# taz.de -- Ein Haus für alle in Hamburg: Ausblick statt Abstellgleis | |
> In einem Haus in der Hafencity leben kranke Menschen zusammen mit | |
> gesunden. Die Bewohner*innen soll nicht die Krankheit verbinden, | |
> sondern der Wunsch nach Gemeinschaft. Klappt das? | |
Bild: Blick auf die Elbe: das Haus Festland in der Hamburger Hafencity | |
Wenn man sie nach ihrer Beziehung fragt, müssen Simone Görner und Mirjam | |
Giese über das richtige Wort erstmal nachdenken. Sie schauen einander an | |
und lächeln. „Wir sind Freundinnen“, sagt Giese zu Görner. | |
„Freundschaftliche Nachbarinnen.“ Görner sagt: „Dass ich dich immer anru… | |
durfte, als ich in der Klinik war, dafür bin ich echt dankbar.“ | |
Simone Görner ist 47, sie ist an [1][Multipler Sklerose erkrankt]. Mirjam | |
Giese, 57, ist gesund. Früher hat sie als Ärztin gearbeitet, nun ist sie in | |
Rente. Beide sind unabhängig voneinander in das Haus Festland eingezogen. | |
Es gehört dem gemeinnützigen Hamburger Unternehmen Leuchtfeuer, das | |
verschiedene soziale Einrichtungen betreibt, unter anderem auch ein Hospiz | |
und eine Beratungseinrichtung für Menschen mit HIV. | |
Leuchtfeuer ist 1994 aus der Aidshilfe heraus entstanden, 2020 wurde das | |
Haus Festland eingeweiht. Es steht mitten [2][in der Hamburger Hafencity], | |
nur wenige Schritte von der Elbe entfernt. Das Beige der Fassade mischt | |
sich mit dem Hamburger Himmelgrau und dem Grau des Flusses. | |
Die Hafencity ist ein Neubaugebiet, auf dem Weg kommt man noch immer an | |
zahlreichen Baustellen vorbei. Als sie vor knapp drei Jahren einzogen, habe | |
es noch keine Supermärkte in der Nähe gegeben, erzählt Simone Görner. „Als | |
der Edeka aufgemacht hat, sind wir alle hin und haben uns da getroffen.“ | |
Von den 27 Wohnungen im Haus sind sechs frei finanziert. Die restlichen 21 | |
sind von der Stadt gefördert [3][und richten sich an körperlich chronisch | |
erkrankte Menschen]. Zwei Förderstufen gibt es für sie, je nach Einkommen. | |
Am Ende kostet der Quadratmeter im Haus Festland zwischen 6,60 Euro und | |
13,50 Euro. Beim Einzug müssen die Bewohner*innen unter 55 Jahre alt | |
sein, danach dürfen dort so lange wohnen bleiben, wie sie möchten. Mirjam | |
Giese lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn drei Wohnungen neben Görner, im | |
vierten Stock. | |
Jetzt sitzen sie im Aufenthaltsraum des Hauses im Erdgeschoss, die Lampen | |
an der Decke sind mit Weltkugeln aus Plastik verkleidet. In die Wand zum | |
Flur ist ein Aquarium verbaut, getrunken wird Wasser von Viva Con Agua, | |
einer trendigen Hamburger NGO. Die Einrichtung wirkt ein bisschen wie ein | |
Start-up, nur liebevoller, mit Leseecken und riesigen Fenstern, auch die | |
Flure sollen gemütliche Begegnungsorte sein. | |
Zu Beginn macht Simone Görner gleich etwas klar. Bevor sie spricht, macht | |
sie manchmal eine kurze Pause, ihre Stimme ist deutlich. „Ich will | |
eigentlich gar nicht so viel über meine Krankheit reden“, sagt sie. Aber | |
ohne gehe es auch nicht. Sie gehöre eben zu ihr. | |
## Der erste Schub | |
Görner leidet an MS, seit sie 22 Jahre alt war. In einer Prüfungssituation | |
während der Banklehre erlebte sie den ersten Schub. Damals lebte sie noch | |
in der Nähe von Bielefeld. Innerhalb weniger Stunden war ihre rechte Seite | |
komplett gelähmt. | |
Obwohl Görner danach wieder laufen lernte, kamen immer neue Symptome und | |
Schübe der Krankheit. Wohnen war deshalb immer ein großes Thema in ihrem | |
Leben. Sie wollte frei sein, lebte später in Hamburg und Berlin in | |
