# taz.de -- Geplantes Sterben: „Ach, ich lebe so gern“ | |
> Wie plant man sein Sterben? Die 94-jährige Ursula Schütt konsultiert dazu | |
> regelmäßig ihren Arzt. In Workshops kann man die Art von Beratung lernen. | |
Bild: Rolle des Lebens: Eine Schauspielerin verkörpert eine Patientin, die sic… | |
Ursula Schütt ist eine sehr wache, charmante alte Dame. Die 94 Jahre will | |
man ihr kaum abnehmen, Anfang 80 wäre auch glaubhaft. Die Frau mit dem | |
lässigen schneeweißen Kurzhaarschnitt spricht dezidiert, klar, lebenslustig | |
frisch und hat auch nichts gegen ihren Namen in der Zeitung. Heute ist ihr | |
Hausarzt Jürgen in der Schmitten, 57, zu Besuch in ihrem kleinen Zimmer im | |
Pflegeheim Johanniter-Stift in Meerbusch-Büderich bei Düsseldorf. | |
Anliegen des Arztes: Möglichst genau herauszubekommen, welche medizinische | |
Behandlung die Patientin Schütt im Fall einer ernsthaften Krankheit noch | |
will, etwa nach schwerem Schlaganfall, bei Koma womöglich. | |
Und, ob sich ihre Meinung seit dem letzten Gespräch vor zwei Jahren | |
geändert hat: Lebensverlängerung um jeden Preis? Mit vollem | |
Apparateeinsatz? In der Schmitten will mit dem anstehenden Gespräch eine | |
Hilfestellung geben, die weit über die bürokratischen Formulare einer | |
Patientenverfügung hinausgehen. | |
Die Fragen und Nachfragen sind Teil von ACP, Advance Care Planning, | |
deutsch: eine Behandlung im Voraus planen. Das Konzept will ermitteln | |
helfen, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten genauer zu erkennen. Was | |
will er wirklich? Was lehnt sie ab? Es ist der Versuch, so etwas wie den | |
vorletzten Willen zu ermitteln. | |
## Die Sicht aufs Leben ändert sich | |
Und das konkreter als bei einer schablonenhaften Patientenverfügung: einen | |
Vordruck ankreuzen, unterschreiben, weglegen, fertig, das reiche nicht, | |
sagt in der Schmitten. „Eine Patientenverfügung ist nicht wie ein | |
Testament, das man einmal verfasst, sondern der immer wieder zu | |
aktualisierende Ausdruck eines über viele Jahre fortgesetzten | |
qualifizierten Gesprächsprozesses.“ Die Sicht ändere sich oft, sagt in der | |
Schmitten. „Man muss die Menschen einfühlsam befähigen, autonom zu | |
entscheiden.“ | |
Einfach abfragen kann man Einstellungen zu so einem hochsensiblen Thema wie | |
dem eigenen Sterbeprozess nämlich nicht, das wissen alle gewissenhaften | |
Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Dafür sind die Menschen zu | |
verschieden, die Szenarien zu komplex, schwierig vorherzusehen und | |
vorherzufühlen. | |
Schon gar nicht auf Dauer, denn Krankheitssituation und Lebenslust können | |
sich gerade im Alter schnell ändern. „Es geht immer um Angst. Vor dem Tod. | |
Vor einer Entscheidung. Und vor Fehlern“, hatte in der Schmitten vor dem | |
Termin mit Schütt erklärt. Und prophezeit: „Frau Schütt wird sagen: Ich | |
lebe gern.“ | |
„Ach, ich lebe gern“, sagt Ursula Schütt dann auch gleich mit strahlendem | |
Lächeln, „eigentlich geht es mir gut. Ich weine auch nicht mehr.“ Wie | |
wichtig es ihr sei, möglichst lange zu leben, fragt in der Schmitten nach. | |
„Ach, nicht nur morgen und übermorgen“, sagt Schütt, „ein Jahr bestimmt | |
noch oder zwei, das wäre schön.“ Was ihr besondere Freude mache? „Das Ess… | |
hier ist gut. So viele kleine Erlebnisse. Die Spaziergänge. Aber ich habe | |
keine Freunde mehr. Alle sind ja gestorben. Auch neulich die letzte | |
