# taz.de -- Drohendes Aus für UNRWA-Hilfswerk: Vereinte Hilfeleistung | |
> Dem Palästinenser-Flüchtlingswerk UNRWA droht das Ende der | |
> Hilfszahlungen. Für die Menschen in den Flüchtlingscamps ist das eine | |
> humanitäre Katastrophe. | |
AMMAN, BETHLEHEM UND JERUSALEM taz | Es sieht nicht so aus, aber all das | |
gehört zu Jerusalem“, sagt Ramsi und deutet von seinem Computerladen die | |
Häuserschlucht in Shu’afat hinauf. Oben, am Ende der Straße, ist die acht | |
Meter hohe israelische Sperrmauer zu sehen, die das palästinensische | |
Flüchtlingslager vom Rest der Stadt trennt. „Drüben kümmert sich die Stadt | |
um alles, auf unserer Seite vor allem die UNRWA“, sagt der 46-Jährige mit | |
dem graumelierten Vollbart. Das Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten | |
Nationen betreibe hier die Grundschule und das Gesundheitszentrum, „in dem | |
meine Mutter ihre Blutdruckmedikamente bekommt“, sagt Ramsi. „Die UNO | |
organisiert hier sogar die Müllabfuhr.“ | |
Die [1][Arbeit der UNRWA ist akut bedroht], seit die israelische Regierung | |
Ende Januar mehreren Hilfswerk-Mitarbeitern in Gaza eine Beteiligung an den | |
Massakern der Hamas am 7. Oktober vorgeworfen hat. 18 Geberländer haben | |
ihre Zahlungen eingestellt, darunter die USA, Deutschland und die EU. Rund | |
450 Millionen Dollar wurden eingefroren. | |
Hupend schieben sich die Autos an Ramsis Laden vorbei die Hauptstraße des | |
Lagers hinunter. Es wurde 1965 ursprünglich für rund 500 Familien | |
errichtet. Heute sind auf einer Fläche von weniger als einem | |
Quadratkilometer mehr als 16.000 Menschen bei UNRWA registriert. Die | |
tatsächliche Zahl der Bewohner könnte mehr als doppelt so hoch liegen. | |
Begrenzt von israelischen Siedlungen im Norden und Süden gleicht das Camp | |
einem Dschungel von Hochhäusern mit 15 Stockwerken und mehr, oft ohne | |
Planung und Kontrolle errichtet. Viele der Gassen sind nur wenige Meter | |
breit. | |
Die Palästinensische Autonomiebehörde kommt nicht hierher, weil Shu’afat | |
offiziell auf dem 1967 von Israel besetzten Gebiet von Ostjerusalem liegt. | |
Die Stadtverwaltung stellt lediglich einen Bruchteil der städtischen | |
Dienstleistungen für die Exklave, weil sie außerhalb der israelischen | |
Sperranlage liegt und nur durch einen schwer befestigten Checkpoint zu | |
erreichen ist. „Wenn sie den UN-Leuten jetzt die Arbeit hier verbieten | |
wollen, dann müssen sie einen Ersatz schaffen“, sagt der Verkäufer Ramsi. | |
Bisher ist unklar, wie sehr die UN-Organisation tatsächlich mit der Hamas | |
verstrickt ist. Israel wirft mittlerweile mehr als 30 UNRWA-Angestellten | |
vor, an dem Überfall am 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Unter anderem | |
sollen zwei bei der Entführung von Israelis geholfen haben, zwei weitere | |
hätten sich an Orten befunden, an denen Massaker verübt wurden. Zudem | |
sollen rund 10 Prozent der etwa 13.000 Beschäftigten in Gaza „Verbindungen“ | |
zur Hamas gehabt haben, davon mehr als 200 zu bewaffneten Gruppen. UNRWA | |
hatte die Verträge mit zehn der beschuldigten Mitarbeiter kurz nach | |
Veröffentlichung der Vorwürfe beendet. Die UN haben eine Untersuchung | |
eingeleitet. Das Hilfswerk weist den Vorwurf der Terrorunterstützung | |
zurück. | |
Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge stuft ein | |
US-Geheimdienstpapier die Beteiligung einiger Mitarbeiter an dem Überfall | |
am 7. Oktober als glaubhaft ein. Die Zusammenarbeit einer größeren Zahl von | |
Beschäftigten mit der Hamas sei hingegen nicht verifizierbar, auch weil | |
Israel die zugrunde liegenden Informationen nicht geteilt habe. Das Papier | |
weise laut einer mit dem Bericht vertrauten Quelle zudem darauf hin, dass | |
es aufgrund einer Voreingenommenheit israelischer Sicherheitsbehörden | |
Verzerrungen in der Darstellung der Ereignisse gebe. | |
UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini spricht von einer Kampagne gegen | |
seine Organisation. Das Hilfswerk, das über Gaza und das Westjordanland | |
hinaus auch in Syrien, im Libanon und in Jordanien rund 6 Millionen | |
palästinensische Flüchtlinge versorgt, könne bereits im April aus Geldnot | |
gezwungen sein, die Arbeit einzustellen. | |
Fünf Kilometer südlich von Shu’afat schaltet Boaz Bismuth von der | |
[2][israelischen Regierungspartei Likud] in seinem Parlamentsbüro in der | |
Knesset den Fernseher stumm. Auf dem Bildschirm rennen israelische Soldaten | |
zwischen Ruinen im Gazastreifen von Deckung zu Deckung. „Dass Dutzende | |
Hamas-Leute für die UNRWA arbeiten, sollte schon für eine Auflösung | |
reichen“, sagt Bismuth. „Stattdessen haben unsere Soldaten unter dem | |
UNRWA-Hauptquartier auch noch Tunnelsysteme gefunden.“ | |
UNRWA-Chef Lazzarini sagte in einem Interview mit der israelischen Zeitung | |
Ha’arez vergangene Woche, seine Organisation habe von den Tunneln in 20 | |
Metern Tiefe nichts gewusst. Verdächtige Aktivitäten hat UNRWA in den | |
vergangenen Jahren tatsächlich mehrfach an Israel gemeldet. | |
Bismuth glaubt Lazzarini aber nicht: Sein Gesetzentwurf zum Verbot von | |
UNRWA in Jerusalem hat eine erste vorläufige Lesung im Parlament passiert | |
und liegt nun beim Komitee für Auswärtiges und Verteidigung. | |
Der rechts-nationalistische Politiker war in der Vergangenheit israelischer | |
Botschafter und Chefredakteur der auflagenstärksten Zeitung des Landes, der | |
Likud-nahen Zeitung Israel Hayom. Er weiß, seine Botschaften zu verpacken: | |
„Ich glaube an Frieden, aber wie soll das gehen, wenn ein palästinensisches | |
Kind in einer UNRWA-Schule lernt, dass Terroristen Helden sind?“ Israel | |
solle selbst die Aufgabenbereiche Bildung und Gesundheit in Orten wie | |
Shu’afat übernehmen. Das würde aber auch eine Stärkung der israelischen | |
Souveränität über den 1967 besetzten und 1980 annektierten Ostteil der | |
Stadt bedeuten, der zugleich als die künftige Hauptstadt eines | |
palästinensischen Staates gilt, wenn es denn im Zuge einer | |
Nachkriegsordnung dazu kommen sollte. | |
Das Hilfswerk steht bereits seit Jahren in der Kritik. Vor allem | |
UNRWA-Schulen wurde wiederholt vorgeworfen, in Büchern und durch | |
Lehrpersonal antiisraelische und antisemitische Inhalte zu verbreiten. Zu | |
diesem Ergebnis kommt auch eine Untersuchung des Georg-Eckert-Instituts für | |
Schulbuchforschung im Jahr 2021, wenngleich die Forscher betonten, dass die | |
Bücher nicht unabhängig von der Realität der israelischen Besatzung | |
betrachtet werden könnten. Allerdings ist das Hilfswerk ohnehin nicht dazu | |
