| # taz.de -- Nahost-Debatten in Deutschland: Kein Freiraum für Kritik | |
| > Der Vorwurf des Antisemitismus wird in Deutschland inflationär verwendet. | |
| > Progressive Arbeit mit Menschen aus dem Globalen Süden wird so schwierig. | |
| Bild: Zu viel Kritik für hiesige Verhältnisse: Forderungen nach Waffenruhe in… | |
| Diese Woche hätte in Frankfurt [1][die Global Assembly] stattfinden sollen, | |
| eine Zusammenkunft von Aktivistinnen aus aller Welt, um nach Lösungen für | |
| die dringlichen Herausforderungen unserer Zeit zu suchen: autoritäre | |
| Herrschaft und Demokratisierung, Klimagerechtigkeit und ökologische | |
| Transformation, Menschen- und Naturrechte. Die Versammlung musste | |
| kurzfristig abgesagt werden. Das ist sehr traurig, vor allem für jene unter | |
| uns, die sich von der Zukunft mehr ersehnen als Aufrüstung, Abschottung und | |
| Ausbeutung. | |
| Der Grund: Einige der Trägerorganisationen trieb die Sorge um, dass | |
| angesichts des polarisierten Diskurses hinsichtlich der Gewalt in Israel | |
| und Palästina eine offene Debatte mit unabsehbaren Risiken verbunden sein | |
| würde: „Unsere Absage ist eine traurige Konsequenz aus dieser Entwicklung. | |
| Wir werden damit der Verantwortung gerecht, die Möglichkeiten für eine | |
| wirksame globale Menschenrechtsarbeit nicht zu gefährden.“ | |
| Die Entscheidung ist den Initiatoren (ich habe an der Vorbereitung | |
| mitgewirkt) alles andere als leichtgefallen. Zwei Jahre Arbeit und ein | |
| Blumenstrauß an Hoffnungen mit einem Schlag dahin und verwelkt. Die Sorge | |
| ist nicht von der Hand zu weisen. Lädt man achtzig Menschen aus dem | |
| Globalen Süden ein, lässt es sich kaum vermeiden, dass diese ihre Meinung | |
| frei äußern. Durch Kritik an verfehlter Politik, ungerechter | |
| Wohlstandsverteilung und ökologischer Zerstörung oder aber durch eine | |
| Solidaritätsbekundung für Palästina. Eine solche „Provokation“ würde im | |
| Schnellkochtopf der medialen Erregung im Nu zu einem Skandal | |
| zusammengedampft werden. | |
| Wir haben so etwas zuletzt öfter erlebt. Die Entscheidung fiel unter dem | |
| Eindruck der diesjährigen Berlinale. Es lohnt sich, mit einem gewissen | |
| Abstand auf den „Skandal der israelkritischen und propalästinensischen | |
| Interventionen“ während der Preisverleihung zu blicken. Was ist geschehen? | |
| [2][Ein israelischer Filmemacher spricht von „Apartheid“ im Westjordanland | |
| und fordert Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern.] Diese | |
| und ähnliche Aussagen werden von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai | |
| Wegner scharf verurteilt. Wenn ein israelischer Bürger von seinem | |
| demokratischen Recht, die eigene, rechtsextreme Regierung zu kritisieren, | |
| Gebrauch macht, will ihm ein hiesiger Lokalpolitiker den Mund verbieten. | |
| Die Enkelkinder der rabiatesten Antisemiten wollen die allerbesten | |
| Anti-Antisemiten sein. Die Erkenntnis, dass Besserwisserei auch ein Problem | |
| ist, lässt auf sich warten. | |
| ## Die meisten Menschen sehen beide Seiten | |
| Anstatt eine Debatte zuzulassen und zugespitzte Meinungen auszuhalten, soll | |
| eine Verbotskultur den Diskurs regulieren. Die Wortwahl der herrschenden | |
| Kritik war symptomatisch: „Diese Bilder, diese Töne will ich nicht aus | |
| Berlin sehen und hören.“ Ein Bürgermeister, der Sprechen und Zuhören mit | |
| einem Verkehrsleitsystem verwechselt. Solche Aussagen lassen sich nur durch | |
| Schwarz-Weiß-Denken erklären, durch die Vorstellung, dass es nur eine | |
| Option gibt, die bedingungslose Unterstützung der einen oder der anderen | |
