# taz.de -- Weg zum Medizinstudium: Land macht Ärztin | |
> Lara Engelke ist über Niedersachsens Landarztprogramm ins Medizinstudium | |
> gekommen. Abitur hatte sie keines, aber Berufserfahrung als | |
> Krankenschwester. | |
Bild: In ihrer Familie konnte sich niemand vorstellen, dass sie Medizin studier… | |
HANNOVER taz | Dass Lara Engelke einmal Medizin studieren würde, hätte sich | |
niemand in ihrer Familie jemals vorstellen können. Der Vater führt einen | |
Forstbetrieb, in dem auch ihr älterer Bruder arbeitet, ihre Mutter ist | |
Verkäuferin beim Bäcker. | |
Unter acht Cousinen und Cousins ist sie die Einzige, die studiert. Und Lara | |
Engelke hat noch nicht einmal Abitur. Dennoch ist sie seit dem | |
Wintersemester an der medizinischen Hochschule Hannover eingeschrieben, als | |
eine von 60 Studierenden im Landarzt-Programm des Landes Niedersachsen an | |
den Universitäten Oldenburg, Göttingen und Hannover. | |
Die Studierenden haben ihren Studienplatz nicht aufgrund ihrer Abiturnote | |
bekommen, sondern haben ein zweistufiges Auswahlverfahren bestanden. Und | |
sie haben sich verpflichtet, nach Abschluss ihrer Ausbildung zehn Jahre als | |
[1][Hausärztin in einer besonders unterversorgten Region] tätig zu sein. | |
Wer dagegen verstößt, muss eine Vertragsstrafe von 250.000 Euro zahlen. | |
Deshalb sitzt die 27-Jährige jetzt an einem Freitagmittag Anfang Februar im | |
ersten Stock des „J2“, dem „vorklinischen Lehrgebäude“ auf dem Campus … | |
[2][Universitätsklinik im Osten Hannovers] und erzählt von ihrem Weg ins | |
Studium. Wir sitzen in einem hellen Gang des Betonbaus aus den späten | |
60er-Jahren, Fenster zu beiden Seiten, ein paar Meter weiter steht eine | |
Vitrine, in der präparierte Körperteile in Formaldehyd ausgestellt sind. | |
Lara Engelke hat bereits zwei Stunden Vorlesung Physiologie hinter sich. | |
Alles an ihr wirkt ruhig, freundlich und entspannt, sie hört aufmerksam zu, | |
ihre Antworten klingen sowohl spontan als auch überlegt. Sie hat Lust auf | |
dieses Gespräch, möchte anderen Mut machen und ein kleines bisschen freut | |
sie sich auf die Reaktion ehemaliger Lehrer:innen, die ihr gesagt hatten: | |
„Das schaffst du nie.“ | |
Eine „grottenschlechte“ Schülerin sei sie gewesen, sagt sie über sich | |
selbst. Zum einen hätten sich die Lehrkräfte nicht bemüht, ihr Interesse zu | |
wecken. „Die hatten mich als faul abgestempelt.“ Zum anderen sei sie in | |
ihrem Hobby Reiten aufgegangen, noch immer hat sie ein eigenes Pferd. „Das | |
war mir wichtiger.“ Deshalb war sie auch froh, dass ihre Eltern dem Rat der | |
Grundschule gefolgt waren und sie an der Realschule im Speckgürtel der | |
niedersächsischen Landeshauptstadt angemeldet hatten. „Meine Freundinnen | |
auf dem Gymnasium haben mich beneidet, dass ich nicht so viel lernen | |
musste.“ | |
Während eines Schulpraktikums im Krankenhaus in der zehnten Klasse fasste | |
sie den Entschluss, nach der Schule eine Ausbildung als Krankenpflegerin zu | |
machen. Damals keimte das erste Mal der Gedanke Ärztin zu werden, aber das | |
schien ihr so weit weg, dass sie die Wette mit einem Schulkameraden um | |
einen Kasten Bier für verloren hielt. | |
Nach der Ausbildung wurde sie von der Klinik in Hannover übernommen, sie | |
durfte gleich danach auf der Intensivstation arbeiten – als Ausnahme. Dabei | |
sei sie wohl den Ärzt:innen aufgefallen. Ihre Kolleg:innen redeten ihr | |
zu, das Abitur nachzuholen und Medizin zu studieren. „Ich bin immer total | |
gerne mit auf Visite gegangen und habe viel gefragt.“ Ihre Wissbegier war | |
geweckt und sie merkte: Sie will lieber die Aufgaben der Ärzt:innen | |
erledigen, nicht nur pflegen. | |
2019 begann sie ihre dreijährige Online-Abiturvorbereitung auf dem | |
Abendgymnasium und arbeitete nebenher 80 Prozent im Krankenhaus. „Es lief | |
erst sehr gut“, erzählt sie. Sie hatte sich einen Zeitplan mit vielen | |
Nachtdiensten zusammengestellt, und am Abend und an drei Wochentagen ging | |
sie zur Schule beziehungsweise lernte dafür. Doch [3][dann grätschte Corona | |