befugt, eigene Schulbücher zu verfassen. Es verwende „die Lehrpläne und | |
-bücher der Gastländer und ermöglicht so, dass die Abschlüsse dort | |
anerkannt werden“, schreibt die Nahostexpertin Bente Scheller von der | |
Heinrich-Böll-Stiftung. | |
Würde UNRWA abgeschafft, würde das aber auch einen Verlust internationaler | |
Kontrolle bedeuteten. Ob das zu einer positiveren Einstellung gegenüber | |
Israel in Schulen beitragen würde, ist zumindest fraglich. Ein Beispiel aus | |
Jordanien lässt eher das Gegenteil annehmen: Dort soll der 7. Oktober bald | |
Einzug in die staatlichen Schulbücher der 10. Klasse finden. Zu lesen ist | |
dort, Israel „unterdrücke“ das palästinensische Volk, was die | |
„palästinensische Widerstandsbewegung im Gazastreifen“ veranlasst habe, �… | |
7. Oktober die israelischen Siedlungen um den Streifen zu stürmen und | |
israelische Siedler sowie Soldaten gefangen zu nehmen“. Das wiederum habe | |
„eine gewalttätige Antwort vom israelischen Feind“ ausgelöst. | |
Andere Botschaften spricht Bismuth offen aus. Etwa, dass in seinen Augen | |
mit UNRWA auch das Problem der rund 6 Millionen registrierten | |
palästinensischen Flüchtlinge verschwinde: „Sie geben den Status an ihre | |
Kinder weiter. UNRWA will das Flüchtlingsproblem erhalten und damit den | |
Kampf um die palästinensische Unabhängigkeit“, sagt er. | |
Tatsächlich wird auch bei Geflüchteten aus anderen Staaten der | |
Flüchtlingsstatus innerhalb von Familien weitergegeben, bis eine dauerhafte | |
Lösung gefunden ist. Allerdings: Palästinenser*innen können den | |
UNRWA-Flüchtlingsstatus in dessen Mandatsgebiet auch dann weiter behalten, | |
wenn sie eine andere Staatsbürgerschaft erhalten haben. | |
Joost Hiltermann, Nahost-Programmdirektor beim Thinktank International | |
Crisis Group, bestätigt: Die Weitergabe des Flüchtlingsstatus sei vielmehr | |
durch internationales Recht sowie die Resolutionen der | |
UN-Generalversammlung bestimmt, die allen 1948 vertriebenen Palästinensern | |
und deren Nachkommen den Flüchtlingsstatus zusichern. Mit anderen Worten: | |
Auch ohne die UNWRA geben staatenlose Palästinenser*innen ihren | |
Flüchtlingsstatus an die nachfolgende Generation weiter. | |
„Das ist eine bewährte Strategie der politischen Rechten in Israel“, sagt | |
Daniel Seidemann, der für die Nichtregierungsorganisation Terrestrial | |
Jerusalem den israelischen Siedlungsbau beobachtet. „Sie nennen das | |
Westjordanland nach den biblischen Namen Judäa und Samaria und behaupten | |
dann, dass es nicht besetzt sein kann. Sie löschen die Vertreibung der | |
Palästinenser*innen 1948 aus den Schulbüchern und sagen dann, dass | |
sie so nie passiert sei.“ Ähnlich sieht Seidemann auch die These, dass ein | |
Verbot der UNRWA die palästinensische Flüchtlingsfrage lösen würde. | |
Der Anwalt, der in der Vergangenheit mehrere US-Regierungen seit Präsident | |
Bill Clinton zu Friedensgesprächen beraten hat, schätzt, dass ein Verbot | |
von UNRWA in Jerusalem eine gefährliche Versorgungslücke reißen würde. | |
„Israelische Gerichte haben mehrfach bestätigt, dass die Stadt bereits | |
innerhalb des arabischen Ostjerusalems nicht genügend Schulen baut.“ | |
Insgesamt sind rund 200.000 Palästinenser in der Stadt als Flüchtlinge mit | |
Anspruch auf UNRWA-Leistungen registriert, die Organisation betreibt nach | |