| Seite. So als könnte von uns nicht verlangt werden, Empathie für alle Opfer | |
| und Empörung gegenüber allen Tätern zu empfinden. | |
| Die meisten Menschen verurteilen die Massaker der Hamas ebenso wie die | |
| Kriegsführung der israelischen Armee, empfinden angesichts der | |
| abgeschlachteten jüdischen Festivalbesucherinnen existenzielles Entsetzen, | |
| wie auch angesichts der von Bomben zerfetzten palästinensischen Kinder. | |
| Mitmenschlichkeit ist tief in uns verankert, weswegen es eines enormen | |
| propagandistischen Aufwands bedarf, um uns abzuhärten. Im Umkehrschluss | |
| gilt: Wer die Verbrechen der Hamas gutheißt oder die Grauen der | |
| israelischen Angriffswellen ohne Wenn und Aber rechtfertigt, hat an seiner | |
| Seele Schaden genommen. | |
| Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn Menschen, die sich dem Kampf | |
| um Gerechtigkeit verschrieben haben, der Ansicht sind, dass es momentan am | |
| notwendigen Freiraum fehlt für eine Versammlung diverser Meinungen und | |
| Positionen? | |
| Weltweit wird mit Unverständnis auf teutonische Besserwisserei und | |
| Zeigefinger reagiert. Zumal einige der hierzulande demaskierten Antisemiten | |
| kritische jüdische Intellektuelle sind. Wie anmaßend, den Nachfahren von | |
| Holocaust-Überlebenden vorzuschreiben, welche Vergleiche sie bemühen und | |
| welche Formulierungen sie verwenden dürfen. Inzwischen pfeifen es die | |
| Spatzen von schiefen Dächern, dass selbst Hannah Arendt heute des | |
| Antisemitismus überführt werden würde. Bekanntlich ist nichts gefährlicher | |
| als Intellektuelle, die sich ein Leben lang hinter aufklärerischen, | |
| weltoffenen, toleranten Werken verstecken, um eines Tages mit einer | |
| Unterschrift unter einem Protestbrief antisemitisch zuzuschlagen. | |
| ## Antisemitismus wird so nicht bekämpft | |
| Die regelmäßig geäußerte Behauptung, der Vorwurf des Antisemitismus sei | |
| keine Zensur, man könne ihm ja mit Argumenten begegnen, ist verlogen. Wir | |
| wissen alle, was für eine Wucht dieser Vorwurf in Deutschland entfaltet. Er | |
| kann ein Individuum, aber auch eine von öffentlichen Förderungen und | |
| Spenden abhängige Organisation zerstören. | |
| Eine weitere negative Folge ist die Lähmung progressiver politischer | |
| Arbeit, wie das Beispiel der abgesagten Global Assembly zeigt. Während die | |
| reaktionären Kräfte sich durch ein deftiges „Wird man doch mal sagen | |
| dürfen“ profilieren, wird progressives Engagement eher gelähmt. Das ist | |
| Gift für ein zukunftsgewandtes, um Alternativen bemühtes universell humanes | |
| Projekt. | |
| Zumal die Verengung der Debatten der Bekämpfung des Antisemitismus eher | |
| schadet. Wenn der Vorwurf des Antisemitismus inflationär verwendet wird, | |
| verwischen sich die Unterschiede zwischen einem strukturellen | |
| Antisemitismus und einer entschiedenen Verurteilung der Politik Israels. | |
| Wie [3][Meron Mendel] von der Bildungsstätte Anne Frank neulich warnte. | |
| „Wir bekämpfen eine Ideologie des Boykotts des Staates Israel. Nun wird | |
| versucht, mit den gleichen Mitteln dagegen vorzugehen, nämlich mit Boykott | |
| von denjenigen, die Israel einseitig kritisieren. Die Antwort auf Boykott | |
| kann nicht Boykott sein. Die Antwort auf Boykott kann nur Begegnung, | |
| Diskurs, Streit sein.“ | |
| 14 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.globalassembly.de/ | |
| [2] /Streit-um-die-Berlinale/!5993341 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=SHfiqGLEaGQ | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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