| # taz.de -- Geplantes Sterben: „Ach, ich lebe so gern“ | |
| > Wie plant man sein Sterben? Die 94-jährige Ursula Schütt konsultiert dazu | |
| > regelmäßig ihren Arzt. In Workshops kann man die Art von Beratung lernen. | |
| Bild: Rolle des Lebens: Eine Schauspielerin verkörpert eine Patientin, die sic… | |
| Ursula Schütt ist eine sehr wache, charmante alte Dame. Die 94 Jahre will | |
| man ihr kaum abnehmen, Anfang 80 wäre auch glaubhaft. Die Frau mit dem | |
| lässigen schneeweißen Kurzhaarschnitt spricht dezidiert, klar, lebenslustig | |
| frisch und hat auch nichts gegen ihren Namen in der Zeitung. Heute ist ihr | |
| Hausarzt Jürgen in der Schmitten, 57, zu Besuch in ihrem kleinen Zimmer im | |
| Pflegeheim Johanniter-Stift in Meerbusch-Büderich bei Düsseldorf. | |
| Anliegen des Arztes: Möglichst genau herauszubekommen, welche medizinische | |
| Behandlung die Patientin Schütt im Fall einer ernsthaften Krankheit noch | |
| will, etwa nach schwerem Schlaganfall, bei Koma womöglich. | |
| Und, ob sich ihre Meinung seit dem letzten Gespräch vor zwei Jahren | |
| geändert hat: Lebensverlängerung um jeden Preis? Mit vollem | |
| Apparateeinsatz? In der Schmitten will mit dem anstehenden Gespräch eine | |
| Hilfestellung geben, die weit über die bürokratischen Formulare einer | |
| Patientenverfügung hinausgehen. | |
| Die Fragen und Nachfragen sind Teil von ACP, Advance Care Planning, | |
| deutsch: eine Behandlung im Voraus planen. Das Konzept will ermitteln | |
| helfen, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten genauer zu erkennen. Was | |
| will er wirklich? Was lehnt sie ab? Es ist der Versuch, so etwas wie den | |
| vorletzten Willen zu ermitteln. | |
| ## Die Sicht aufs Leben ändert sich | |
| Und das konkreter als bei einer schablonenhaften Patientenverfügung: einen | |
| Vordruck ankreuzen, unterschreiben, weglegen, fertig, das reiche nicht, | |
| sagt in der Schmitten. „Eine Patientenverfügung ist nicht wie ein | |
| Testament, das man einmal verfasst, sondern der immer wieder zu | |
| aktualisierende Ausdruck eines über viele Jahre fortgesetzten | |
| qualifizierten Gesprächsprozesses.“ Die Sicht ändere sich oft, sagt in der | |
| Schmitten. „Man muss die Menschen einfühlsam befähigen, autonom zu | |
| entscheiden.“ | |
| Einfach abfragen kann man Einstellungen zu so einem hochsensiblen Thema wie | |
| dem eigenen Sterbeprozess nämlich nicht, das wissen alle gewissenhaften | |
| Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Dafür sind die Menschen zu | |
| verschieden, die Szenarien zu komplex, schwierig vorherzusehen und | |
| vorherzufühlen. | |
| Schon gar nicht auf Dauer, denn Krankheitssituation und Lebenslust können | |
| sich gerade im Alter schnell ändern. „Es geht immer um Angst. Vor dem Tod. | |
| Vor einer Entscheidung. Und vor Fehlern“, hatte in der Schmitten vor dem | |
| Termin mit Schütt erklärt. Und prophezeit: „Frau Schütt wird sagen: Ich | |
| lebe gern.“ | |
| „Ach, ich lebe gern“, sagt Ursula Schütt dann auch gleich mit strahlendem | |
| Lächeln, „eigentlich geht es mir gut. Ich weine auch nicht mehr.“ Wie | |
| wichtig es ihr sei, möglichst lange zu leben, fragt in der Schmitten nach. | |
| „Ach, nicht nur morgen und übermorgen“, sagt Schütt, „ein Jahr bestimmt | |
| noch oder zwei, das wäre schön.“ Was ihr besondere Freude mache? „Das Ess… | |
| hier ist gut. So viele kleine Erlebnisse. Die Spaziergänge. Aber ich habe | |
| keine Freunde mehr. Alle sind ja gestorben. Auch neulich die letzte | |