eigenen Angaben zehn Schulen und vier Gesundheitszentren. In Exklaven wie | |
Shu’afat und Kufr Akab hat die Stadt zwar in den vergangenen Jahren mehr | |
investiert, dennoch würden dort ohne UNRWA noch immer kaum öffentlichen | |
Dienstleistungen existieren, sagt Seidemann. „Und niemand, auch nicht | |
Israel, wäre in der Lage, sie in absehbarer Zeit zu ersetzen.“ | |
Das hält den Jerusalemer Vizebürgermeister Arye King nicht davon ab, | |
regelmäßig zu Protesten vor UNRWA-Einrichtungen aufzurufen. Anfang Februar | |
versammelten sich vor dem Hauptquartier des Hilfswerks rund 50 Teilnehmer | |
unter dem Aufruf „Den Feind aus der Stadt entfernen“. Auf ihren Schildern | |
war zu lesen: „UNRWA = Hamas“. Von der Bühne rief King an die Adresse des | |
israelischen Ministers für Nationale Sicherheit: „Ben Gvir mein Freund, | |
komm und mach die UNRWA zu.“ | |
Auch wenn die Teilnehmerzahlen bei den Anti-UNRWA-Demos seither nicht | |
maßgeblich zugenommen haben, die Forderungen genießen in weiten Teilen der | |
jüdisch-israelischen Bevölkerung Unterstützung. Ministerpräsident Benjamin | |
Netanjahu präsentierte vergangene Woche seinen Plan für den Gazastreifen | |
nach dem Krieg. Einer von fünf Punkten: die Auflösung der UNRWA. | |
Lange lehnte das UNRWA-Büro in Jerusalem Presseanfragen ab. Erst gut drei | |
Wochen nach Veröffentlichung der Vorwürfe lud Westjordanland-Direktor Adam | |
Bouloukos vergangenen Dienstag zu einem Besuch im Aida-Flüchtlingslager in | |
Bethlehem ein. Vom Dach des UNRWA-Gesundheitszentrums fällt der Blick auf | |
die mit Graffiti übersäte Sperranlage zu Israel. „We can’t live“, ist d… | |
zu lesen. In den Stockwerken darunter sitzen Dutzende Eltern mit Kindern | |
und warten auf Arzttermine. „Wir sind in einer verzweifelten Lage“, sagt | |
Bouloukos. Das Hilfswerk habe bereits zuvor regelmäßig kurz vor dem | |
Zahlungsausfall gestanden. Nun sei rund die Hälfte der Gelder weggebrochen. | |
Anfeindungen gegen seine Mitarbeiter hätten massiv zugenommen. Zwei | |
Kollegen seien an einem Checkpoint von Soldaten aus ihren Autos gezogen, | |
gefesselt und geschlagen worden. „Einer hat ihnen vorgeworfen, für die | |
Hamas zu arbeiten“, sagt Bouloukos. Auf die Vorwürfe will er unter Verweis | |
auf die laufenden Untersuchungen der UNO nicht eingehen. „Aber ich habe in | |
29 Jahren bei der UNO keinen Einsatzort erlebt, an dem mehr auf Neutralität | |
geachtet wird als hier.“ | |
Andere UN-Organe könnten die Arbeit nicht einfach übernehmen. „Die WHO | |
unterhält keine Gesundheitszentren, die UNICEF betreibt keine Schulen“, | |
sagt Bouloukos. Drastisch seien die Folgen zudem für die humanitäre Hilfe | |
im Gazastreifen. Bereits jetzt würden wegen der großen Not viele Konvois | |
kurz nach Grenzübertritt geplündert. Das wenige, was noch an Verteilung | |
stattfinde, laufe größtenteils über UNRWA, sagt Bouloukos. Und schließlich | |
würden die Kürzungen auch die Arbeit in Syrien oder im Libanon gefährden. | |
„Wenn ich den Krankenpflegern in Bethlehem ihr Gehalt nicht mehr zahlen | |
kann, dann bedeutet das, dass mein Gegenüber in Jordanien dasselbe Problem | |
hat.“ | |
Auf der anderen Seite des Jordans, etwa 70 Kilometer von Bethlehem | |
entfernt, liegt in der jordanischen Hauptstadt Amman das Wihdat Camp. Es | |
