# taz.de -- Migration im US-Wahlkampf: Chaos mit Kalkül | |
> Beim Thema Migration setzen die Republikaner im US-Wahlkampf auf | |
> Panikmache. In New York sieht man, welche Folgen es für Betroffene hat, | |
> wenn Politiker der Demokraten dabei mitspielen. | |
Bild: Nach 30 Tagen sind die Männer Anfang Januar aus ihrer Unterkunft in New … | |
New York taz | Ein Donnerstagnachmittag in Bay Ridge, einem Viertel im | |
Südwesten Brooklyns. Das Seitengebäude der Good Shepherd Lutheran Church | |
füllt sich langsam. Man hört viele Stimmen, vor allem Spanisch. Und man | |
erfährt Geschichten, von Gewalt, Bürokratie und Solidarität. | |
Sandra D.* zum Beispiel, 27, lange, braune Haare, mintgrüne Daunenjacke. | |
Sie ist mit ihren zwei Kindern hier, fünf und acht Jahre, die etwas | |
gelangweilt auf einer Bank ihre Beine baumeln lassen. Zu dritt flohen sie | |
im März 2023 aus Kolumbien nach New York, um Verfolgung zu entgehen, wie D. | |
knapp sagt. Dass ein großer Teil ihrer Familie von einer Gang ermordet | |
wurde, erzählt der Pastor der Kirche später in einem ruhigen Moment. An | |
diesem Nachmittag kämpft sich D. mit der Hilfe eines Übersetzers durch die | |
Formulare ihres Asylantrags. Sie wirkt nervös. | |
Ein paar Tische weiter sitzt Alberto C.*, 51, Glatze, weißer Kinnbart. Er | |
kam Anfang der 90er Jahre aus Venezuela nach New York und besorgte sich | |
damals einen Sozialversicherungsausweis und eine Geburtsurkunde auf dem | |
Schwarzmarkt, um arbeiten zu können. Über zwei Jahrzehnte lang lebte der | |
Familienvater mit falscher Identität, ehe er 2016 am Flughafen JFK | |
festgenommen wurde und für mehrere Jahre ins Gefängnis musste. Seit C. raus | |
ist, unterstützt er Immigrant:innen, damit diese nicht in die Illegalität | |
müssen. Er selbst hat bis heute weder Pass noch Arbeitserlaubnis, was er | |
mit einer erstaunlichen Gelassenheit erzählt. | |
Die eine ist hier, weil sie Hilfe braucht. Der andere, weil er helfen kann. | |
Doch in der Good-Shepherd-Kirche wird Wert darauf gelegt, dass niemand auf | |
eine Rolle festgelegt ist. Fast alle im Raum waren mal in Sandras Situation | |
des überforderten Ankommens. Jede:r soll nach einer Weile mit anpacken, | |
wie Alberto es tut. „Es geht nicht um Charity, sondern um gegenseitige | |
Unterstützung“, sagt Pastor Juan Carlos Ruiz. Er wehrt sich damit gegen das | |
allgemeine politische Klima in den USA. | |
Das Meinungsforschungsinstitut Gallup veröffentlichte Ende Februar eine | |
Umfrage zu den Sorgen der US-Bevölkerung. Zum ersten Mal seit fünf Jahren | |
wurde Migration in die USA als das größte Problem des Landes benannt. In | |
einer anderen Umfrage, kürzlich vom Pew Research Center veröffentlicht, | |
gaben 80 Prozent der Befragten an, dass sie unzufrieden mit der | |
Migrationspolitik der Regierung seien. 41 Prozent der Amerikaner:innen | |
sind für einen Ausbau der Mauer zu Mexiko. Migration bedeutet in den Augen | |
vieler Menschen automatisch Krise. | |
Man könnte diese Ergebnisse nun einzig auf die hohen Zuwanderungszahlen | |
zurückführen. Allein im Dezember 2023 kamen 302.000 Menschen über die | |
Südgrenze in die USA. Zum Vergleich: In den Jahren 2013 bis 2019 lag der | |
monatliche Schnitt bei 39.000. In den Städten im Landesinneren steht die | |
Politik deshalb zweifellos vor Herausforderungen. Es geht um Schlafplätze, | |
Kinderbetreuung, medizinische Versorgung. Die notorisch unterbesetzten | |
Behörden kommen oft nicht hinterher; die öffentliche Infrastruktur, fast | |
überall kaputt gespart, reicht nicht aus. Das Chaos, das an manchen Orten | |
herrscht, wäre mit einer anderen Politik abwendbar. Doch nach einer anderen | |
Politik sieht es ganz und gar nicht aus. | |
„Die Grenzinvasion des korrupten Joe Biden zerstört unser Land und tötet | |
