| # taz.de -- Rhythmische Sportgymnastik: Die weiblichste aller Sportarten | |
| > Die Disziplin ist die einzige olympische Sportart nur für Frauen und | |
| > Mädchen. Schönheit spielt auf der Matte eine zentrale Rolle. | |
| Bild: Die Gymnastin Darja Varfolomeev im Finale der Deutschen Meisterschaften 2… | |
| Berlin taz | Welch ein Szenario: Eine Sportart, in der nur Frauen | |
| mitmachen, in der Frauen das Regelwerk bestimmen, Frauen die wichtigen | |
| Trainerinnenjobs der Welt besetzen und Frauen entscheiden, wer gewinnt. | |
| Wäre das nicht eine Spielwiese für emanzipierte Körperbilder und weibliche | |
| Selbstbestimmung fernab patriarchaler Machtstrukturen? | |
| Nun, die Sportart gibt es: Sie heißt Rhythmische Sportgymnastik (RSG) und | |
| ist diesen Sommer bei den Olympischen Spielen die einzige Disziplin, die | |
| dem weiblichen Geschlecht vorbehalten ist. In etwa so sieht das Ganze aus: | |
| Gymnastinnen betreten in glitzernden, eng anliegenden Anzügen den | |
| beigefarbenen Teppich. Alle lächeln, fast alle mit rot angemalten Lippen. | |
| Alle tragen ihr Haar in einem strengen Dutt mitten auf dem Kopf. Ihre Küren | |
| dauern anderthalb Minuten, dazu läuft Musik. | |
| Sie werfen Bälle, Reifen oder Keulen hoch in die Luft, schlagen Kapriolen | |
| und fangen die Geräte auf wundersame Art wieder auf. Die Mädchen und sehr | |
| jungen Frauen drehen sich bis zu achtmal auf einem Bein um die eigene | |
| Achse, wobei das andere Bein am Ohr anliegt, als gehöre es nicht zu ihnen. | |
| Kampfrichterinnen vergeben Noten für Schwierigkeit, Ausführung und Artistik | |
| und küren aller Wahrscheinlichkeit nach die Deutsche Darja Varfolomeev zur | |
| Olympiasiegerin. Es wird von der „weiblichsten aller Sportarten“ die Rede | |
| sein. | |
| ## Perfektion, Anmut und Leichtigkeit | |
| „Ich verstehe, was die Leute meinen: Es ist eine sehr ästhetische Sportart. | |
| Die Gymnastinnen sehen schön aus, weil sie sich schön herrichten. Dann | |
| haben sie noch schöne Anzüge an und zeigen im Wettkampf Perfektion, Anmut | |
| und Leichtigkeit – so kommen all diese Ideale zusammen.“ Marlene Kriebel, | |
| 25, kennt sich aus in der RSG: Als Vierjährige folgte sie ihrer Schwester | |
| in die Sportart, mit 14 wurde sie Jugendmeisterin, trainierte an einem | |
| Bundesstützpunkt, gewann etliche Medaillen bei Deutschen Meisterschaften. | |
| Aktuell ist sie Kapitänin der besten deutschen Gruppe vom TV Dahn aus | |
| Rheinland-Pfalz, sie tritt in der Bundesliga an und arbeitet als | |
| Landestrainerin in ihrem Verein. | |
| Kriebel weiß, wie viele harte Trainingsstunden es braucht, um eine Übung im | |
| Wettkampf leicht aussehen zu lassen: „Viele Leute unterschätzen das, weil | |
| man im Wettkampf immer nur das Perfekte sieht.“ Hauptberuflich arbeitet sie | |
| als Qualifizierungsingenieurin in der Pharmabranche. Durch den Sport, mit | |
| dem in Deutschland kein Geld zu verdienen ist, habe sie sich positive | |
| Eigenschaften angeeignet: „Disziplin, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit“. | |
| Die Schminke und der perfekte Dutt gehören auch für Kriebel einfach dazu: | |
| „Wenn ich mich für einen Wettkampf schminke, dann möchte ich mich auch | |
| wohlfühlen und schön machen.“ Was das auch im Kinderbereich verbreitete | |
| Schminken betrifft, frage sie sich schon manchmal: Muss das jetzt sein? | |
| Kriebel beobachtet, dass es meist die eigenen Eltern sind, die ihre Kinder | |
| vor dem Wettkampf schminken. In ihrem Verein achte man aber auf | |
| „Altersgerechtheit“: Für kleine Mädchen gebe es höchstens „ein bisschen | |
| Glitzer im Gesicht“, keine knallroten Lippen. | |
| ## Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion | |
| Laut Reglement gibt es weder für extravagante Anzüge noch für rote Lippen | |
| oder Haarstyling Punkte. „Die Frisur muss sauber und fest sein“, so der | |
| einzige diesbezügliche Satz im Reglement. Und doch: Kurze Haare? Undenkbar. | |
| Ein Stirnpony? Nie gesehen. Die maximale Abweichung vom Ideal: ein | |
| Pferdeschwanz. Kriebel sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine | |
| Gymnastin sagt: Ich schneid’ mir jetzt die Haare kurz, weil ich rebellisch | |
| unterwegs bin.“ Sie selbst trägt sie nach der Wettkampfsaison gern etwas | |
| kürzer. | |
| Die Sportgymnastik ist eine Erfindung der Sowjetunion, gedacht als eine Art | |
| Ballett mit Handgeräten. Im olympischen Mehrkampf gingen seit 1996 mit | |
| einer Ausnahme alle Medaillen an Russinnen, Belarussinnen und | |
| Ukrainerinnen. In Russland ist die RSG nationale Angelegenheit – und das | |