Nachbarin aus Düsseldorf.“ | |
## Wo liegen die Restlebenswünsche? | |
Und schon sind wir mitten in der Ambivalenz. Der Arzt versucht sich | |
stückweise vorzuarbeiten, was Schütt will und was nicht, wo ihre Ängste | |
liegen, ihre Restlebenswünsche. „Wenn ich Ihnen sage, morgen früh werden | |
Sie nicht mehr wach, Frau Schütt.“ Wie das wäre? „Ein schöner Tod, das w… | |
doch gut. Aber ich lebe so gerne.“ | |
Was tun bei einem Unfall, „wenn Sie künstlich beatmet werden müssen, Frau | |
Schütt? Notarzt, Intensivstation, sollen wir dann weitermachen oder Sie | |
palliativ mit Medikamenten auf dem letzten Weg begleiten …?“ | |
Jürgen in der Schmitten arbeitet außer in seiner Hausarztpraxis in | |
Meerbusch als Professor an der Ruhruniversität Duisburg-Essen als Direktor | |
des Instituts für Allgemeinmedizin mit dem Forschungsschwerpunkt | |
„patientenzentrierte Versorgungsforschung“. | |
Gemeinsam mit der Kollegin Kornelia Götze von der Uni Düsseldorf und | |
einigen anderen hat er, auf Grundlage des Hospiz- und Palliativgesetzes von | |
2015, ACP in Deutschland aufgebaut und weiterentwickelt. Das Vorbild kommt | |
aus den USA: „1993, ich war noch im Studium, wurde dort in der Medizinethik | |
über Ongoing Conversation gesprochen“, sagt in der Schmitten. | |
## Gesprächsübung mit Schauspielern | |
Fortgesetztes Reden also, eine ergebnisoffene Klärung: „Das hieß dann bald | |
ACP. Der Königsweg ist es, Eltern und Kinder miteinander ins Gespräch zu | |
bringen.“ Das können Eltern mit schwer kranken Kindern sein oder Erwachsene | |
und ihre alt gewordenen Eltern. | |
Für PatientInnenen (oder solche, die es werden könnten) ist ACP ein | |
freiwilliges Gesprächsangebot. GesprächsbegleiterInnen aus dem | |
Gesundheitswesen erhalten nach Abschluss einer mehrtägigen | |
Fortbildungsmaßnahme ein Zertifikat als qualifizierteR BeraterIn nach | |
Paragraf 132 Sozialgesetzbuch. Prüfinstanz sind die Krankenkassen. | |
Szenenwechsel. In den Räumen der Diakonie Ruhr in Bochum werden | |
ACP-Gesprächsbegleiter ausgebildet, auf ungewöhnliche Art. Das Setting: | |
Drei Gruppenräume, darin je ein ausgebildeter ACP-Trainer als beobachtender | |
Lehrer und je ein semiprofessioneller Schauspieler, der oder die eine | |
Patientin oder einen Angehörigen spielen. | |
Dazu die Hauptpersonen: jeweils vier Lernende, quasi die SchülerInnen. Sie | |
sollen einmal in ihren Einrichtungen Gesprächsbegleiter werden: Einige | |
Pflegedienstleiterinnen sind dabei, eine Angestellte im AWO-Seniorenbüro, | |
eine Hausärztin, einer arbeitet bei der Lebenshilfe; Alter querbeet. Vier | |
Szenarien werden im Laufe des Tages zu je anderthalb Stunden durchgespielt. | |
Im ersten der vier Rollenspiele geht es um eine schwer demente Frau im | |
Pflegeheim. „Jaaa, sie ist sehr unbeschwert. Und sie weiß immer noch, was | |
sie essen will“, sagt bestimmt ihr emsiger und überaus fürsorglicher | |
Ehemann Herr Schott, 87, gespielt von Paul Pape-Senner, 70. „Und sie singt | |
auch noch so gern. Immer mittwochs. Komisch ist nur, dass sie immer weiß, | |
wann Mittwoch ist …“ | |
Rätsel Demenz: Was empfindet, versteht, wünscht sich ein Mensch im | |
fortschreitenden Dämmern und Vergessen? Und was will er oder sie, wenn es | |
um die letzte Pflegephase geht, um vielleicht große medizinische Eingriffe? | |
Laut aktuellen Erhebungen haben selbst unter HeimbewohnerInnen in | |