| Nachbarin aus Düsseldorf.“ | |
| ## Wo liegen die Restlebenswünsche? | |
| Und schon sind wir mitten in der Ambivalenz. Der Arzt versucht sich | |
| stückweise vorzuarbeiten, was Schütt will und was nicht, wo ihre Ängste | |
| liegen, ihre Restlebenswünsche. „Wenn ich Ihnen sage, morgen früh werden | |
| Sie nicht mehr wach, Frau Schütt.“ Wie das wäre? „Ein schöner Tod, das w… | |
| doch gut. Aber ich lebe so gerne.“ | |
| Was tun bei einem Unfall, „wenn Sie künstlich beatmet werden müssen, Frau | |
| Schütt? Notarzt, Intensivstation, sollen wir dann weitermachen oder Sie | |
| palliativ mit Medikamenten auf dem letzten Weg begleiten …?“ | |
| Jürgen in der Schmitten arbeitet außer in seiner Hausarztpraxis in | |
| Meerbusch als Professor an der Ruhruniversität Duisburg-Essen als Direktor | |
| des Instituts für Allgemeinmedizin mit dem Forschungsschwerpunkt | |
| „patientenzentrierte Versorgungsforschung“. | |
| Gemeinsam mit der Kollegin Kornelia Götze von der Uni Düsseldorf und | |
| einigen anderen hat er, auf Grundlage des Hospiz- und Palliativgesetzes von | |
| 2015, ACP in Deutschland aufgebaut und weiterentwickelt. Das Vorbild kommt | |
| aus den USA: „1993, ich war noch im Studium, wurde dort in der Medizinethik | |
| über Ongoing Conversation gesprochen“, sagt in der Schmitten. | |
| ## Gesprächsübung mit Schauspielern | |
| Fortgesetztes Reden also, eine ergebnisoffene Klärung: „Das hieß dann bald | |
| ACP. Der Königsweg ist es, Eltern und Kinder miteinander ins Gespräch zu | |
| bringen.“ Das können Eltern mit schwer kranken Kindern sein oder Erwachsene | |
| und ihre alt gewordenen Eltern. | |
| Für PatientInnenen (oder solche, die es werden könnten) ist ACP ein | |
| freiwilliges Gesprächsangebot. GesprächsbegleiterInnen aus dem | |
| Gesundheitswesen erhalten nach Abschluss einer mehrtägigen | |
| Fortbildungsmaßnahme ein Zertifikat als qualifizierteR BeraterIn nach | |
| Paragraf 132 Sozialgesetzbuch. Prüfinstanz sind die Krankenkassen. | |
| Szenenwechsel. In den Räumen der Diakonie Ruhr in Bochum werden | |
| ACP-Gesprächsbegleiter ausgebildet, auf ungewöhnliche Art. Das Setting: | |
| Drei Gruppenräume, darin je ein ausgebildeter ACP-Trainer als beobachtender | |
| Lehrer und je ein semiprofessioneller Schauspieler, der oder die eine | |
| Patientin oder einen Angehörigen spielen. | |
| Dazu die Hauptpersonen: jeweils vier Lernende, quasi die SchülerInnen. Sie | |
| sollen einmal in ihren Einrichtungen Gesprächsbegleiter werden: Einige | |
| Pflegedienstleiterinnen sind dabei, eine Angestellte im AWO-Seniorenbüro, | |
| eine Hausärztin, einer arbeitet bei der Lebenshilfe; Alter querbeet. Vier | |
| Szenarien werden im Laufe des Tages zu je anderthalb Stunden durchgespielt. | |
| Im ersten der vier Rollenspiele geht es um eine schwer demente Frau im | |
| Pflegeheim. „Jaaa, sie ist sehr unbeschwert. Und sie weiß immer noch, was | |
| sie essen will“, sagt bestimmt ihr emsiger und überaus fürsorglicher | |
| Ehemann Herr Schott, 87, gespielt von Paul Pape-Senner, 70. „Und sie singt | |
| auch noch so gern. Immer mittwochs. Komisch ist nur, dass sie immer weiß, | |
| wann Mittwoch ist …“ | |
| Rätsel Demenz: Was empfindet, versteht, wünscht sich ein Mensch im | |
| fortschreitenden Dämmern und Vergessen? Und was will er oder sie, wenn es | |
| um die letzte Pflegephase geht, um vielleicht große medizinische Eingriffe? | |
| Laut aktuellen Erhebungen haben selbst unter HeimbewohnerInnen in | |