| nicht erst, seit Olympiasiegerin Alina Kabajewa als mutmaßliche Freundin | |
| Putins auf den Sanktionslisten landete, die die USA im Zuge des | |
| Angriffskriegs auf die Ukraine veröffentlichte. Die Macht der russischen | |
| Verbandspräsidentin Irina Viner geht weit über das [1][aktuell für | |
| internationale Wettkämpfe gesperrte Land] hinaus. Auch, weil seit dem Ende | |
| der Sowjetunion Hunderte der dort ausgebildeten Trainerinnen in der ganzen | |
| Welt agieren. | |
| „Sehr jung, extrem dünn, sehr lange Beine, kein Gramm Fett, keine Kurven, | |
| keine Hüften, keine Brüste, kein Hintern, also gar nichts,“ so beschreibt | |
| Guadalupe Aizaga das Schönheitsideal der RSG. Mit der Auswahl Argentiniens | |
| gewann sie bei den Südamerikaspielen 2006 die Silbermedaille. Als | |
| Fotografin betrachtet sie Gymnastinnenkörper seitdem oft durch die Linse. | |
| Das Schönheitsideal mache nicht nur Anleihen im klassischen Ballett, | |
| sondern auch in der Welt der Haute Couture: „Das Modeideal ist in der RSG | |
| noch extremer. Und dort ist es grotesk, weil du in diesem Sport neben | |
| Beweglichkeit vor allem Kraft brauchst. Für Kraft braucht es Muskeln, aber | |
| die darf man auf keinen Fall sehen.“ | |
| ## Verspätete Menstruation | |
| Auch Aizaga trainierte in Buenos Aires unter einer russischen | |
| Cheftrainerin. Die habe große Expertise gehabt, aber eben auch klare | |
| Vorstellungen – auf eine simple Formel gebracht: Idealgewicht gleich | |
| Körpergröße minus 120. „Der Druck, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, war | |
| viel größer als der Druck durch Training oder Wettkampf,“ erinnert sie | |
| sich. Aizaga selbst und all ihre Teamkameradinnen hätten mit großer | |
| Verspätung erstmals menstruiert, manch eine erst nach Karriereende: „So | |
| viel zum Thema weiblichste Sportart!“ | |
| Dabei ist auch die physische Beschaffenheit laut Reglement kein Kriterium | |
| für die Bewertung der sportlichen Leistung. Anders als in Sportarten, in | |
| denen es Gewichtsklassen gibt oder ein geringes Gewicht die Leistung bis zu | |
| einem bestimmten Punkt positiv beeinflussen kann – wie dem Skispringen oder | |
| dem Klettern –, gibt es in der RSG nur ein Motiv für die oft spindeldürren | |
| Körper: das ästhetische Ideal. | |
| Dem entspricht [2][Darja Varfolomeev, fünfmalige Weltmeisterin von 2023], | |
| in Perfektion. Hätte die heute 17-Jährige bei exakt gleichen Darbietungen | |
| mit zehn Kilo mehr auch gewonnen? Guadalupe Aizaga ist sich sicher: „Nein, | |
| die Kampfrichterinnen hätten ihr einfach nicht die gleichen Punkte | |
| gegeben.“ Varfolomeev begann als Dreijährige in Sibirien mit dem Sport und | |
| wechselte mit zwölf ins deutsche Nationalmannschaftszentrum in Schwaben, wo | |
| sie von einer weißrussischen Ex-Gymnastin betreut wird. Nach ihrem | |
| WM-Erfolg sagte eine Verbandsfunktionärin: „Wenn man in Stützpunkten und | |
| Vereinen fragt, wie sie werden wollen, sagen alle: So wie Dasha.“ | |
| ## Das Ideal: die russische Schule | |
| Auch Guadalupe Aizaga hatte bei Wettkämpfen die Haare immer zum Dutt | |
| drapiert. Warum ähneln sich Gymnastinnen rund um den Globus so sehr? „Man | |
| kopiert das, was alle machen, das, was die Besten machen“, sagt Aizaga. Das | |
| habe auch mit dem jungen Alter zu tun. „Wenn du noch ein Kind bist und so | |
| viel trainierst, als wärst du ein Arbeiter, dann gibt es nicht viel | |
| Spielraum für Individualität.“ Die Frage, ob man das alles selbst so wolle, | |
| stelle sich gar nicht. Das Ideal hätten alle klar vor Augen, auch in | |
| Argentinien: die russische Schule. | |
| Ein Blick zum Geräteturnen zeigt, dass Entwicklung möglich ist. Auch hier | |
| war das Körperideal bis Ende der 1980er Jahre homogen: möglichst klein, | |
| leicht und jung sollten Turnerinnen sein – denn so sahen die Siegerinnen | |
| aus Rumänien und der Sowjetunion eben aus. Heute gibt es nicht nur hoch- | |
| und ausgewachsene Frauen in der Weltspitze, sondern mit [3][Simone Biles, | |
| die vor Sprungkraft nur so strotzt], auch einen Superstar, der mit dem | |
| früheren Ideal kaum etwas gemein hat. | |
| Marlene Kriebel und Guadalupe Aizaga zumindest beobachten auch in der RSG | |
| Veränderungen. Sie sei überzeugt, sagt Kriebel, dass die Einstellung zum | |
| Körperideal in der Weltspitze „toleranter“ geworden ist. Auch der | |
| Altersdurchschnitt, sagt Aizaga, sei international gestiegen. | |
| Die Spielwiese, sie darf kommen. | |
| 7 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sandra Schmidt | |
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