# taz.de -- Dokumentarfilm „Aus dem Rahmen gefallen“: „Ich denke in Essen… | |
> Mit „Aus dem Rahmen gefallen“ stellt die Hamburger | |
> Ernährungsberatungsstelle „Waage“ einen Therapieansatz für das | |
> Krankheitsbild Binge Eating vor. | |
Bild: Baut einen Rahmen mit Kratzern: Frido in der Dokumentation „Aus dem Rah… | |
Der Rahmen ist eine starke Metapher für die Bedingungen der menschlichen | |
Existenz. In welchem Rahmen wir leben, das definiert uns; er kann uns | |
Schutz geben – aber auch einengen. Der Rahmen symbolisiert die Grenzen | |
zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen dem Individuum und der | |
Gesellschaft. | |
Da könnte es doch sowohl erhellend wie auch heilsam sein, wenn Menschen | |
sich einmal ihre Rahmen selbst bauen, oder? Genau diese Idee spielt der | |
Film „Aus dem Rahmen gefallen“ durch, den die Filmemacherin Lena Kupatz im | |
Auftrag des Hamburger Fachzentrums für Essstörungen „Waage e. V.“ | |
inszeniert hat. | |
In dem Film soll auch das Krankheitsbild des „Binge Eating“ vorgestellt | |
werden, also exzessives, übermäßiges Essen. Diese zwar häufigste Essstörung | |
ist sehr viel weniger bekannt als Magersucht und Bulimie. Wer an der | |
Störung leidet, stopft regelmäßig sehr schnell sehr viel Nahrung in sich | |
hinein; das Ergebnis ist oft – aber nicht immer – Übergewicht. | |
„Ich denke in Essen“, sagt etwa Friedo, trans Binge Eater mit | |
unauffälligen, also der Norm entsprechenden Maßen. Friedo, der schon mal in | |
wenigen Minuten „zwei Laibe Brot und zwei Gläser Nutella“ verschlingt, ist | |
im Film eine*r von drei Erkrankten: Sie erzählen von ihrer Essstörung – | |
und sie werden dabei gezeigt, wie sie Rahmen zu bauen lernen, die zu ihnen | |
passen. | |
Denn das ist das Besondere: Einen Tag lang haben Daphne, Jessica und Friedo | |
im Studio der Rahmenbauerin Frida Kappich im Hamburger Schanzenviertel | |
gearbeitet. Mit ihr zusammen sollen sie jeweils ihren eigenen Rahmen bauen. | |
Hier wird die Metapher also wörtlich genommen; ein guter therapeutischer | |
Gedanke, der auch filmisch fruchtbar ist – auch ein Filmbild ist ja eine | |
Rahmung, der Fachbegriff „Kadrierung“– die Wahl des Bildausschnitts – k… | |
vom französischen Wort für Rahmen, „cadrage“. Insofern rahmt ein Film üb… | |
dieses Thema seinen Gegenstand fast schon unvermeidlich auf gleich mehreren | |
Ebenen. | |
Die drei Rahmenbauer*innen Daphne, Jessica und Friedo schauen sich | |
zuerst selbst in einem Spiegel an und müssen sich so mit einer Rahmung | |
ihrer selbst auseinandersetzen. Nachdem sie in die Kamera schildern, wen | |
sie da sehen – oder auch vermeiden, sehen zu müssen –, führen sie ein | |
Gespräch mit der professionellen Spiegelmacherin Kappich. | |
Kappich versucht herauszufinden, welche Art von Rahmen die drei für sich | |
bauen möchten und ob dies überhaupt möglich ist. Unter ihrer Anleitung | |
bauen die drei dann los, und es ist beeindruckend, wie gut sich ihre | |
Gefühle und Hoffnungen schließlich in den Holzobjekten spiegeln: Jessica | |
baut einen Rahmen mit einer Öffnung, will sich also nicht einengen lassen. | |
Daphnes Rahmen bietet keine Rück-, sondern zwei Vorderansichten; auch sie | |
wünscht sich also mehr Raum. Und Friedo? Zerkratzt den Goldrand seines | |
Rahmens, als wolle er – selbst erlittene? – Beschädigungen in ihn | |
einschreiben. | |
Auf Film dokumentiert hat diesen therapeutischen Workshop nun die | |
Filmproduktionsfirma „Rakete Bildproduktion“ aus St. Pauli. Kameraführung, | |
Montage und Musikbegleitung sind dabei so unauffällig wie möglich. Der Film | |
ist absichtsvoll konventionell, aber auch handwerklich solide inszeniert; | |
mehr Filmkunstanspruch hätte vermutlich nur vom Anliegen abgelenkt. | |
Auftraggeber Waage will damit vor allem Aufklärungsarbeit leisten: Das | |
Krankheitsbild „Binge Eating“ soll bekannter werden. Interessant daran: Der | |
Film verzichtet darauf, die Symptome der Essstörung vorzustellen oder gar | |
zu zeigen, nie sehen wir auch nur einen einzigen Bissen in irgendeinem Mund | |
verschwinden. Stattdessen sieht man den dreien bei der handwerklichen | |
Arbeit zu, und weil sie dabei so unangestrengt zu sich selbst kommen, sehen | |
in den Schlussbildern ihre Rahmen schön aus – und sie selbst tun das auch. | |
7 Nov 2022 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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