ist Mittagszeit und die Kinder strömen aus den Schulen in die engen Gassen | |
des Flüchtlingslagers. Sie kichern und lachen, laufen um die Wette. Einige | |
Jungs spielen noch Fußball auf dem eingezäunten Schulhof zwischen den | |
abgekratzten, vollgeschmierten Gebäuden, die in den vergangenen Jahrzehnten | |
immer weiter in den Himmel gewachsen sind. | |
Das Wihdat Camp ist das zweitärmste palästinensische Flüchtlingslager | |
Jordaniens. Hier leben mindestens 61.800 palästinensische Geflüchtete auf | |
weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche, von ihnen mehr als ein | |
Drittel unter der Armutsgrenze. Knapp 25 Prozent der Frauen und 15 Prozent | |
der Männer im Camp sind nach Angaben des Hilfswerks arbeitslos. | |
Sieben Schulen werden hier von UNRWA betrieben, genauso wie das örtliche | |
Gesundheitszentrum: Im hellblauen Gebäude hängt ein Geruch von | |
Desinfektionsmittel in der Luft. Eine Frau in schwarzem Kopftuch und Mantel | |
kommt auf die Journalisten zu, in einer Hand ihren Ausweis, in der anderen | |
mehrere Rezepte. „Ich komme aus Gaza und bin hier gestrandet“, erzählt sie, | |
sichtlich aufgeregt. „Seit sieben Monaten, ich wollte hier nur meine kranke | |
Mutter besuchen. Ich selbst bin chronisch krank, habe aber kein Geld für | |
Medikamente. Mein Mann und meine Kinder sind in einem Zelt in Rafah. Allah | |
sei dank konnte ich hier Hilfe bekommen“, sagt sie. | |
Von den zehn UNRWA-Flüchtlingscamps in Jordanien hat Wihdat die höchste | |
Anzahl an chronisch erkrankten Menschen. Die meisten Geflüchteten hier, so | |
wie auch die meisten palästinensischen Geflüchteten in Jordanien, besitzen | |
die jordanische Staatsbürgerschaft. Das hat historische Gründe: Das | |
Westjordanland wurde 1950 von Jordanien annektiert und die dort lebenden | |
Palästinenser wenige Jahre später eingebürgert. Nach dem Sechstagekrieg | |
1967 eroberte dann Israel das Gebiet. | |
Gut die Hälfte der Wihdat-Bewohner hat jedoch keine Krankenversicherung. | |
Das Gesundheitszentrum wird von etwa 43.000 Menschen genutzt, im Schnitt 75 | |
Patienten täglich, erklärt Khalil Abu Naqira, Seuchenschutzbeauftragter. | |
Magen-Darm-Erkrankungen und Atemwegsinfekte, aber auch Bluthochdruck und | |
Diabetes seien häufige Besuchsgründe. | |
Das Hilfswerk übernimmt teilweise die Kosten für Krankenhausbesuche in | |
jordanischen Kliniken und führt selbst jährlich im ganzen Land 1,6 | |
Millionen medizinische Beratungen durch. In Jordanien unterhält UNRWA 25 | |
Gesundheitszentren und 161 Schulen. Die UN-Agentur ist mit 7.000 | |
Mitarbeitenden nach eigenen Angaben einer der größten Arbeitgeber im | |
Königreich. | |
Berufsausbildungen gehören ebenso zu den Dienstleistungen. Auf dem Hof der | |
Mädchenschule in Wihdat haben sich ein Dutzend Männer und Frauen | |
versammelt. So wie Salam Qandil, hellblaues Kopftuch und selbstbewusstes | |
Auftreten. Sie erzählt, ihre Schwester habe eine Hörschädigung, ihr Vater | |
sei gestorben und es sei an ihr gewesen, die Familie zu ernähren. | |
Inzwischen hat Salam eine abgeschlossene Ausbildung als Kosmetikerin und | |
einen eigenen Salon. | |
Oder die 40-jährige Iman, blumiges Kopftuch, wortgewandt. Sie ist im Camp | |
aufgewachsen, unter „schwierigen Bedingungen“. Nach der Schule wollte sie | |