Wohngemeinschaften und studierte Soziologie. | |
Als sie das WG-Leben satt hatte, zog sie in eine Wohnung im Hamburger | |
Stadtteil Eimsbüttel, „doch irgendwann konnte ich mit zwei Krücken eben | |
keinen Topf mehr selbst halten“. Ihre Eltern holten sie zurück nach | |
Bielefeld. Görner musste auf einen Rollstuhl umsteigen, seitdem ist sie auf | |
Pflege angewiesen. In Bielefeld lebte sie auch in einem Projekt für junge | |
Menschen, doch ihr großer Traum, sagt sie, blieb Hamburg. | |
Als sie in der Zeitschrift der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft vom | |
Haus Festland las, zog sie vor allem die Lage am Hafen an und die Idee von | |
Gemeinschaft. „Dass viele hier chronisch krank sind, hat mich eher | |
abgeschreckt“, sagt Görner. „Ich habe damals alles über die Scheiß-MS | |
gelesen, und danach hab ich auch Krankheitsängste entwickelt.“ | |
## Verlockende Aussicht | |
Die Konfrontation mit den anderen Krankheiten im Haus könnte sie triggern, | |
sorgte sich Görner. Aber die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben in | |
Hamburg war zu verlockend. „Ich habe alles dafür getan, hier einziehen zu | |
können“, sagt sie. Die einzige freie Wohnung war eigentlich zu groß und zu | |
teuer: Görner hat vom Amt lediglich Anspruch auf die Förderung einer | |
Einzimmerwohnung. „Dann esse ich halt weniger, hab ich gedacht.“ Ihre Tante | |
unterstützte sie bei ihrem Plan. Im Mai 2021 zog sie ein: Zwei Zimmer, | |
Küche, Bad, Eckbalkon mit Elbblick. | |
Görner wird zu jeder Zeit von einer Pflegerin unterstützt. Um den Rollstuhl | |
zu bewegen, braucht sie Hilfe, auch zum Aufstehen und zum Frühstück machen, | |
Müsli mit Obst. Im Wohnzimmer schläft die Pflegerin, alle 12 Stunden kommt | |
eine Ablöse. Sie könne jeden Abend die Tür hinter sich zumachen, sagt | |
Görner. | |
In ihrem Schlafzimmer steht ein Pflegebett, am Bücherregal hängt eine | |
kleine Norwegenflagge. Das Land ist ein Sehnsuchtsort für sie, sie würde | |
gerne dorthin reisen. Im Studium hätte sie mal die Möglichkeit gehabt, nach | |
Oslo an eine Partneruniversität zu gehen, aber die MS ließ das nicht zu. | |
Mirjam Giese wird dieses Jahr hinfahren, mit ihrem Mann. „Ich werde dich | |
extraviel daran teilhaben lassen“, sagt sie. | |
[4][Pflegedienste] organisieren im Haus Festland die Bewohnerinnen selbst, | |
je nach Bedarf, die Hauptamtlichen vor Ort unterstützen lediglich. Kurz | |
nach ihrem Einzug stand Simone Görner einmal ohne Pflegedienst da und fand | |
auf die Schnelle keinen neuen. Sie musste in eine Klinik und dann in ein | |
Pflegeheim. „Ich brauch halt immer Hilfe“, sagt sie. Sie telefonierte in | |
der Zeit oft mit Mirjam Giese. „Ich habe eine Spastik entwickelt, und weil | |
das für die Pflegekräfte zu schwierig war, wurde ich im Bett gelassen“, | |
erzählt sie. „Ich dachte: Das ist kein Leben für mich.“ Ihre Tante habe | |
später zur ihr gesagt: Wenn du hier nicht rauskommst, geht es zu Ende mit | |
dir. | |
## Kampf um den Pflegedienst | |
„Ich habe mir echt Sorgen gemacht“, sagt Mirjam Giese. Simone Görner nickt. | |
„Unglücklich sein wirkt sich auf meine Krankheit aus“, sagt sie. Sie | |
kämpfte damals darum, wieder einen mobilen Pflegedienst zu bekommen, der | |
sie in ihrer Wohnung im Wohnprojekt Festland betreuen kann. Nach sieben | |
Monaten konnte sie zurück. | |
Mit den aktuellen Pflegekräften komme sie gut aus, sagt Simone Görner. | |
Sejla, die heute Dienst hat, nickt und streicht ihr durch die Haare. „Ich | |
bin gelernte Friseurin, und schneide Simone neben der Pflege auch die | |
Haare“, sagt sie. | |
