| # taz.de -- Kletterin über ihre Essstörung: „Ich bin nicht die Einzige“ | |
| > Nuria Brockfeld stand am Beginn einer Profikarriere im Speedklettern. | |
| > Dann entwickelte sie eine Essstörung. Ein Gespräch über Druck im | |
| > Leistungssport. | |
| Bild: Irgendwann war der Spaß weg: Nuria Brockfeld im Fels | |
| taz: Wie geht es Ihnen, Nuria Brockfeld? | |
| Nuria Brockfeld: Schon viel besser, ich habe so langsam wieder eine | |
| Perspektive und die Therapie tut mir gut. Die Klinik arbeitet mit einem | |
| strengen Konzept. | |
| Wie sieht das aus? | |
| Wir haben drei geregelte Mahlzeiten, die wir alle zusammen einnehmen. Um 7, | |
| um 12 und um 18 Uhr. Und es gibt eine Richtmenge. Nicht-Aufessen geht gar | |
| nicht. | |
| Wie wird das kontrolliert? | |
| Alles ist in kleinen Päckchen portioniert und am Ende muss man die leeren | |
| Verpackungen zum Beweis zeigen. Dabei kommt es schon häufiger mal vor, dass | |
| manche die Butter in die Serviette schmieren. Deshalb ist die Kontrolle so | |
| wichtig. Denn eigentlich wollen wir ja alle rauskommen aus der Essstörung. | |
| Außerdem muss man innerhalb einer Woche ein bestimmtes Gewicht zunehmen. | |
| Bereichert es Sie im Heilungsprozess, mit Personen zusammen zu sein, mit | |
| denen Sie diese Erfahrung teilen? | |
| Ja, mir tut der Austausch total gut. Viele hier haben früher auch | |
| Leistungssport gemacht und damit genau die gleichen Probleme und | |
| Erfahrungen wie ich. Es tut gut zu merken, dass ich nicht die Einzige bin. | |
| Im Leistungssport sind Essstörungen [1][weiter verbreitet als im | |
| gesellschaftlichen Durchschnitt]. Warum kam es nicht schon vor dem | |
| Klinikaufenthalt zum Austausch über das Thema, zum Beispiel mit | |
| Teammitgliedern? | |
| Vielen ist es unangenehm, darüber zu reden, die Scham ist sehr groß. Gerade | |
| weil man ja erst mal einen sportlich positiven Effekt dadurch erzielt. Eine | |
| Essstörung hat auch viel mit Konkurrenzdenken zu tun. Es ist also | |
| schwierig, das im Team zu teilen. | |
| Wie haben Sie es trotzdem geschafft, sich Ihrer Krankheit bewusst zu | |
| werden? | |
| Irgendwann ging es mir körperlich und psychisch einfach zu schlecht. Ich | |
| war letztes Jahr im Sommer dann zum ersten Mal in einer Klinik und [2][habe | |
| mit dem Leistungssport aufgehört]. Danach war es kurzzeitig besser. Aber | |
| dann bin ich aus dem Sportinternat ausgezogen und habe zum ersten Mal | |
| allein gewohnt. Dadurch fehlte die Kontrolle von außen. Deshalb wurde es | |
| dann wieder schlimmer und irgendwann habe ich gemerkt, dass es so nicht | |
| weitergeht. Ich habe mich isoliert, Sport nur noch aus Zwang gemacht, keine | |
| Freunde mehr getroffen und war zu nichts mehr fähig. In der Zeit hatte ich | |
| noch eine ambulante Therapeutin, die mich dann an die Klinik verwiesen hat. | |
| Welche Rolle haben Familie, Freunde und Trainer bei diesem Prozess | |
| gespielt? | |
| Weil ich im Internat gelebt habe, hat es meine Familie gar nicht so sehr | |
| mitbekommen. Einer Betreuerin im Internat stand ich sehr nah. Sie hat mit | |
| mir zusammen gegessen und sich darum gekümmert, dass ich einen Therapeuten | |
| finde. Auch mein Trainer hat mir dann irgendwann geraten, nicht mehr an den | |
| anstehenden Wettkämpfen teilzunehmen. Es hätte einfach keinen Sinn gemacht, | |
| ich war körperlich gar nicht in der Verfassung. | |
| Das heißt, die Magersucht hat Ihrer sportlichen Leistung im Endeffekt | |
| geschadet? | |
| Ja, am Anfang pusht es zwar die Leistung, aber irgendwann kippt das. Und | |
| dann ist es noch schlimmer, denn dann hat man den Sport nicht mehr, sondern | |
| nur noch die Essstörung, sodass man sich dann nur noch darüber definiert. | |
| Was hätte Ihnen an einem früheren Punkt helfen können, um gar nicht erst | |
| eine Krankheit zu entwickeln? | |
| Aufklärung, und dass die Leute verstehen, dass man auch mit Normalgewicht | |
| schon eine Essstörung haben kann. Es hätte mir bestimmt geholfen, wenn | |
| Leute schon früher etwas gesagt oder unternommen hätten. | |
| Wer hätte das sein können? | |
| Vor allem die Trainer. Häufig achten die Trainer nur auf die Leistung. Auch | |
| von Verbandsseite muss da viel mehr gemacht werden. Die Verbände sollten | |
| Warnzeichen erkennen und dann etwas dagegen unternehmen. Und auch | |
| Teammitglieder sollten einander unterstützen. Es müsste einfach mehr drüber | |
| gesprochen werden. | |