Deutschland nur 40 Prozent zumindest eine herkömmliche Patientenverfügung. | |
„Nein, eine Patientenverfügung gibt es nicht“, sagt der Ehemann-Mime | |
Schott, „ich war immer ihr Anker, sie braucht mich doch.“ Und er braucht | |
wohl auch sie: Offenbar will er alles für sie tun, möglichst lang, weil er | |
nicht loslassen will, also auch lebensverlängernde Maßnahmen wünscht. | |
Trainerin Annika greift ein: „Versucht mal mehr auf Zwischentöne zu hören.�… | |
Ehemann Schott: „Sie ist schon sehr auf mich fixiert.“ – „Aber was wür… | |
sie wohl sagen?“ Etwa bei dauerhafter Bettlägrigkeit? „Das wird sie nicht | |
haben wollen. Vielleicht ist ihre schwere Demenz auch ein Segen, da hat man | |
keine Sorgen mehr …“ | |
## Ein wohliger Hauch von Gestern | |
Herr Schott erzählt dann, dass die beste Freundin seiner Frau einmal einen | |
schweren Radunfall hatte, Folge: Intensivstation, Schläuche, Maschinen. | |
„Das wollte meine Frau nie erleben, das musste ich ihr versprechen.“ Er | |
bleibt unentschlossen: „Ich will ja nicht, dass sie leidet. Ich will auch | |
nichts Falsches entscheiden.“ Er ist verzweifelt, wischt sich die Augen. | |
Gut, sagt er dann, Krankenhaus ja, natürlich, sagt er, aber nicht | |
Intensivstation, „und keine Schläuche!“ | |
Eine Frau aus der Runde sagt nachher: „Ich habe mich ständig aufs Glatteis | |
geführt gefühlt mit meinen Fragen, immer unsicher.“ Die anderen | |
widersprechen: „Du warst sehr authentisch.“ Und Paul Pape-Senner: „Ich fa… | |
die Fragen sehr einladend, sorgfältig und nachdenklich. Ihr seid doch etwas | |
weitergekommen.“ | |
Die Seminarräume in der Bochumer Diakonie sind evangelisch nüchtern, außer | |
Raum 3, der heißt „Gute Stube“: An den Wänden hängen ein paar ältliche | |
Relikte aus der Nachkriegszeit, Bilder und ein rot-gold gemusterter | |
Teppich, davor Kommode, ausladender Holzschrank, eine verschnörkelte | |
Standuhr –, halt ein wenig Gelsenkirchener Barock in den Bochumer Ecken. Um | |
den Alten aus dem Pflegebereich im Nebenhaus einen wohligen Hauch Gestern | |
vorzuspielen. Schräg strahlt die Wintersonne durch die Fensterfront. | |
Hier gibt Schauspielerin Brigitte Keldenich-Bergstein, 71, eine fiktive | |
Frau Hamberger, gesetzliche Betreuerin ihres Ex-Ehemannes, von dem sie seit | |
vielen Jahren glücklich getrennt ist. Danach vegetierte er erst schwer | |
alkoholabhängig in seiner Messiewohnung und lebt jetzt nach mehreren | |
Schlaganfällen unansprechbar als krankes Wrack in einer Pflegeeinrichtung. | |
„Man hat mich damals gefragt, ob ich das Kümmern nicht übernehmen will. Wir | |
hatten ja ein schönes Leben, als wir jung waren. Und er hat ja sonst | |
niemanden …“ | |
Ihre Rolle: bedrückt, unsicher. „Wie geht es Ihnen mit der Verantwortung?“, | |
fragt eine Teilnehmerin. Hamberger stockt, ist offenbar von schlechtem | |
Gewissen gepeinigt und sucht merklich nach einem Ausweg aus dem Gespräch. | |
Kurzes Schweigen. Die Trainerin ermuntert die vier werdenden | |
ACP-GesprächsbegleiterInnen: „Nur zu, als Gesprächsbegleiter hat man auch | |
Verantwortung.“ | |
Was tun im Notfall, ist hier die entscheidende Frage im Hintergrund. „Wenn | |
wir nichts machen“, sagt Frau Hamberger, „dann stirbt er und ich hab den | |
umgebracht.“ Sie scheint überfordert. Was er wohl antworten würde, fragt | |
eine. „Macht doch, was ihr wollt, wird er sagen“, kommt jetzt sehr | |
bestimmt, „und am liebsten hinterher: Ich will aber erst noch ein Bier.“ | |