Das Haus Festland ist auf die Bedürfnisse der kranken Menschen | |
ausgerichtet. Wenn man sich im Haus bewegt, muss man aufpassen, dass man | |
nicht die Türklinken benutzt oder einen Keil hineinlegt, um sie offen zu | |
halten. Schilder weisen überall darauf hin: die Automatiktüren können | |
leicht kaputtgehen. | |
Auch Mirjam Giese lebt mit ihrem Mann Andreas, ihrem 18-jährigen Sohn Nick | |
und ihrem Hund Teddy in einer barrierefreien Dreizimmerwohnung. Die Familie | |
duscht in einer ebenerdigen Dusche, hat niedrigere Lichtschalter in der | |
Wohnung. Vorher wohnte sie in Hamburg-Eimsbüttel, fast komplett ohne | |
Nachbarn, oberhalb einer Tanzschule und einer Billardkneipe. Giese | |
vermisste, als ihre Söhne älter wurden, Lebendigkeit und Nachbarschaft. | |
„Ich mag es, niederschwellig etwas mit Menschen zu machen“, sagt sie. | |
Jetzt lebt sie auf 92 statt 180 Quadratmetern, finanziell sei es dadurch | |
etwas entspannter geworden. Draußen rattern die Bobbycars der Kinder, die | |
mit ihren Eltern in die Häuser nebenan gezogen sind, das Viertel sei | |
lebendig, sagt Giese. „Und zu erleben, wie Menschen mit starken | |
körperlichen Beeinträchtigungen ihr Leben meistern und dabei eine gute | |
Lebensqualität haben können, macht mich demütig.“ | |
## Gefühl der Sicherheit | |
Ein großes Argument für Mirjam Giese, im Haus Festland einzuziehen, war, | |
dass sie und ihr Mann hier alt werden können. Sie hätten sich schon | |
Gedanken gemacht, ob eine Seniorenresidenz in Zukunft für sie in Frage | |
käme, aber das sei finanziell utopisch gewesen. Hier seien sie in | |
Sicherheit. „Als ich eine Hüft-OP hatte, habe ich die Vorteile der | |
Barrierefreiheit schon gespürt“, sagt Giese. | |
Wenn eine*r von ihnen einen Schlaganfall haben sollte, könnte man | |
problemlos ein Pflegebett in die Wohnung stellen, und sie wären nicht | |
allein. Bei Fragen könnten sie sich an das Festland-Team wenden, das | |
beruhige sie sehr, sagt Giese. | |
Inklusive Wohnformen haben oft das Problem eines Ungleichgewichts, | |
bleibende Beziehungen werden so verhindert. Wenn etwa bei Hausprojekten | |
Studierende in WGs mit alten Menschen leben, so dass die eine Person | |
pflegebedürftig ist und die andere gesund, erzeugt das eine Hierarchie. Der | |
Gesunde kann gehen, der Pflegebedürftige muss bleiben. Beim Haus Festland | |
soll dieses Gefälle aufgelöst werden: Von der Wohnform profitierten nicht | |
nur die Kranken, sagt Christian Kaiser-Williams, der Leiter des Hauses: | |
„Inklusiv leben heißt auch, dass gesunde Menschen ein Recht auf Kontakt zu | |
Menschen mit Beeinträchtigung haben.“ Mirjam Giese und Simone Görner | |
könnten hier nebeneinander alt werden, alle Mietverträge seien unbefristet, | |
sagt Kaiser-Williams. | |
Was für die Hausbewohner*innen zu tun bleibt, ist, eine Gemeinschaft | |
zu sein. Und das ist gar nicht immer so einfach. Manchmal sei es ein | |
bisschen schade, dass nur ein harter Kern da sei, sagt Simone Görner. | |
Mirjam Giese versteht ebenfalls nicht so ganz, warum einige | |
Bewohner*innen sich den Angeboten im Haus entziehen. „Es stehen ja so | |
viele auf der Warteliste“, sagt sie. | |
Dass die Warteliste lang ist, bestätigt Kaiser-Williams, zumindest bei den | |
geförderten Wohnungen für die chronisch Kranken sei das so. Die Beteiligung | |
an der Gemeinschaft ist explizit erwünscht, in den Vorgesprächen wird | |
abgeklopft, ob die Menschen dazu Lust haben. „Der reine Anspruch auf | |
geförderten Wohnraum reicht nicht“, sagt Kaiser-Williams. | |
