| # taz.de -- Lit.Cologne mit Habeck und Friedman: Das deutsche Fieber messen | |
| > In Köln eröffnete die Lit.Cologne mit einem Gespräch von Robert Habeck | |
| > und Michel Friedman über Antisemitismus. Sie wagten eine tastende | |
| > Denkreise. | |
| Bild: Debatte ist wichtig: Michel Friedman und Robert Habeck auf der Lit.Cologne | |
| Keine brüllenden Pro-Palästina-Aktivisten. Keine klatschende Claudia Roth | |
| beim Berlinale-Eklat, nicht die zu antisemitischen Hülsen geronnenen Worte | |
| „Genozid“ und „Apartheid“. Und auch nicht die feindliche, hetzerische | |
| Atmosphäre an deutschen Universitäten nach dem 7. Oktober. | |
| All dies ist nicht Thema bei der aufgeregt erwarteten Auftaktveranstaltung | |
| der Lit.Cologne über Antisemitismus mit Robert Habeck und Michel Friedman. | |
| Oder besser: [1][Judenhass, wie es der Publizist Friedman, ehemaliger | |
| stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden, lieber nennt], | |
| weil Antisemitismus zu „lateinisch“, akademisch und entfernt klinge. | |
| „Gegen Judenhass“ heißt auch sein eilig nach den Terrorangriffen der Hamas | |
| geschriebenes Buch, und auch ohne aktuelle Nahost-Bezüge ist Friedmans | |
| Diagnose düster: Zwar funktionierten noch die demokratischen Institutionen, | |
| doch das Fieberthermometer des Judenhasses – der in Wirklichkeit | |
| Menschenhass sei – liege bei 39 Grad. | |
| ## Kein Tag ohne Rassismus | |
| Eindrücklich schildert Friedman einmal mehr, wie dieser ihn begleitet habe, | |
| seit er mit zehn Jahren aus Paris nach Deutschland kam, in das „weiß | |
| tapezierte Land“ ohne Aufarbeitungsbereitschaft, mit einer blinden Justiz, | |
| kein Tag ohne Fremdenhass, in der Schule ein Lehrer, der stolz seinen für | |
| den Führer gegebenen Fingerstumpf vorzeigte: „Ich habe mir mein Leben als | |
| jüdischer Mensch anders vorgestellt.“ | |
| Deutschland habe das Versprechen gebrochen, den Anfängen zu wehren. Während | |
| er einst jedoch noch eingehegt gewesen sei, äußere sich der Hass nun | |
| schamloser und unverblümter. Zu Coronazeiten, so Friedman in radikaler | |
| Subjektivität, seien in „allen deutschen Städten“ Behauptungen aufgestellt | |
| worden, dass Juden schuld an Covid seien, um sich als Impfstofferfinder zu | |
| bereichern. Unter Polizeischutz. | |
| Das mag sich überspitzt anhören. Und dennoch verdeutlicht das wohl ganz gut | |
| das Gefühl fürchterlicher Einsamkeit von Juden, die auch Moderatorin und | |
| [2][Schriftstellerin Nele Pollatschek], selbst Jüdin, bestätigt. Daher sei | |
| es auch besonders aufgefallen, so Friedman, dass Habeck sich in seinem | |
| viralen Social-Media-Video klar gegen Judenhass positioniert habe, als | |
| einer der wenigen Menschen momentan in Deutschland. | |
| ## Wo Dialog und Diskurs störten | |
| Habeck und Friedman versuchen dann sehr ernsthaft, den Wurzeln des | |
| spezifisch deutschen Antisemitismus nachzugehen. Jenseits der üblichen | |
| Berufsverbot- und Geldverleih-Thesen versucht sich der Vizekanzler und | |
| Wirtschaftsminister an einer geistesgeschichtlich „tastenden“ Denkreise | |
| vom Faschismus als „National-Ästhetizismus“. Die Nazis hätten gedanklich | |
| das verquere Ideal einer perfekten, widerspruchslosen, mit sich selbst im | |
| Reinen befindlichen Gesellschaft gesunder Körper gesucht – während | |
| deutsches jüdisches Leben vor allem Dialog und Diskurs gewesen sei, dieses | |
| Bild also störten. | |
| Auch Michel Friedman bestätigt die wichtige Rolle von Debatte, Streit und | |
| Infragestellen im Judentum. Dies stünde zugleich im radikalen Gegensatz | |
| zum Missionsgedanken des Christentums, jener ersten „globalen Firma“, die | |
| jahrhundertelang in die Welt sendete, dass es Juden waren, die Jesus | |
| umbrachten. | |
| Schade fast, dass Moderatorin Pollatschek dann doch noch den Nahostkonflikt | |
| ins Spiel bringt. Wenn Israel ein Schutzraum für Juden sei, von deutscher | |
| Schuld und „Staatsräson“ gedeckt – gebe es dann nicht eine | |
| „korrespondierende deutsche Verantwortung“ auch für Palästinenser, | |
| vertrieben und heimatlos geworden durch die Errichtung des Staates Israel? | |
| Was sei schiefgelaufen, wenn so viele immer noch staatenlos seien, obwohl | |
| sie seit Jahrzehnten in Berlin lebten? | |
| ## Von Demokratiefeinden populistisch ausgeschlachtet | |
| Darauf reagiert Habeck ausweichend, Friedman dagegen lustvoll ungehalten. | |
| Er habe es satt, dass Judenhass in Deutschland stets mit dem Nahostkonflikt | |
| verknüpft werde. Dieser habe mit deutschen Juden in etwa so viel zu tun wie | |
| der Ukrainekrieg: „Ich bin kein Israeli. Auch ich finde die israelische | |
| Regierung eine Katastrophe – deswegen die Vernichtung von Israel zu | |
| fordern, ist antisemitisch.“ Ganz abgesehen davon, dass das Gebiet 1948 | |
| unter britischem Mandat stand. | |
| Es bleibe eine fürchterliche Konstante, dass das Fremde, so Friedman, in | |
| Deutschland nicht gern gesehen sei. Deutsche Kleingeistigkeit würde | |
| wiederum von Demokratiefeinden populistisch ausgeschlachtet. Was ebenso für | |
| Muslime gelte: Erst, wenn der Islam ernsthaft als zu Deutschland gehörig | |
| gelte, würde auch islamische Religionsausübung etwa nicht mehr | |
| unkontrolliert Hasspredigern, Erdoğan oder der Ditib überlassen – ebenfalls | |
| eine Gefahr für die Demokratie. | |
| Und so verwandelt sich der Abend am Ende in ein Plädoyer für menschliche | |
| Empathie und einen Kampf für die Demokratie im Angesicht der | |
| AfD-Wahlprognosen. Frankreich beweise etwa gerade, dass ein Recht auf | |
| Abtreibung in die Verfassung geschrieben werden könne, so Friedman: „Wir | |
| können Gegenbewegungen organisieren, aber ob wir es tun oder nicht, liegt | |
| nur an uns.“ Beim Kampf gegen Antisemitismus gehe es nicht nur darum, Juden | |
| zu schützen. Nicht nur für Juden werde es schwerer, wenn die AfD gewinne – | |
| sondern für alle freien Menschen in Deutschland. | |
| 6 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dorothea Marcus | |
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