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# taz.de -- Magersucht und Bulimie im Spitzensport: Kampf um Kilos
> Essstörungen im Leistungssport gehören stärker in den Fokus der
> Öffentlichkeit. Betroffen sind nicht nur Frauen, und die Sterbequote ist
> relativ hoch.
Bild: Raubbau am Körper: ausgezehrte Athletin im Leistungssport
Wer die [1][ARD-Dokumentation „Hungern für Gold“] noch nicht gesehen hat,
sollte das schleunigst nachholen. In der Sendung treten die ehemalige
Turnerin Kim Bui und die Ex-Biathletin Miriam Gössner auf, die nach Heirat
mit dem Alpinen Felix Neureuther den Namen des heutigen ARD-Experten trägt.
Sie berichten über ihre Essstörungen während der Sportkarriere.
Bui erbrach sich nach Mahlzeiten regelmäßig, litt also an Bulimie, ein
Krankheitsbild, das mit der drastischen Bezeichnung Fress- und Kotzsucht
wohl besser beschrieben ist. Gössner wurde von Trainern unter Druck
gesetzt, beständig Gewicht zu verlieren. Sie konnte erst nach einer
schweren Verletzung aus dem Teufelskreis ausbrechen.
Die Doku offenbart, was immer schon ein offenes Geheimnis war: Dass sich
Sportlerinnen und Sportler, vor allem im Skispringen, aber auch im
Ausdauerbereich und fast allen Wertungssportarten (Rhythmische
Sportgymnastik et cetera) bisweilen in kritische Bereiche hungern, nicht
selten unter einen [2][Body-Mass-Index] von 15. Dass weibliche
Leistungssportlerinnen oft jahrelang keine Periode haben. Dass von außen
auf die Leichtgewichte eingewirkt wird, noch mehr Kilos zu verlieren. Dass
Sportärzte manchmal zu spät reagieren. Dass Heranwachsende zu wenig
geschützt werden.
Gewicht machen – das kennen eigentlich alle Sportler. Die Waage fungiert
täglich als Scharfrichter über Wohl und Wehe. Das schlechte Gewissen ist
beständiger Begleiter. Die einen kochen ab, wie es zum Beispiel bei den
Boxern, Judoka oder Ringern heißt, sie verlieren Wasser vor Kämpfen, um
noch in eine für sie günstigere Gewichtsklasse zu rutschen, andere
schmuggeln Gewichte in Unterhose oder Po, um ihren BMI nach oben zu
drücken.
## Leben am Limit
Leistungssport, machen wir uns nichts vor, ist Extremismus. Der Körper wird
an Limits getrieben, ausgereizt, was geht. Bahne Raabe, einst Ruderer des
Deutschland-Achters und Olympiagoldmedaillengewinner von 1988, hat seinen
Kaloriensteuerungsfimmel mit dem Leben bezahlt. [3][Er starb 2001] an
Magersucht.
Das zeigt zweierlei: Erstens sind nicht nur Sportlerinnen betroffen (siehe
auch Sven Hannawald), zweitens verlaufen Essstörungen nicht selten letal.
Zehn Prozent der schwer Betroffenen sterben. Zehn Prozent. Allein diese
Zahl sollte wie ein Menetekel an der Wand jeder Umkleidekabine erscheinen,
wo sich die Jugendlichen bereit machen für den Drill in der Halle oder auf
Tartan. Sie werden traktiert für ein höheres Ziel, das ihnen zumeist von
außen oktroyiert wird.
So langsam bricht etwas auf in der Sportszene – und zwar weltweit: Auch
Formel-1-Pilot Valtteri Bottas, die französische Tennisspielerin Caroline
Garcia und die Schweizer Biathletin Lena Häcki-Groß machten zuletzt
öffentlich, von Essstörungen betroffen zu sein. „Ich habe mich körperlich
und geistig krank trainiert“, bekannte Bottas im finnischen Fernsehen. Er
habe sich damals vor allem von Brokkoli ernährt. „Es geriet außer Kontrolle
und wurde zu einer Sucht.“
## Auch nach der Karriere von Essstörung verfolgt
Was bei einem Motorsportler noch etwas kurios anmutet, wird er doch
chauffiert im PS-starken Boliden, ist bei Ausdauerathletinnen ein sehr
ernstes Problem, das die Essgewohnheiten auch nach der Karriere bestimmt.
Die Krankheit bleibt ein düsterer Begleiter, der wie ein Schießhund über
die Nahrungsaufnahme wacht. Dass Essen nicht nur zum Erhalt der
Vitalfunktionen dient, sondern auch purer, wunderbarer Genuss sein kann,
ein tägliches Glück, müssen die Betroffenen oft erst wieder lernen.
Der menschliche Körper ist, nun ja, nur dann frei (und gesund), wenn man
seine Signale empfängt und das Streben nach Homöostase reguliert. Raubbau
am eigenen Körper mag kurzfristige Erfolge möglich machen, langfristig
bleiben die Schädigungen durch die Anorexia athletica. In der
Öffentlichkeit werden in den kommenden Wochen wohl viele Trainer und
Funktionäre auftreten, die Besserung geloben. Es sind nicht selten jene,
die Hungerexzesse zum Wohle des Medaillenspiegels geduldet haben.
6 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.ardmediathek.de/video/sportschau/hungern-fuer-gold-essstoerunge…
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Body-Mass-Index
[3] https://www.spiegel.de/panorama/locker-bahne-locker-a-6c573e8f-0002-0001-00…
## AUTOREN
Markus Völker
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