unsere Bürger:innen!“, schrieb Donald Trump kürzlich auf seiner Plattform | |
Truth Social. Vergangene Woche reiste er nach Texas und sprach dort von | |
einem „Krieg“. Die USA würden von Mördern, Vergewaltigern, psychisch | |
Kranken und Terroristen überrannt, so Trump. Solch rassistische Panikmache | |
ist in der Republikanischen Partei längst normalisiert. Der texanische | |
Gouverneur [1][Greg Abbott zieht an der Grenze Stacheldraht hoch] und | |
schickt Migrant:innen per Bus in demokratisch regierte Großstädte, um | |
eine Botschaft zu senden: Diese Leute sind jetzt euer Problem. | |
Und Biden? Der war am gleichen Tag wie Trump in Texas und betonte bei einer | |
Pressekonferenz, dass die USA längst ein schärferes Grenzgesetz hätten, | |
wenn die [2][Republikanische Partei es nicht im Repräsentantenhaus] | |
geblockt hätte. Während Trump also mit faschistischer Rhetorik Alarm | |
schlägt, versucht der Präsident die Wähler:innen zu beruhigen, indem er | |
auf seine eigenen Law-and-Order-Bemühungen hinweist. Biden hat in den | |
vergangenen Jahren zwar Maßnahmen zum Schutz von Migrant:innen | |
ergriffen, die bereits länger in den USA leben. In letzter Zeit spricht er | |
aber vor allem von Aufrüstung. | |
## Erfolgreich mit Crime Panic | |
Neun Monate vor der Wahl dominiert das Thema Zuwanderung die politischen | |
Debatten, und die Rechten geben die autoritäre Richtung vor. Das erklärt, | |
warum so viele Amerikaner:innen für Abschottung sind. Die angebliche | |
Bedrohung wird ihnen rund um die Uhr eingehämmert, von Medien und Politik, | |
oft verbunden mit Lügen und Verschwörungserzählungen, die auch deshalb | |
fruchten, weil Chaos politisch fabriziert wird. | |
In New York City lässt sich dieses politisch fabrizierte Chaos jeden Tag | |
erleben. Mehr als 175.000 Asylsuchende sind in den vergangenen 20 Monaten | |
angekommen. Das ist eine Menge. Trotzdem sollte das lösbar sein für eine | |
Stadt, aus der seit Pandemiebeginn mehr als eine halbe Million Menschen | |
weggezogen sind, die mehr Milliardär:innen hat als jede andere Stadt | |
der Welt, in der zigtausende Wohnungen leer stehen und unzählige | |
Büroflächen ungenutzt sind. Was also ist das Problem? | |
Der Bürgermeister von New York, Eric Adams, ein Demokrat und Ex-Polizist, | |
hat seit seinem Amtsantritt vor gut zwei Jahren immer wieder vor zu viel | |
Migration gewarnt. „Ich sehe kein Ende. Das Thema wird New York City | |
zerstören“, sagte er im Herbst. Vorige Woche kündigte er an, das Konzept | |
der [3][Sanctuary City – gemeint sind Städte der Zuflucht] – verändern zu | |
wollen. Geht es nach Adams, sollen Migrant:innen, die eines schweren | |
Verbrechens verdächtigt werden, noch vor dem Gerichtsprozess an die | |
Abschiebebehörde ICE übergeben werden. Während die Kriminalitätszahlen in | |
New York sinken, skandalisiert Adams einzelne Fälle. Mit „Crime Panic“ war | |
er schon im Wahlkampf erfolgreich. | |
Adams beschwört die Krise nicht nur, er produziert sie auch. Im Herbst | |
entschied seine Regierung, dass asylsuchende Familien nach 60 Tagen die | |
stadteigenen Unterkünfte verlassen müssen. Alleinstehende Migrant:innen | |
müssen nach 30 Tagen raus. Platz solle geschaffen werden, so Adams. | |
Vielmehr scheint aber Abschreckung das Ziel. Zur Folge hat diese Regelung | |
vor allem, dass viele Asylsuchende nun auf der Straße leben, mit Koffern | |
und Tüten durch die Stadt ziehen und verzweifelt nach einer neuen Bleibe | |
suchen. | |
## Migration als politischer Kampfbegriff | |
Als „eine der grausamsten Maßnahmen aus dem Rathaus seit Generationen“ | |
bezeichnet Brad Lander die neue Regelung. Lander ist City Comptroller von | |
New York, eine Art Finanzdirektor also. Kinder würden aus der Schule | |