| Deutschland nur 40 Prozent zumindest eine herkömmliche Patientenverfügung. | |
| „Nein, eine Patientenverfügung gibt es nicht“, sagt der Ehemann-Mime | |
| Schott, „ich war immer ihr Anker, sie braucht mich doch.“ Und er braucht | |
| wohl auch sie: Offenbar will er alles für sie tun, möglichst lang, weil er | |
| nicht loslassen will, also auch lebensverlängernde Maßnahmen wünscht. | |
| Trainerin Annika greift ein: „Versucht mal mehr auf Zwischentöne zu hören.�… | |
| Ehemann Schott: „Sie ist schon sehr auf mich fixiert.“ – „Aber was wür… | |
| sie wohl sagen?“ Etwa bei dauerhafter Bettlägrigkeit? „Das wird sie nicht | |
| haben wollen. Vielleicht ist ihre schwere Demenz auch ein Segen, da hat man | |
| keine Sorgen mehr …“ | |
| ## Ein wohliger Hauch von Gestern | |
| Herr Schott erzählt dann, dass die beste Freundin seiner Frau einmal einen | |
| schweren Radunfall hatte, Folge: Intensivstation, Schläuche, Maschinen. | |
| „Das wollte meine Frau nie erleben, das musste ich ihr versprechen.“ Er | |
| bleibt unentschlossen: „Ich will ja nicht, dass sie leidet. Ich will auch | |
| nichts Falsches entscheiden.“ Er ist verzweifelt, wischt sich die Augen. | |
| Gut, sagt er dann, Krankenhaus ja, natürlich, sagt er, aber nicht | |
| Intensivstation, „und keine Schläuche!“ | |
| Eine Frau aus der Runde sagt nachher: „Ich habe mich ständig aufs Glatteis | |
| geführt gefühlt mit meinen Fragen, immer unsicher.“ Die anderen | |
| widersprechen: „Du warst sehr authentisch.“ Und Paul Pape-Senner: „Ich fa… | |
| die Fragen sehr einladend, sorgfältig und nachdenklich. Ihr seid doch etwas | |
| weitergekommen.“ | |
| Die Seminarräume in der Bochumer Diakonie sind evangelisch nüchtern, außer | |
| Raum 3, der heißt „Gute Stube“: An den Wänden hängen ein paar ältliche | |
| Relikte aus der Nachkriegszeit, Bilder und ein rot-gold gemusterter | |
| Teppich, davor Kommode, ausladender Holzschrank, eine verschnörkelte | |
| Standuhr –, halt ein wenig Gelsenkirchener Barock in den Bochumer Ecken. Um | |
| den Alten aus dem Pflegebereich im Nebenhaus einen wohligen Hauch Gestern | |
| vorzuspielen. Schräg strahlt die Wintersonne durch die Fensterfront. | |
| Hier gibt Schauspielerin Brigitte Keldenich-Bergstein, 71, eine fiktive | |
| Frau Hamberger, gesetzliche Betreuerin ihres Ex-Ehemannes, von dem sie seit | |
| vielen Jahren glücklich getrennt ist. Danach vegetierte er erst schwer | |
| alkoholabhängig in seiner Messiewohnung und lebt jetzt nach mehreren | |
| Schlaganfällen unansprechbar als krankes Wrack in einer Pflegeeinrichtung. | |
| „Man hat mich damals gefragt, ob ich das Kümmern nicht übernehmen will. Wir | |
| hatten ja ein schönes Leben, als wir jung waren. Und er hat ja sonst | |
| niemanden …“ | |
| Ihre Rolle: bedrückt, unsicher. „Wie geht es Ihnen mit der Verantwortung?“, | |
| fragt eine Teilnehmerin. Hamberger stockt, ist offenbar von schlechtem | |
| Gewissen gepeinigt und sucht merklich nach einem Ausweg aus dem Gespräch. | |
| Kurzes Schweigen. Die Trainerin ermuntert die vier werdenden | |
| ACP-GesprächsbegleiterInnen: „Nur zu, als Gesprächsbegleiter hat man auch | |
| Verantwortung.“ | |
| Was tun im Notfall, ist hier die entscheidende Frage im Hintergrund. „Wenn | |
| wir nichts machen“, sagt Frau Hamberger, „dann stirbt er und ich hab den | |
| umgebracht.“ Sie scheint überfordert. Was er wohl antworten würde, fragt | |
| eine. „Macht doch, was ihr wollt, wird er sagen“, kommt jetzt sehr | |
| bestimmt, „und am liebsten hinterher: Ich will aber erst noch ein Bier.“ | |
