# taz.de -- Historiker Snyder über Ukraine-Krieg: „Russland ist am Limit, wi… | |
> Die Lage der Ukraine ist schwierig, aber das Land könne gewinnen, sagt | |
> der Historiker Timothy Snyder. Das hänge von der Unterstützung des | |
> Westens ab. | |
Bild: Eine Straßenszene mit patriotischem Graffiti in Odessa | |
Timothy Snyder zählt zu den wichtigsten US-Intellektuellen. Der britische | |
Guardian nannte ihn kürzlich [1][„den führenden Interpreten unserer dunklen | |
Zeiten“]. Auf Einladung der American Academy ist er für zwei Tage in | |
Berlin. Am Vorabend hat er [2][eine Vorlesung über ukrainische Geschichte | |
als Teil der Weltgeschichte] gehalten, jetzt sitzt er an einem langen | |
Holztisch in der Bibliothek der American Academy. Der Blick geht durch die | |
Fenster auf den Wannsee. | |
wochentaz: Herr Snyder, die Situation in der Ukraine ist düster. Die | |
militärische Lage ist extrem schwierig, viele Menschen sind vom | |
Kriegsalltag zermürbt. Sind Sie noch zuversichtlich, dass die Ukraine den | |
Krieg gewinnen kann? | |
Timothy Snyder: Ganz sicher kann die Ukraine gewinnen. Das Problem sind | |
nicht die Ukrainer, das Problem sind wir – Europa und Nordamerika. Wir | |
verfügen zweifellos über die wirtschaftliche und industrielle Basis, um | |
diesen Krieg zu entscheiden. Wir ziehen es aber vor, sie nur sehr langsam | |
oder gar nicht einzusetzen. Darum muss die Ukraine jetzt ihre Munition | |
stark rationieren. Und was die Stimmung betrifft: Auch da sind wir das | |
größere Problem. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich denke da vor allem an uns Amerikaner. Wir reden uns ein, dass dieser | |
Krieg ewig weitergehen wird. Und Russland ihn auf jeden Fall gewinnen wird. | |
Die Russen sind sich sehr bewusst, dass Washington psychologisch | |
verwundbarer ist als Kyjiw, und sie versuchen, diese Schwachstelle zu | |
bearbeiten. Insofern: Ja, die Stimmung in der Ukraine ist zurzeit düster, | |
aber aus objektiven Gründen. Diese können geändert werden – durch die | |
Lieferung von mehr Waffen und anderer Unterstützung. | |
Die ukrainische Gegenoffensive hat nicht die Erfolge gebracht, die viele | |
sich erhofften. Der Streit zwischen Präsident Selenskyj und | |
Oberbefehlshaber Saluschnyi endete mit dessen Absetzung. Die Ukraine hat zu | |
wenige neue Soldaten. | |
Es gibt aber eine Geschichte, über die westliche Medien nur wenig berichten | |
– dass es der Ukraine gelungen ist, [3][die russische Marine aus dem | |
westlichen Teil des Schwarzen Meers zu vertreiben]. Das hatte wirklich | |
niemand erwartet. Damit hatte der Westen nicht so viel zu tun. Da wir es | |
nicht für uns in Anspruch nehmen können, reden wir aber auch nicht so viel | |
darüber. | |
Wir übersehen die Erfolge? | |
Es ist jedenfalls militärisch ein großer Erfolg. Wenn Russland das Schwarze | |
Meer noch kontrollieren würde, würden wir nun große Geschichten darüber | |
lesen, wie es Länder im Nahen Osten und in Afrika mit Hunger erpresst. Aber | |
weil Russland das Schwarze Meer nicht kontrolliert, halten wir es plötzlich | |
für selbstverständlich, dass die Ukraine ihr Getreide exportieren kann. | |
Getreide, von dem hunderte Millionen Menschen abhängig sind. | |
Sie haben viele Kontakte in der Ukraine, sind oft dort. Was ist zurzeit die | |
größte Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft? | |
Die Trennungen der Familien, würde ich sagen. Viele Frauen und Kinder sind | |
in EU-Länder geflüchtet, während die Männer meist geblieben sind. Und | |
Mobilisierung ist so ein abstraktes Wort. Ich kenne mehrere Männer, die | |
jetzt an die Front gehen. Für sie und ihre Familien ist das extrem | |