Da müssen alle lachen. So ernst das Thema Tod sein mag, einmal habe eine | |
alte Dame, erzählt einer, auf die Frage nach Wiederbelebung gesagt: „Nein | |
danke, ich will nicht zweimal sterben müssen.“ | |
Nachher sind alle etwas unzufrieden. „Ich bin richtig erschöpft“, sagt eine | |
Kursteilnehmerin, „das war eine Gratwanderung“. Sie sei sich so unsicher | |
gewesen zwischen dem Gefühl, aktiv Fragen anbieten zu müssen – und | |
gleichzeitig sei da die Angst gewesen, Frau Hamberger zu beeinflussen. Die | |
Trainerin: „Ihr hättet auch fragen können: Lebt der Mann denn wohl noch | |
gerne? Indizien suchen.“ Oder offensiv fragen, ob Herr Hamberger den Tod | |
„vielleicht als Erlösung empfinden würde“. | |
## Hochzeit mit 80 | |
Ursula Schütt, die wache 94-Jährige im Meerbuscher Pflegeheim, erzählt bei | |
dem Besuch von in der Schmitten die Geschichte, wie sie nach zwei | |
missglückten Ehen mit Ende 70 eine Zeitungsanzeige „in so einem Käseblatt“ | |
aufgegeben hatte: Mann gesucht. | |
Es meldete sich Harry, ein Volltreffer. „An meinem 80. Geburtstag haben wir | |
geheiratet.“ Spätes Glück: „Wenn Harry mir bei einer Erkältung die Hand | |
hielt, war ich schon fast geheilt“, strahlt Schütt. Harry wurde indes | |
dement und starb vor fünf Jahren. „Es waren wundervolle zehn Jahre. Und | |
jetzt reden wir übers Sterben“, seufzt sie. | |
Jürgen in der Schmitten lenkt das Gespräch auf Notfallsituationen: | |
Plötzlicher Herzstillstand, ob Ursula Schütt in dem Fall eine | |
Wiederbelebung wolle? „Als Arzt muss ich Ihnen dazu sagen, dass Sie mit | |
ihrer Herzschwäche bei Reanimation als 94-Jährige weniger als zehn Prozent | |
Chance haben, dass alles wieder so wird wie vorher.“ Schütt sagt: „Nein, | |
wofür dann?!“ Es klingt energisch. „Das lohnt doch nicht. Mein Mann lebt ja | |
auch nicht mehr. An seinem Grab hab ich gesagt: Harry, hol mich.“ | |
Der Arzt geht einen Schritt zurück: „Und wenn ihre Lungen nicht mehr | |
richtig mitmachen, Frau Schütt, würden Sie Beatmung mit Unterstützung | |
wollen, also mit Maske?“ – „Ich will alles ohne Schmerzen. Aber nicht | |
Krankenhaus, Intensivstation …“ | |
Manöverkritik im Bochumer Seminarraum. Immer wieder ist von „irrer | |
Verantwortung“ die Rede, von „tricky Situationen, nicht in eine | |
naheliegende, einfache Lösung zu laufen“. Man müsse, sagt einer, so was wie | |
„Geburtshilfe leisten bis zu einer Entscheidung“. | |
An einer Pinnwand haben die Kursteilnehmenden niedergeschrieben, was | |
Entscheidungen beeinflussen könnte: Viel ist von Ängsten und Unsicherheit | |
die Rede, bei Angehörigen von drohenden „eigenen Interessen (Erbe)“. Oder: | |
„Persönliche Werte können im Weg stehen.“ | |
Danach stehen weitere Rollenspiele an. Die Fälle sind übrigens, bis auf | |
Nuancen, alle authentisch irgendwo mal so vorgekommen. Allmählich wird | |
klar, dass die Rollenspiele nicht auf eine endgültige Lösung zusteuern | |
müssen. | |
Die SchauspielerInnen reagieren wie beim Improtheater auf möglichst | |
zielgenaue Fragen, Vorgaben, Hinweise, um sich ihrer Rolle entsprechend zu | |
äußern. Lernziel der angehenden Gesprächsbegleiter ist es, weitestmöglich | |
in die oft widersprüchlichen, manchmal angstbesetzten Seelentiefen | |
vorzudringen. | |
Im nächsten Fall geht es um „Gretel“. Die ist seit Geburt geistig | |
behindert, heute 78. Ihr früherer Nachbar, der „Herr Schmitz“ genannt wird | |