| Da müssen alle lachen. So ernst das Thema Tod sein mag, einmal habe eine | |
| alte Dame, erzählt einer, auf die Frage nach Wiederbelebung gesagt: „Nein | |
| danke, ich will nicht zweimal sterben müssen.“ | |
| Nachher sind alle etwas unzufrieden. „Ich bin richtig erschöpft“, sagt eine | |
| Kursteilnehmerin, „das war eine Gratwanderung“. Sie sei sich so unsicher | |
| gewesen zwischen dem Gefühl, aktiv Fragen anbieten zu müssen – und | |
| gleichzeitig sei da die Angst gewesen, Frau Hamberger zu beeinflussen. Die | |
| Trainerin: „Ihr hättet auch fragen können: Lebt der Mann denn wohl noch | |
| gerne? Indizien suchen.“ Oder offensiv fragen, ob Herr Hamberger den Tod | |
| „vielleicht als Erlösung empfinden würde“. | |
| ## Hochzeit mit 80 | |
| Ursula Schütt, die wache 94-Jährige im Meerbuscher Pflegeheim, erzählt bei | |
| dem Besuch von in der Schmitten die Geschichte, wie sie nach zwei | |
| missglückten Ehen mit Ende 70 eine Zeitungsanzeige „in so einem Käseblatt“ | |
| aufgegeben hatte: Mann gesucht. | |
| Es meldete sich Harry, ein Volltreffer. „An meinem 80. Geburtstag haben wir | |
| geheiratet.“ Spätes Glück: „Wenn Harry mir bei einer Erkältung die Hand | |
| hielt, war ich schon fast geheilt“, strahlt Schütt. Harry wurde indes | |
| dement und starb vor fünf Jahren. „Es waren wundervolle zehn Jahre. Und | |
| jetzt reden wir übers Sterben“, seufzt sie. | |
| Jürgen in der Schmitten lenkt das Gespräch auf Notfallsituationen: | |
| Plötzlicher Herzstillstand, ob Ursula Schütt in dem Fall eine | |
| Wiederbelebung wolle? „Als Arzt muss ich Ihnen dazu sagen, dass Sie mit | |
| ihrer Herzschwäche bei Reanimation als 94-Jährige weniger als zehn Prozent | |
| Chance haben, dass alles wieder so wird wie vorher.“ Schütt sagt: „Nein, | |
| wofür dann?!“ Es klingt energisch. „Das lohnt doch nicht. Mein Mann lebt ja | |
| auch nicht mehr. An seinem Grab hab ich gesagt: Harry, hol mich.“ | |
| Der Arzt geht einen Schritt zurück: „Und wenn ihre Lungen nicht mehr | |
| richtig mitmachen, Frau Schütt, würden Sie Beatmung mit Unterstützung | |
| wollen, also mit Maske?“ – „Ich will alles ohne Schmerzen. Aber nicht | |
| Krankenhaus, Intensivstation …“ | |
| Manöverkritik im Bochumer Seminarraum. Immer wieder ist von „irrer | |
| Verantwortung“ die Rede, von „tricky Situationen, nicht in eine | |
| naheliegende, einfache Lösung zu laufen“. Man müsse, sagt einer, so was wie | |
| „Geburtshilfe leisten bis zu einer Entscheidung“. | |
| An einer Pinnwand haben die Kursteilnehmenden niedergeschrieben, was | |
| Entscheidungen beeinflussen könnte: Viel ist von Ängsten und Unsicherheit | |
| die Rede, bei Angehörigen von drohenden „eigenen Interessen (Erbe)“. Oder: | |
| „Persönliche Werte können im Weg stehen.“ | |
| Danach stehen weitere Rollenspiele an. Die Fälle sind übrigens, bis auf | |
| Nuancen, alle authentisch irgendwo mal so vorgekommen. Allmählich wird | |
| klar, dass die Rollenspiele nicht auf eine endgültige Lösung zusteuern | |
| müssen. | |
| Die SchauspielerInnen reagieren wie beim Improtheater auf möglichst | |
| zielgenaue Fragen, Vorgaben, Hinweise, um sich ihrer Rolle entsprechend zu | |
| äußern. Lernziel der angehenden Gesprächsbegleiter ist es, weitestmöglich | |
| in die oft widersprüchlichen, manchmal angstbesetzten Seelentiefen | |
| vorzudringen. | |
| Im nächsten Fall geht es um „Gretel“. Die ist seit Geburt geistig | |
| behindert, heute 78. Ihr früherer Nachbar, der „Herr Schmitz“ genannt wird | |