studieren, Kunst am liebsten, das Geld habe aber nicht gereicht. Jetzt | |
lehrt sie Arabisch an ihrer alten Grundschule. „Das verdanke ich UNRWA“, | |
sagt sie. Das Dutzend Männer und Frauen sind nicht zufällig hier: Sie | |
kennen die aktuelle Debatte um die UN-Agentur und wollen für ihr | |
Weiterbestehen plädieren. Das Hilfswerk hat den Besuch organisiert. Denn | |
laut Olaf Becker, UNRWA-Direktor in Jordanien, könnte das Einfrieren der | |
Hilfsgelder hier bereits ab März die Dienstleistungen gefährden. Wo genau | |
im Ernstfall gekürzt werden würde, ist noch unklar. | |
Etwa 2,4 Millionen registrierte palästinensische Geflüchtete leben in | |
Jordanien. Das Land hat insgesamt 11,5 Millionen Einwohner und die | |
zweithöchste Anzahl Geflüchteter pro Kopf weltweit. Syrer, Iraker, | |
Jemeniten – aus jedem Krisenherd der Region suchen Menschen hier Zuflucht. | |
Dabei hat das Königreich schon an sich mit Problemen zu kämpfen: einer | |
Arbeitslosenquote von 22 Prozent, 46 Prozent sind es unter jungen | |
Erwachsenen. Die Staatsverschuldung beträgt fast 46 Milliarden US-Dollar. | |
König Abdullah II. sagte kürzlich, die Arbeit der Agentur sei | |
lebenswichtig. | |
Laut Nahostexperte Hiltermann könnte Jordanien theoretisch in der Lage | |
sein, palästinensische Geflüchtete zu versorgen. Allerdings: Würde UNRWA | |
kollabieren, käme eine schwierige Aufgabe auf die jordanische Gesellschaft | |
zu. Die größten Probleme sei indes politischer und demografischer Natur: | |
Laut Schätzungen hat über die Hälfte der Jordanier palästinensische | |
Wurzeln. Die Balance zwischen ihnen und den ursprünglichen Stämmen war | |
schon immer heikel. Jordanien könnte den Kollaps von UNRWA und die | |
vollständige Integration der Palästinenser in der Gesellschaft als „eine | |
Bedrohung seines politischen Systems oder sogar als eine existenzielle | |
Bedrohung ansehen“, glaubt Hiltermann. | |
Dies war in dem Königreich schon immer ein delikates Thema. Konservative | |
israelische Politiker haben oft vorgeschlagen, Jordanien könne als | |
alternative Heimat für Palästinenser dienen. Die meisten palästinensischen | |
Geflüchteten sind inzwischen Jordanier, doch nicht alle. Vor allem die | |
sogenannten Ex-Gazaner, die nach 1967 aus dem Gazastreifen geflohen sind, | |
bleiben heute noch größtenteils staatenlos. Knapp 30.000 von ihnen leben im | |
Jerash Camp. | |
Etwa 40 Kilometer nördlich von Amman gelegen, ist das Jerash Camp das | |
ärmste unter den palästinensischen Flüchtlingslagern. Etwas mehr als die | |
Hälfte seiner Bewohner lebt laut UNRWA unter der Armutsgrenze, 88 Prozent | |
haben keine Krankenversicherung. Für sie ist einiges teurer als für | |
jordanische Staatsbürger: Universitätsgebühren, medizinische Ausgaben, | |
sogar die Ausstellung ihrer temporären Ausweise. Sie sind eingeschränkt in | |
ihrer Berufswahl, beim Kauf von Grundstücken oder Autos. Aber vor allem: | |
Sie sind Ausländer in dem einzigen Land, das sie kennen. Denn ihnen wird | |
die jordanische Staatsangehörigkeit in der Regel heute noch verwehrt. | |
So wie Shaima Sallam. Als die taz Shaima vor anderthalb Jahren das erste | |
Mal getroffen hat, hatte sie ein Mittagessen im Innenhof ihres Hauses im | |
Jerash Camp vorbereitet. Kofta bil Tahini, Fleischbällchen mit Reis in | |