und sehr selbstbewusst und großmäulig auftritt, hat seit dem Tod von | |
Gretels Mutter vor 25 Jahren eine Vollmacht. „Gretel arbeitet doch mit | |
solcher Hingabe in der Küche ihrer Einrichtung. Sie fühlt sich da | |
unentbehrlich.“ | |
Die sensibel nachbohrenden ACP-SchülerInnen bekommen bald heraus: Er hat | |
offenbar mehr Angst vor ihrem Tod als Gretel selbst. „Bei | |
Wiederbelebungsmaßnahmen würde sie wahrscheinlich noch in der Ohnmacht | |
Panik kriegen.“ | |
Der verantwortungsbewusste Herr Schmitz erklärt beiläufig, er wolle alles | |
auch deshalb schriftlich genau fixieren, damit niemand vom Amt | |
hereinpfuschen könne, falls er, Schmitz, vor Gretel stirbt. Über die | |
„gesetzlichen Vertreter von Amts wegen“ hatte sich schon in der | |
Mittagspause eine kleine Debatte entzündet. Die springen ein, wenn es keine | |
Vertretungsvollmacht und keinen klaren Willen gibt. | |
Viele haben mit AmtsvertreterInnen offenbar wenig gute Erfahrungen gemacht. | |
Eine Frau widerspricht: „Ich habe da aber auch schon sehr engagierte Leute | |
erlebt.“ Nachsatz: „Aber die sind sehr selten.“ | |
## Lügt sie sich was in die Tasche? | |
Patientenschauspielerin Eva Senner, 68, gibt zum Finale „Frau Groß“, die | |
für sich einen Beratungstermin erbeten hatte. Lebendig und abgeklärt | |
erzählt Groß von ihrem Leben als Tänzerin und jetzt Fotografin, wie gerne | |
sie lebe und reise. Angst vor dem Sterben? „Och nein. Ist doch spannend zu | |
sehen, was da kommt.“ Lebensverlängernde Maßnahmen im Notfall? „Gar | |
nichts.“ Aber zumindest Antibiotika bei schwerer Lungenentzündung? „Nee, | |
ich hatte doch ein schönes Leben.“ Ihr Motto: Wenn es so weit sei, dann sei | |
es so. | |
Schnell haben alle in der Runde das Gefühl, diese lebenslustige Frau lügt | |
sich was in die Tasche. Und haken nach. „Früher“, stockt Groß, „wäre d… | |
anders gewesen, da lebte Leonie noch, meine Frau …, vielleicht treffe ich | |
sie ja wieder.“ | |
Sie druckst. „Manchmal denke ich, es ist nicht okay zu leben, während | |
Leonie … Ich hab ihr damals das Versprechen gegeben, wir werden uns bald | |
wiedersehen.“ Ihre Augen werden feucht. Da ist also eine Mischung aus | |
schlechtem Gewissen und verbotenem Egoismus. Ob es Leonies Wunsch wäre, | |
fragt eine Kursteilnehmerin leise, dass sie so leicht hinterher wolle? Groß | |
zögert. | |
Hier will jemand angeblich keine Hilfe, in Wahrheit ist es umgekehrt – | |
anders als in den vorigen Fällen. Zwei Kursteilnehmerinnen fragen jetzt | |
sehr konkret nach: Was tun bei einem Herzstillstand, will sie wiederbelebt | |
werden? Ja, sagt die ehemalige Tänzerin Groß plötzlich sehr bestimmt. | |
## Selbstoptimierung? Der Arzt ist empört | |
Und bei Koma, wenn sie eine Fifty-fifty-Chance hätte, wieder gesund zu | |
werden? „Die nehme ich.“ Eine Viertelchance? Kurzes Zögern. „Doch, auch | |
noch.“ Das Herunterrechnen dient dazu, Grenzen festzulegen, wann eine | |
Notfallhilfe enden möge. Bei einem Achtel sagte Groß dann auch: „Das wohl | |
nicht mehr.“ Kurze Pause, dann: „Ich glaube, das alles wäre auch im | |
Einklang mit Leonie.“ | |
Viel Lob gibt es in der Analyse danach, weil die Kursteilnehmerinnen sich | |
erfolgreich an Groß’ authentische Wünsche herangerobbt hatten, fast wie der | |
Profi in der Schmitten bei Frau Schütt in Meerbusch. In Bochum lobte eine | |
Teilnehmerin die andere: „Ich finde, Eva, du hattest so eine | |