| Sie sind schon mit 14 Jahren bei internationalen Wettkämpfen [3][auf | |
| höchstem Niveau angetreten]. Wann sind Sie im Laufe Ihrer Karriere zum | |
| ersten Mal mit Psychologen oder Ernährungsberatern in Kontakt gekommen? | |
| Ich hatte schon mit 15 oder 16 Jahren Ernährungsberatung und einen | |
| Sportpsychologen. Es gibt in Deutschland an jedem Olympia-Stützpunkt | |
| mehrere Psychologen, die sich um die Athleten kümmern, die Versorgung ist | |
| also sehr gut. | |
| Trotzdem haben Sie schon damals eine Essstörung entwickelt? | |
| Ja, aber ich habe eben mit niemandem darüber geredet. In der Therapie ging | |
| es eher um akute Probleme, zum Beispiel um Stress bei Wettkämpfen. Im | |
| [4][Leistungssport] gibt es so viele psychische Herausforderungen, dass man | |
| Mechanismen benötigt, um damit umzugehen. Eine Essstörung ist auch eine | |
| Konsequenz daraus, denn es ist ein Versuch, die Kontrolle zu behalten. | |
| An Hilfsangeboten hat es also nicht gefehlt. Müssen diejenigen, die | |
| Unterstützung leisten, einfach sensibler für das Thema werden? | |
| Ja. Und sie sollten es aktiver ansprechen. Es stimmt, die Strukturen für | |
| Unterstützung sind an sich vorhanden, aber es muss eben auch an die | |
| richtigen Stellen geschaut werden. Als Betroffene unternimmt man | |
| schließlich alles, damit nicht auffällt, dass man ein Problem hat. | |
| Wie sollte sich das restliche Umfeld, zum Beispiel die Familie und Freunde, | |
| in so einer Situation verhalten? | |
| Sensibel nachfragen. So was wie: ‚Mir ist aufgefallen, dass du weniger | |
| isst, was ist denn los? Wie geht es dir?‘ Ich denke, man sollte zeigen, | |
| dass man für die Person da ist und ihr Hilfe anbieten. Es hilft auf jeden | |
| Fall nicht zu sagen: „Jetzt iss doch mal mehr!“ – Ein ‚Tipp‘, den ich… | |
| wieder von Trainern gehört habe. Manche Trainer können damit einfach nicht | |
| gut umgehen und verstehen die psychologischen Wurzeln der Störung nicht. | |
| Der internationale Kletterverband hat kürzlich Maßnahmen beschlossen, um | |
| gegen Essstörungen vorzugehen. Dazu zählen unter anderem die verpflichtende | |
| Angabe von Blutdruck, Herzfrequenz und Body-Mass-Index. Was halten Sie von | |
| diesen Maßnahmen? | |
| Ich bin echt positiv überrascht. Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die | |
| richtige Richtung, so kann der ein oder andere Athlet vielleicht | |
| rechtzeitig gesperrt werden, um sich auf seine Gesundheit zu konzentrieren. | |
| Ich finde es auch sinnvoll, dass jetzt bereits ab der Jugend solche | |
| Maßnahmen umgesetzt werden, um Athleten präventiv zu schützen. Ich hoffe, | |
| dass die Maßnahmen auch wie geplant durchgeführt und gesundheitsgefährdete | |
| Athleten rechtzeitig aus dem Wettkampfgeschehen genommen werden. | |
| Sie arbeiten selbst als Nachwuchstrainerin im Jugendnational und | |
| -landeskader beim Speedklettern. Wie beeinflusst Ihre persönliche Erfahrung | |
| das? | |
| Ich denke, ich merke schnell, wie es Athleten geht und ob sie vielleicht | |
| gerade eine schwierige Zeit haben. Ich finde es als Trainerin auch ganz | |
| wichtig, darauf zu achten, dass der Sport Spaß macht, die Motivation sollte | |
| von innen kommen. | |
| Haben Sie diese innere Motivation irgendwann verloren? | |
| Teilweise ja. Ich habe viel Druck gespürt, auch dadurch, dass ich mich in | |
| einer Blase befunden habe mit Leuten, die alle für den Sport leben. Man | |
| bekommt Anerkennung, hat Sponsoren, ist Teil des Teams – all das will man | |
| nicht aufgeben. Darin war ich gefangen, ich konnte mir selbst nicht | |
| eingestehen, dass es mir eigentlich gar keinen Spaß mehr macht. Trotzdem | |
| habe ich die Jahre insgesamt positiv in Erinnerung. Es gibt einfach zwei | |
| Perspektiven, mit denen ich auf den Sport blicke. | |
| Wie geht es für Sie jetzt weiter? | |
| Ich will Sportpsychologin werden und weiter als Trainerin arbeiten. Ich | |
| will Athleten helfen, damit sie nicht das Gleiche durchmachen müssen wie | |
| ich. Ich will etwas verändern im Sport, auch durch Aufklärungsarbeit. | |
| Und geht es nochmal an die Kletterwand? | |
| Im Leistungsbereich auf keinen Fall, ich muss da einen Cut machen. Ich | |
| werde weiterhin klettern, aber aus Spaß, vielleicht draußen am Fels oder | |
| beim Bouldern. Aber an die Speedwand geht es für mich nicht mehr. | |
| 27 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marie Gogoll | |
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