dazwischen] und sie wurde mehr auf der Station gebraucht. Aufgrund einer | |
Notfallklausel musste sie mehr Dienste machen, aber sie hatte auch das | |
Gefühl nicht fehlen zu dürfen. „Ich wollte Medizin studieren, um Menschen | |
zu helfen – da konnte ich nicht zu Hause bleiben in dieser Zeit.“ | |
Lernen konnte sie nicht mehr, ging am Ende unvorbereitet nach Nachtdiensten | |
in Abiturprüfungen, war völlig ausgepowert. Dass sie das Abi nicht bestand | |
und auch keine Chance hatte, in Nachprüfungen etwas wett zu machen, sei | |
dennoch „ein Schock“ gewesen. „Mein Traum war geplatzt.“ | |
Einen Tag später habe sie sich allerdings wieder berappelt und geguckt, wie | |
sie doch noch Medizin studieren kann. Es gab genau zwei Möglichkeiten. Die | |
Bundeswehr kam nicht in Frage, hier hätte sie noch weniger selbst | |
entscheiden können und sich viel länger festlegen müssen. Dass einige | |
Bundesländer Landarzt-Programme anbieten, wusste sie, in Niedersachsen war | |
es in dieser Form noch neu, sie gehört zum ersten Jahrgang. | |
Im März läuft das nächste Bewerbungsverfahren, mit einigen Klicks landet | |
man mittlerweile auf einer Seite, die umfassende Informationen bereit hält. | |
Vor einem Jahr war das noch anders, erzählt Lara Engelke. Vor allem gab es | |
keine Telefonnummer von jemandem, den oder die man hätte fragen können. | |
„Ich telefoniere lieber als Mails zu schreiben“, sagt sie. | |
Schließlich hatte sie im Sommer 2022 bei der Kassenärztlichen Vereinigung | |
in Niedersachsen, die in das Verfahren mit eingebunden ist, jemanden an der | |
Strippe. Und schämte sich, erinnert sie sich. „Ich dachte, die lachen mich | |
aus.“ Doch der Mitarbeiter habe sie ermutigt, sie sich einige Monate später | |
beworben und dann am 28. Juli 2023 die Zusage erhalten. 300 hatten sich | |
beworben, 120 waren zur Auswahlprüfung eingeladen worden, dafür | |
entscheidend waren Berufserfahrung, Noten und das Ergebnis eines Tests für | |
medizinische Studiengänge. | |
Bei der Auswahlprüfung – am 2. Juni, auch dieses Datum hat sie sofort parat | |
– waren ihre Fachkenntnisse geprüft worden sowie ihre kommunikativen | |
Fähigkeiten. So musste sie mit einer von einer Schauspielerin verkörperten | |
Frau mit Laktoseintoleranz umgehen: „Die hat ohne Punkt und Komma | |
geredet.“ Und ein fiktives Angehörigengespräch führen. „Da hat mir meine | |
Erfahrung in der Klinik sehr geholfen.“ | |
In der arbeitet sie neben dem Studium jetzt immer noch, aber nur 20 Stunden | |
im Monat. Ihr Leben unterscheide sich sehr von dem ihrer jüngeren | |
Kommiliton:innen, sagt sie, aber sie treffe sich viel mit einer Gruppe | |
älterer Frauen, einige sind wie sie im Landarzt-Programm, darunter eine | |
40-jährige ehemalige Bankangestellte. Mit diesen lerne sie auch zusammen, | |
lerne überhaupt erst einmal lernen. | |
## Professionelles Coaching | |
Die ersten schriftlichen Prüfungen habe sie so bestanden, in den mündlichen | |
sei sie noch sehr nervös, Reaktionen der Prüfer:innen brächten sie | |
schnell durcheinander. Die Angst, es wieder nicht zu schaffen, sei anfangs | |
so groß gewesen, dass sie professionelles Coaching genommen habe. | |
18 der 320 Studierenden im jetzt zweiten Semester Humanmedizin an der | |
Medizinischen Hochschule Hannover wurden wie Lara Engelke über die | |
Landarztquote aufgenommen. Sie kenne nicht alle, sagt sie. Dass auf sie | |
herabgeschaut würde als Studierende zweiter Klasse, habe sie so nicht | |
wahrgenommen. Auch nicht, dass angehende Hausärzt:innen ein schlechteres | |
Ansehen hätten als Fachärzt:innen. Davon habe sie gehört, verstehe es aber | |
nicht. „Sie sind doch genau so hoch qualifiziert und total wichtig in der | |
Versorgung.“ | |
Sorge, dass sie sich langweilen könnte als Hausärztin, habe sie nicht. | |
Dafür sei die Tätigkeit zu vielfältig. Und: man könne ja immer weiter | |
lernen. Lara Engelke denkt schon an spätere Fortbildungen in | |
Palliativmedizin. | |
22 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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