Der Wohnprojektgedanke ist wichtig, doch der Leiter des Hauses gibt sich | |
diplomatisch. „Selbstbestimmung steht im Zentrum, niemand ist verpflichtet, | |
teilzunehmen.“ Je nach Kraft könnte man auch in Hausschuhen und Pyjama in | |
den Aufenthaltsraum kommen, wenn man will. | |
Das Festland-Team organisiert sogenannte Sprechstunden, regelmäßige Treffen | |
der Hausgemeinschaft, wo beispielsweise darüber gesprochen wird, ob alle | |
zufrieden sind oder welche Möbel es auf der Dachterrasse braucht. Ansonsten | |
gibt es immer wieder organisierte Ausflüge, nach Helgoland zum Beispiel | |
oder in [5][Hagenbecks Tierpark]. | |
Am Eingang neben dem Aquarium hängt eine Tafel, wo man sich zur Teilnahme | |
am Osterfrühstück eintragen kann. Simone Görners Name steht ganz oben, sie | |
nimmt die meisten Angebote wahr. „Du bist echt ein Paradebeispiel für | |
Dankbarkeit“, sagt Mirjam Giese zu ihr. | |
## Filme mit schwarzem Humor | |
Alle zwei Monate laden Mirjam Giese und ihr Mann zu einem Koch- und | |
Filmabend in ihre Wohnung ein. „Es wird immer demokratisch entschieden, was | |
geschaut wird“, sagt Simone Görner. Zuletzt haben sie [6][Karoline | |
Herfurths Film „Wunderschön“] angeschaut. Görner mag Filme mit schwarzem | |
Humor, sagt sie. | |
Im Gegenzug lädt sie Giese mal auf einen Kaffee auf ihren Balkon ein, oder | |
sie treffen sich zufällig im Flur und reden. Den ersten Geburtstag ihres | |
Hundes Teddy hat Görner spontan auf dem Flur gefeiert, der mit seinen | |
Sitzgelegenheiten und Leseecken auch als Aufenthaltsraum gedacht ist. | |
Mit ihrer aufgeschlossenen Art, so scheint es, bringt Mirjam Giese viel | |
Leben ins Haus. „Mirjam ist die Ansprechpartnerin für alles“, sagt Görner. | |
Giese habe auch schon geholfen, ihren Drucker zu reparieren, und alle | |
möglichen Bewohner*innen haben einen Ersatzschlüssel bei ihr | |
hinterlegt, falls sie ihren vergessen. | |
„Ich muss mich zurückhalten, nicht immer Mirjam zu fragen“, sagt Görner. | |
Nicht alle Bewohner*innen tun das. Manchmal wird es Mirjam Giese dann | |
auch zu viel, dann schickt sie ihren Mann an die Tür oder stellt die | |
Klingel ab. „Ich lerne hier auch, Grenzen zu setzen in meiner | |
Hilfsbereitschaft“, sagt sie. Hier könne sie üben, dass man helfen darf – | |
aber nicht muss. Und dass sie selbst auch mal nach Hilfe fragen darf. | |
## Ausflug mit der Fähre | |
Für Simone Görner ist jeder Tag anders, je nachdem, wie es ihr geht, wie | |
viele Arztbesuche anstehen – und je nach Wetter. „Im Winter, so wie jetzt, | |
fällt mir schnell die Decke auf den Kopf“, sagt sie. Sie ist | |
unternehmungslustig, fährt mit ihrer Pflegerin gern mal mit der Fähre oder | |
geht ins Alster-Kino. | |
Im Sommer ist es dann wieder so, dass ihr manchmal ihr Körper im Weg steht. | |
„Ich mit meiner MS vertrage Hitze überhaupt nicht.“ Gegen Abend wird es | |
außerdem meist schlimmer. „Meine Hände krampfen immer sehr zusammen, da | |
rutsche ich dann auch immer mehr in meinem Rollstuhl runter.“ Sie macht | |
vor, wie sich ihr Nacken überstreckt. | |
Freundschaften wie die mit Giese helfen Görner, ihre Krankheit mal | |
auszublenden. Bei Veranstaltungen versuchen sie, nebeneinander zu sitzen, | |
und werfen sich Blicke zu, wenn sich wer dazwischen drängelt. „Das Wort | |
‚Betroffene‘ will ich über mich irgendwie nicht sagen“, sagt Simone Gör… | |
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, springt Mirjam Giese ihr zur Seite. | |
Dann sagt sie: „Es wäre ein Jammer gewesen, wenn du hier nie eingezogen | |
wärst.“ | |
11 Mar 2024 | |
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