schwierig, es macht ihnen Angst. Auch das Fehlen von genügend Flugabwehr | |
und Artilleriemunition hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der | |
Menschen, das ist keine militärische Abstraktion. Wenn die Ukrainer nicht | |
genug Artillerie haben und die Russen einen Durchbruch erzielen, bedeutet | |
das, dass mehr Ukrainer unter russischer Besatzung leben müssen. Das | |
bedeutet mehr Morde, mehr Vergewaltigungen, mehr Entführungen von Kindern, | |
mehr Folter. Für Ukrainer gibt es in diesem Krieg keinen Unterschied | |
zwischen einer militärischen Lage und einer sozialen Erfahrung. Es läuft | |
auf das Gleiche hinaus. | |
Was würde es bedeuten, wenn Russland den Krieg gewänne? | |
Das russische Kriegsziel ist die Zerstörung der ukrainischen Gesellschaft. | |
Ein Sieg Russlands würde bedeuten, dass es eine europäische Nation weniger | |
geben würde – und die anderen Europäer müssten damit leben. Alle, die | |
glauben, dass die Demokratie scheitern muss, würden durch einen Sieg | |
Russlands gestärkt. Wenn Chinesen oder Saudis diesen Krieg betrachten, | |
gehen sie davon aus, dass es keinen Grund gibt, warum der Westen ihn | |
verlieren sollte. Wenn der Westen der Ukraine nicht zum Sieg verhelfen | |
kann, werden Diktatoren daraus schließen, dass die Demokratie schwach ist. | |
Das wird Kriege künftig wahrscheinlicher machen. | |
Wladimir Putin hat [4][Russland auf eine Kriegswirtschaft umgestellt] und | |
sich auf einen langen Abnutzungskrieg eingestellt. Sind Demokratien im | |
Nachteil, weil sie ihre Wirtschaft nicht so leicht auf ein Ziel ausrichten | |
können und die Politik immer die nächste Wahl im Blick hat? | |
Ich glaube nicht, dass Putins Zeithorizont so viel langfristiger ist. Er | |
versucht im Moment bis zum Januar 2025 zu kommen und hofft, dass Donald | |
Trump dann wieder ins Weiße Haus einzieht. Wir nehmen immer an: Wenn die | |
Ukraine leidet, dann muss es Russland gut gehen. Das ist ein Trugschluss. | |
Russland hat Probleme mit der Mobilisierung. Ein großer Teil des russischen | |
Bruttoinlandsprodukts ist für den Krieg gebunden. Putin mobilisiert die | |
Wirtschaft in einem Maße für den Krieg, die gefährlich für die russische | |
Wirtschaft ist. Russland ist da am Limit, wir sind es nicht. | |
Wenn Sie sich den US-Wahlkampf anschauen, was erwarten Sie von diesem Jahr? | |
Es ist sehr schmerzhaft, das zu beobachten. Donald Trump droht offen mit | |
dem Abriss der US-Demokratie. Er hat angekündigt, er werde am ersten Tag | |
seiner Präsidentschaft das Aufstandsgesetz anwenden, um die Armee gegen | |
seine Gegner einzusetzen. Ich denke aber, Biden wird gewinnen. Er ist der | |
Amtsinhaber, der Wirtschaft geht es gut und Trumps juristische Probleme | |
werden sich in den nächsten Monaten noch zuspitzen. Es herrscht aber gerade | |
eine seltsame Stimmung: Viele Leute haben Biden gewählt, weil sie | |
Normalität wollten. Jetzt, wo sie Normalität haben, sind sie davon ein | |
wenig gelangweilt. Das macht Trump auf eine bizarre Weise attraktiv. Auch | |
für die Medien. Die US-Presse ist gerade dabei, viele Fehler von 2016 zu | |
wiederholen. | |
In Europa gibt es viele Diskussionen, ob man sich schon auf das Schlimmste | |
vorbereiten sollte, auf Trumps Rückkehr. | |
Ich bin schon lange der Meinung, dass Europa in Sicherheitsfragen | |
unabhängiger von den USA werden sollte. In diesem Jahr muss es das | |
europäische Ziel sein, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert. In den | |
nächsten zwei, drei Jahren sollte es das Ziel sein, ihr zum Sieg zu | |
verhelfen. Unabhängig davon, was die Amerikaner tun, denn wir Amerikaner | |
