einen gelben Strickpullover und ein hellblaues Kopftuch: die | |
| Farben der krimtatarischen Gemeinschaft. „Mein Sohn geht inzwischen hier | |
| zur Schule. Und hat neue Freunde gefunden.“ Zu Hause fühle sie sich | |
| allerdings nicht. „Es gibt nur einen Ort, der mein Zuhause ist.“ Und das | |
| sei die Krim. „Ich will in dem Haus schlafen, das mein Vater für uns gebaut | |
| hat.“ Doch das sei erst möglich, wenn Russland dort nicht mehr herrscht. | |
| Wer sich auf der Krim nicht unterordne, lebe gefährlich. | |
| Die Menschenrechtsgruppe KPG versucht, einen Überblick über die politische | |
| Verfolgung durch die Besatzer zu behalten. Die Nichtregierungsorganisation | |
| gibt es seit 2014. Sie will Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen | |
| auf der Halbinsel schaffen. Ihre Datenbank enthält Informationen über mehr | |
| als 1.400 Opfer politisch und religiös motivierter Verfolgungen auf der | |
| Krim. Zum Beispiel sammle sie Informationen über Gerichtsverhandlungen. | |
| Ein jüngstes Beispiel ist die Verhaftung der Menschenrechtsaktivistin | |
| Lutfiye Zudiyeva am 22. Februar. Mitarbeiter der russischen Behörde gegen | |
| Extremismus durchsuchten ihr Haus und nahmen sie mit. Ihr wird Missbrauch | |
| der freien Meinungsäußerung vorgeworfen, unter anderem weil sie auf | |
| Facebook einen Artikel von Radio Liberty geteilt hatte, ohne darauf | |
| hinzuweisen, dass dieses Medium in Russland als „ausländischer Agent“ gilt. | |
| [3][Auch die ukrainischen Behörden befassen sich damit]: „Wir wissen, dass | |
| es im Januar 2024 mindestens 100 Fälle von Verfolgung von Krimtataren aus | |
| religiösen Gründen gibt“, sagt Tamina Tasheva. Sie ist Beauftragte des | |
| ukrainischen Präsidenten für die Krim. Derzeit seien auf der Krim 208 | |
| politische Gefangene bekannt, davon 125 KrimtatarInnen. Anfang März hat die | |
| Ukraine Material an die Staatsanwaltschaft des Internationalen | |
| Strafgerichtshofs übergeben. Es enthalte dokumentiere derzeit mehr als 90 | |
| Tatbestände der Verfolgung von Vertretern der Orthodoxen Kirche der Ukraine | |
| auf der Krim, Zeugen Jehovas, Muslimen, Protestanten und anderen religiösen | |
| Minderheiten. | |
| Auch der Vater von Lerane Khaibulaiva wünsche sich die Rückkehr der | |
| Tochter. Ihre Eltern müssten im Alltag sehr vorsichtig sein. Mehrmals die | |
| Woche telefoniere sie mit ihnen. „Dann sprechen wir nur krimtatarisch und | |
| meiden politische Themen.“ In der Öffentlichkeit sprächen die Eltern nur | |
| Russisch, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken. „Im Bus sollte man keine | |
| ukrainischen Nachrichten auf dem Smartphone lesen.“ Die Krim verlassen | |
| wollen Eltern und Schwestern aber trotzdem nicht. „Mein Vater sagt, wir | |
| warten hier auf die Ukraine.“ | |
| 13 Mar 2024 | |
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| Marco Zschieck | |
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