| und sehr selbstbewusst und großmäulig auftritt, hat seit dem Tod von | |
| Gretels Mutter vor 25 Jahren eine Vollmacht. „Gretel arbeitet doch mit | |
| solcher Hingabe in der Küche ihrer Einrichtung. Sie fühlt sich da | |
| unentbehrlich.“ | |
| Die sensibel nachbohrenden ACP-SchülerInnen bekommen bald heraus: Er hat | |
| offenbar mehr Angst vor ihrem Tod als Gretel selbst. „Bei | |
| Wiederbelebungsmaßnahmen würde sie wahrscheinlich noch in der Ohnmacht | |
| Panik kriegen.“ | |
| Der verantwortungsbewusste Herr Schmitz erklärt beiläufig, er wolle alles | |
| auch deshalb schriftlich genau fixieren, damit niemand vom Amt | |
| hereinpfuschen könne, falls er, Schmitz, vor Gretel stirbt. Über die | |
| „gesetzlichen Vertreter von Amts wegen“ hatte sich schon in der | |
| Mittagspause eine kleine Debatte entzündet. Die springen ein, wenn es keine | |
| Vertretungsvollmacht und keinen klaren Willen gibt. | |
| Viele haben mit AmtsvertreterInnen offenbar wenig gute Erfahrungen gemacht. | |
| Eine Frau widerspricht: „Ich habe da aber auch schon sehr engagierte Leute | |
| erlebt.“ Nachsatz: „Aber die sind sehr selten.“ | |
| ## Lügt sie sich was in die Tasche? | |
| Patientenschauspielerin Eva Senner, 68, gibt zum Finale „Frau Groß“, die | |
| für sich einen Beratungstermin erbeten hatte. Lebendig und abgeklärt | |
| erzählt Groß von ihrem Leben als Tänzerin und jetzt Fotografin, wie gerne | |
| sie lebe und reise. Angst vor dem Sterben? „Och nein. Ist doch spannend zu | |
| sehen, was da kommt.“ Lebensverlängernde Maßnahmen im Notfall? „Gar | |
| nichts.“ Aber zumindest Antibiotika bei schwerer Lungenentzündung? „Nee, | |
| ich hatte doch ein schönes Leben.“ Ihr Motto: Wenn es so weit sei, dann sei | |
| es so. | |
| Schnell haben alle in der Runde das Gefühl, diese lebenslustige Frau lügt | |
| sich was in die Tasche. Und haken nach. „Früher“, stockt Groß, „wäre d… | |
| anders gewesen, da lebte Leonie noch, meine Frau …, vielleicht treffe ich | |
| sie ja wieder.“ | |
| Sie druckst. „Manchmal denke ich, es ist nicht okay zu leben, während | |
| Leonie … Ich hab ihr damals das Versprechen gegeben, wir werden uns bald | |
| wiedersehen.“ Ihre Augen werden feucht. Da ist also eine Mischung aus | |
| schlechtem Gewissen und verbotenem Egoismus. Ob es Leonies Wunsch wäre, | |
| fragt eine Kursteilnehmerin leise, dass sie so leicht hinterher wolle? Groß | |
| zögert. | |
| Hier will jemand angeblich keine Hilfe, in Wahrheit ist es umgekehrt – | |
| anders als in den vorigen Fällen. Zwei Kursteilnehmerinnen fragen jetzt | |
| sehr konkret nach: Was tun bei einem Herzstillstand, will sie wiederbelebt | |
| werden? Ja, sagt die ehemalige Tänzerin Groß plötzlich sehr bestimmt. | |
| ## Selbstoptimierung? Der Arzt ist empört | |
| Und bei Koma, wenn sie eine Fifty-fifty-Chance hätte, wieder gesund zu | |
| werden? „Die nehme ich.“ Eine Viertelchance? Kurzes Zögern. „Doch, auch | |
| noch.“ Das Herunterrechnen dient dazu, Grenzen festzulegen, wann eine | |
| Notfallhilfe enden möge. Bei einem Achtel sagte Groß dann auch: „Das wohl | |
| nicht mehr.“ Kurze Pause, dann: „Ich glaube, das alles wäre auch im | |
| Einklang mit Leonie.“ | |
| Viel Lob gibt es in der Analyse danach, weil die Kursteilnehmerinnen sich | |
| erfolgreich an Groß’ authentische Wünsche herangerobbt hatten, fast wie der | |
| Profi in der Schmitten bei Frau Schütt in Meerbusch. In Bochum lobte eine | |
| Teilnehmerin die andere: „Ich finde, Eva, du hattest so eine | |