sind zurzeit einfach unberechenbar. Wenn im November Trump gewinnen sollte, | |
hätten die Europäer zumindest schon ein knappes Jahr Übung darin, | |
Verantwortung für die Ukraine zu übernehmen. | |
Nach dem 24. Februar 2022 haben Sie Deutschland [5][scharf dafür | |
kritisiert, dass es so lang versucht hatte, eine besondere Beziehung zu | |
Russland zu pflegen]. Deutschland habe seine Vergangenheit mit Blick auf | |
die Ukraine und den Zweiten Weltkrieg nicht richtig aufgearbeitet. Hat sich | |
diesbezüglich etwas verändert? | |
Das Beste am öffentlichen Leben in Deutschland ist, dass es ernsthafte | |
Debatten gibt und Menschen ihre Meinungen überprüfen und mitunter auch | |
ändern. Ich habe den Eindruck, dass die Debatte in die richtige Richtung | |
geht. Als ich 2017 eine Rede vor dem Bundestag gehalten habe, habe ich | |
betont, dass Deutschland gerade wegen des Zweiten Weltkriegs eine besondere | |
Verantwortung gegenüber der Ukraine hat. Viele Deutsche haben vor dem 24. | |
Februar 2022 kaum darüber nachgedacht. Das hat sich geändert. | |
Sie nennen Russland ein faschistisches Land. [6][Andere Historiker | |
widersprechen.] Es gebe keine Massenbewegung, die frenetisch einen Führer | |
trägt. Die meisten Russen würden sich einfach nur bedeckt halten. | |
Vor dem großen Angriffskrieg war ich mit der Formulierung noch vorsichtig. | |
Ich habe von den Zügen einer faschistischen Ideologie gesprochen. Es gibt | |
in der russischen Öffentlichkeit wichtige Stimmen, die eindeutig | |
faschistisch sind. Putin selbst zitiert immer wieder Iwan Iljin, einen | |
klassischen christlichen Faschisten. In der Tat fehlte das Moment der | |
Massenmobilisierung. Wie sich das mit dem Krieg verändert hat, ist schwer | |
zu sagen. | |
Dafür wissen wir zu wenig, was im Land vorgeht. Aber es gibt eigentlich nur | |
eine Partei, einen Führerkult, ein Propagandamonopol und eine Tendenz, die | |
Welt im Sinne einer Verschwörung zu interpretieren. Der Krieg selbst ist | |
auch ein Indiz. Es geht darum, eine andere Gesellschaft zu zerstören. Putin | |
will außerdem zeigen, dass das internationale Rechtssystem nur eine Farce | |
ist und es letztlich nur um Macht geht. | |
Geschichte ist in diesem Krieg zu einem politischen Schlachtfeld geworden. | |
Putin bezieht sich auf historische Ereignisse, um den Überfall zu | |
legitimieren. | |
Was Putin betreibt, ist keine Geschichtsschreibung. Es ist | |
Erinnerungspolitik. Putins Sicht lässt sich so zusammenfassen: Wir Russen | |
waren schon immer hier. Wir sind unschuldig. Die Schuld liegt bei den | |
Anderen. Deshalb gilt: Egal, was wir tun, ihr könnt uns nicht kritisieren. | |
Wir allein können bestimmen, wo unsere Grenzen sind. Es ist bemerkenswert, | |
wie die Ukrainer darauf reagiert haben. Sie haben nicht gesagt: Na ja, aber | |
wir waren doch zuerst hier. Sie haben gesagt: Wir sind eine komplizierte | |
Gesellschaft und kommen von überall her. Aber für uns geht es in diesem | |
Krieg nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft, über die wir | |
selber entscheiden wollen. | |
24 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theguardian.com/world/2023/mar/30/how-timothy-snyder-became-the… | |
[2] /Historiker-Timothy-Snyder-in-Berlin/!5990160 | |
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5989136 | |
[4] /Wirtschaftssanktionen-gegen-Russland/!5989382 | |
[5] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-warum-faellt-es-deutschland-so… | |
[6] /Historiker-ueber-Putins-Ukraine-Krieg/!5861372 | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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