hochqualifizierte Leichtigkeit in deinen Fragen.“ | |
Vereinzelt gibt es Kritik an ACP, gern gespeist aus der christlichen | |
Denktradition. Der Hamburger Theologe Reimer Gronemeyer etwa hält es für | |
anmaßend, aus dem Sterben ein „planbares Projekt“ zu machen, in dem „das | |
moderne, selbstoptimierte Wesen glaubt, auch den eigenen Tod managen zu | |
müssen“. | |
Jürgen in der Schmitten ist empört über solche Anmaßungen Dritter. Es gehe | |
doch um nicht mehr als „die simple Ausübung des Rechts auf | |
Selbstbestimmung“ statt des üblichen „Automatismus der Akutmedizin“. | |
## Patientenverfügung überfordert | |
Er wundere sich bis heute, wie manche „davon unberührt bleiben können, dass | |
tagtäglich gebrechliche, nicht selten demenzkranke Menschen auf | |
Intensivstationen reanimiert und beatmet werden, um häufig dort oder kurze | |
Zeit später doch zu sterben. Obwohl wir wissen, dass viele von ihnen das | |
nicht mehr wollen würden, wenn wir ihnen Gelegenheit gäben, sich dazu zu | |
äußern.“ | |
Auch an den üblichen Patientenverfügungen lässt Jürgen in der Schmitten | |
kaum ein gutes Haar. „Ohne qualifizierte Begleitung sind Menschen mit dem | |
Erstellen einer Patientenverfügung vollständig überfordert – inhaltlich, | |
aber vor allem auch emotional.“ | |
Zudem würden in den herkömmlichen Formularen nur hoch spezielle Fälle wie | |
Wachkoma oder das Schluckvergessen bei Demenz geregelt, „andere relevante | |
Szenarien werden nicht thematisiert“. Die Vordrucke aus Ministerien, | |
Ärztekammern oder Kirchen, so sein Vorwurf, seien „von Anfang an so | |
konzipiert worden, dass sie in der klinischen Praxis nicht funktionieren | |
sollen. Das ist wie der Hinweis an ein Kind: Du kannst jetzt gern dein | |
Handy nutzen, aber erst wenn ich das WLAN abgeschaltet habe.“ | |
Ursula Schütt, die 94-Jährige aus Meerbusch, sagt in der Schmitten, ohne | |
ärztlich verschwiegen ins Detail zu gehen, sei natürlich nicht mehr so | |
frisch wie sie wirkt, Herz und Lungen seien labil. „Ich habe heute | |
wahrgenommen, dass sich ihre Ansichten etwas geändert haben. Unverändert | |
sagt sie klar: keine Beatmung, keine Wiederbelebung. Aber vor zwei Jahren | |
wollte sie in einer gesundheitlichen Krisensituation auch auf der | |
Intensivstation behandelt werden. Diesbezüglich ist sie jetzt ambivalent.“ | |
## „Da haben alle geheult“ | |
Es bleibe schwierig, sagt in der Schmitten, „eine solche Festlegung valide | |
zu ermitteln“. Und das für die Pflegekräfte unmissverständlich in den | |
Notfallbogen einzutragen. „ACP bleibt ein lebenslanger Prozess. Aber wir | |
haben Glück: Frau Schütt kann sich gut artikulieren und sie lebt | |
privilegiert in dieser guten Einrichtung.“ | |
Aber: „Auch weniger gebildete Menschen, mit denen ich spreche, können sich | |
häufig klar festlegen – nicht selten klarer als die Studierten.“ | |
Der lange Tag in Bochum hat alle ziemlich mitgenommen. Schauspieler Paul | |
Pape-Senner erzählt nach dem Seminar von seiner Gruppe, in der er den | |
schwulen Ex-Tänzer Groß gegeben hatte: „Die Rolle hat ein gigantisches | |
emotionales Potenzial. Bei mir saßen alle mit Taschentüchern in der Hand | |
und haben ausnahmslos geheult, ich auch. Eine Frau hat gesagt: Was mach ich | |
da? Ich hab doch noch nie in der Öffentlichkeit geweint!“ | |
28 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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