gerissen, weil die Familien in andere Ecken der Stadt umziehen müssen, so | |
Lander, der politisch links von Adams steht. „Wir sind zwar mit | |
Herausforderungen konfrontiert, was den Haushalt betrifft“, sagt Lander, | |
„aber wir haben keine Krise“. | |
Während „Migrant Crisis“ ein politischer Kampfbegriff geworden ist, füllt | |
die Zivilgesellschaft derzeit viele Lücken, die der Staat entstehen lässt. | |
Besonders spürbar ist das in der Good-Shepherd-Kirche in Bay Ridge, die in | |
den vergangenen Jahren für Tausende Migrant:innen zur Anlaufstelle | |
geworden ist. Manche brauchen eine warme Mahlzeit, andere einen Ort zum | |
Schlafen, wieder andere Unterstützung bei Bürokratischem. „Die meisten sind | |
durcheinander, viele traumatisiert“, sagt der 54-jährige Pastor Ruiz. „Ich | |
sehe den Lärm in ihren Köpfen.“ | |
Ruiz spricht aus eigener Erfahrung. Er kam 1986 aus Mexiko in die USA, | |
damals war er 16. Nachdem sein Visum abgelaufen war, lebte er acht Jahre | |
lang in Unsicherheit, fand Jobs im Schatten des offiziellen Arbeitsmarktes, | |
begleitet von der Angst, abgeschoben zu werden. Seinem Antrag auf eine | |
Green Card wurde irgendwann stattgegeben. Dieses Glück haben die meisten | |
der rund zehn Millionen „Undokumentierten“ nicht. Ruiz gründete 2006 die | |
Initiative „New Sanctuary Coalition“, die sich für die Rechte von | |
Migrant:innen einsetzt. Besonders in den Trump-Jahren 2017 bis 2020 | |
wurde ihre Arbeit essentiell. „Sanctuary bedeutet für mich, dass wir einen | |
Raum schaffen, in dem Menschen frei atmen können“, so Ruiz. | |
Seit mehr als drei Jahren nun ist Joe Biden US-Präsident. In New York | |
regiert ein demokratischer Bürgermeister. Aber Migration wird immer noch a | |
priori als Problem geframt. Was also müsste sich grundsätzlich ändern? | |
## Gewalt, Bürokratie, Solidarität | |
Ruiz nennt die Dinge, die eigentlich alle nennen, die sich konstruktiv mit | |
der Materie beschäftigen: Leerstand nutzen, neuen Wohnraum schaffen, | |
Investitionen in öffentliche Infrastruktur, umfangreiche Sozialprogramme, | |
schnell Arbeitserlaubnisse erteilen, Migrant:innen wie Menschen | |
behandeln. „Wir machen Asylsuchenden das Leben schwer“, so Ruiz. „Wir | |
verdammen sie zum Warten.“ | |
Als ein junger Venezolaner Ende Januar nach einer Prügelei mit der Polizei | |
in Manhattan in Untersuchungshaft landete, beschaffte Ruiz die Kaution. | |
„Ich glaube, dass jeder ein faires Verfahren verdient“, sagt der Pastor. Er | |
betont, dass dafür keine Kirchengelder genutzt wurden. Die rechte | |
Boulevardzeitung New York Post machte trotzdem einen Skandal daraus, | |
stellte die Good-Shepherd-Kirche an den Pranger. Mehrere Tage lang sei er | |
daraufhin angefeindet worden, so Ruiz. „Die politische Stimmung ist in den | |
letzten Jahren nach rechts gekippt.“ | |
Gewalt, Bürokratie, Solidarität. Diese Gleichzeitigkeit wird derzeit an | |
vielen Orten New Yorks deutlich. Der zurzeit wohl bekannteste ist das | |
Roosevelt Hotel in Midtown Manhattan, das seit vergangenem Jahr als | |
Ankunftszentrum für Asylsuchende dient. Jeden Tag schlagen dort neue | |
Familien auf. Jeden Tag müssen Menschen wieder raus, weil ihre Frist | |
abgelaufen ist. Um die Ecke gibt es ein Pizza-Restaurant, dessen Besitzer | |
Dino Redzic, selbst Immigrant, eine simple Botschaft hat: „Gebt diesen | |
Leuten einfach eine Arbeit und lasst sie in Frieden leben.“ An einem | |
Laternenpfahl in der Nähe haben Rechte ein Schild aufgehängt, das 10.000 | |
US-Dollar Belohnung für Hinweise auf Angriffe auf die Polizei verspricht. | |
* Die Namen sind der Redaktion bekannt | |
10 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lukas Hermsmeier | |
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