| hochqualifizierte Leichtigkeit in deinen Fragen.“ | |
| Vereinzelt gibt es Kritik an ACP, gern gespeist aus der christlichen | |
| Denktradition. Der Hamburger Theologe Reimer Gronemeyer etwa hält es für | |
| anmaßend, aus dem Sterben ein „planbares Projekt“ zu machen, in dem „das | |
| moderne, selbstoptimierte Wesen glaubt, auch den eigenen Tod managen zu | |
| müssen“. | |
| Jürgen in der Schmitten ist empört über solche Anmaßungen Dritter. Es gehe | |
| doch um nicht mehr als „die simple Ausübung des Rechts auf | |
| Selbstbestimmung“ statt des üblichen „Automatismus der Akutmedizin“. | |
| ## Patientenverfügung überfordert | |
| Er wundere sich bis heute, wie manche „davon unberührt bleiben können, dass | |
| tagtäglich gebrechliche, nicht selten demenzkranke Menschen auf | |
| Intensivstationen reanimiert und beatmet werden, um häufig dort oder kurze | |
| Zeit später doch zu sterben. Obwohl wir wissen, dass viele von ihnen das | |
| nicht mehr wollen würden, wenn wir ihnen Gelegenheit gäben, sich dazu zu | |
| äußern.“ | |
| Auch an den üblichen Patientenverfügungen lässt Jürgen in der Schmitten | |
| kaum ein gutes Haar. „Ohne qualifizierte Begleitung sind Menschen mit dem | |
| Erstellen einer Patientenverfügung vollständig überfordert – inhaltlich, | |
| aber vor allem auch emotional.“ | |
| Zudem würden in den herkömmlichen Formularen nur hoch spezielle Fälle wie | |
| Wachkoma oder das Schluckvergessen bei Demenz geregelt, „andere relevante | |
| Szenarien werden nicht thematisiert“. Die Vordrucke aus Ministerien, | |
| Ärztekammern oder Kirchen, so sein Vorwurf, seien „von Anfang an so | |
| konzipiert worden, dass sie in der klinischen Praxis nicht funktionieren | |
| sollen. Das ist wie der Hinweis an ein Kind: Du kannst jetzt gern dein | |
| Handy nutzen, aber erst wenn ich das WLAN abgeschaltet habe.“ | |
| Ursula Schütt, die 94-Jährige aus Meerbusch, sagt in der Schmitten, ohne | |
| ärztlich verschwiegen ins Detail zu gehen, sei natürlich nicht mehr so | |
| frisch wie sie wirkt, Herz und Lungen seien labil. „Ich habe heute | |
| wahrgenommen, dass sich ihre Ansichten etwas geändert haben. Unverändert | |
| sagt sie klar: keine Beatmung, keine Wiederbelebung. Aber vor zwei Jahren | |
| wollte sie in einer gesundheitlichen Krisensituation auch auf der | |
| Intensivstation behandelt werden. Diesbezüglich ist sie jetzt ambivalent.“ | |
| ## „Da haben alle geheult“ | |
| Es bleibe schwierig, sagt in der Schmitten, „eine solche Festlegung valide | |
| zu ermitteln“. Und das für die Pflegekräfte unmissverständlich in den | |
| Notfallbogen einzutragen. „ACP bleibt ein lebenslanger Prozess. Aber wir | |
| haben Glück: Frau Schütt kann sich gut artikulieren und sie lebt | |
| privilegiert in dieser guten Einrichtung.“ | |
| Aber: „Auch weniger gebildete Menschen, mit denen ich spreche, können sich | |
| häufig klar festlegen – nicht selten klarer als die Studierten.“ | |
| Der lange Tag in Bochum hat alle ziemlich mitgenommen. Schauspieler Paul | |
| Pape-Senner erzählt nach dem Seminar von seiner Gruppe, in der er den | |
| schwulen Ex-Tänzer Groß gegeben hatte: „Die Rolle hat ein gigantisches | |
| emotionales Potenzial. Bei mir saßen alle mit Taschentüchern in der Hand | |
| und haben ausnahmslos geheult, ich auch. Eine Frau hat gesagt: Was mach ich | |
| da? Ich hab doch noch nie in der Öffentlichkeit geweint!“ | |
| 28 Feb 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Müllender | |
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