Sesam-Sauce, eine in Jordanien sowie Palästina beliebte Speise. | |
Shaima hatte gerade ihr Englischstudium an einer jordanischen Universität | |
abgeschlossen. Dass sie es geschafft hat, eine staatenlose Geflüchtete aus | |
dem ärmsten palästinensischen Flüchtlingslager Jordaniens, ist nicht | |
selbstverständlich. Ihr Vater, Bauer von Beruf, hat sich stets für die | |
Ausbildung seiner Töchter starkgemacht, doch das allein hätte nicht | |
gereicht. Ihr Studium hat Shaima auch dank der privaten Hilfe einer ihrer | |
ehemaligen Lehrerinnen aus der UNRWA-Schule finanziert. | |
## Shaimas Land gibt es offiziell nicht | |
Shaima ist ein Paradebeispiel für das gute Gelingen der Bildungsprogramme | |
in den Flüchtlingscamps. Und doch betrachtet sie westliche NGOs und UNRWA | |
kritisch. „Weil sie mich daran erinnern, dass wir Geflüchtete sind“, sagt | |
die heute 25-Jährige. Sie mag es nicht, wenn Menschen sie fragen, welchem | |
Land sie sich zugehörig fühle. Sie ist Palästinenserin, doch ihr Land gibt | |
es offiziell nicht. Sie lebt in Jordanien, gilt aber nicht als Jordanierin. | |
Damals, vor eineinhalb Jahren, die Reporterin ist unterwegs mit Shaima | |
Sallam im Camp: Im Schatten der Häuserwände, vor einem Gebäude aus | |
bröckelnden Mauern und Wellblechdach, sitzt eine ältere Frau auf einem | |
Holzstuhl, ihr Gesicht von einem schwarzen Schleier umrandet, einen | |
knorrigen Holzstock in der Hand. „Ist sie von UNRWA?“, fragt sie Shaima, | |
die sie begleitende Journalistin meinend. Als Shaima verneint, sagt sie: | |
„Ich muss das Dach von meinem Haus renovieren lassen.“ Sie habe gehört, man | |
bekomme dafür Hilfe. Das Haus ist zugleich ein Gemüseladen, hinter der | |
eingerosteten Tür, vor den Wänden, in die sich die Feuchtigkeit | |
eingefressen hat, stapeln sich Zucchini, Blumenkohl und Zwiebeln. Die | |
ältere Frau beschwert sich, das Geschäft laufe nicht so gut. | |
Einige Dutzend Meter weiter, am Rande des Camps, liegen auf einem Abhang | |
unzählige Plastiktüten, leere Flaschen, verrottende Trainingsschuhe, eine | |
verwesende Katze. Ein Gestank von Abfall und Tod schwebt über der | |
Müllhalde. Shaima wandert durch diese Ruinen mit leichtem Schritt, schaut | |
vorsichtig auf die Stelle, auf der sie ihren Mokassin absetzt, zieht den | |
Rock ihres langen Kleids ein paar Zentimeter hoch. | |
Im Camp kümmert sich UNRWA um die Müllabfuhr, doch hier, in diesem | |
Grenzgebiet, fühlt sich offenbar niemand dafür zuständig. Eineinhalb Jahre | |
später, im Nachhinein, wirken diese erinnerten Szenen wie ein Vorgeschmack | |
auf das, was passieren könnte, würde die UN-Agentur von heute auf morgen | |
ihre Arbeit einstellen. | |
Sicher ist, dass derzeit Hunderttausende Menschen in der Region von UNRWA | |
abhängen. Für staatenlose Gazaner ist das Hilfswerk ein potenzieller | |
Arbeitgeber und Leistungserbringer. Auch Shaima sagt: „Schon jetzt haben | |
manche Menschen im Camp im Winter Schwierigkeiten, genug Essen zu finden. | |
Einige bekommen Geld von UNRWA. Sollte die Finanzierung stoppen, könnte es | |
einen Aufstand geben.“ In den staubigen Gassen des Jerash Camps fasst eine | |
Frau es so zusammen: „Wenn UNRWA endet, sind wir verloren.“ | |
29 Feb 2024 | |
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