# taz.de -- Klimawandel und Meeresschutz: Dem Mittelmeer geht's mittelgut | |
> Das Mittelmeer leidet unter Hitzestress – mit fatalen Folgen für Tiere | |
> und Pflanzen. Wie kann die Natur dem Klimawandel widerstehen? | |
Bild: Badende bei Beirut, Libanon, springen im Juli 2023 ins Mittelmeer | |
Mittelmeer, Katamaran „Waka“ taz | Mal angenommen, die Oberfläche des | |
Mittelmeers wäre ein riesiger, geheimnisvoller Teppich. Und diesen Teppich | |
könnte man einfach anheben und schauen, was darunter ist. Man würde | |
plattgedrückte, weißgraue Mondfische vorbeischwimmen sehen und bei dem | |
Anblick ihrer kraterartigen Haut denken, sie seien wirklich gerade vom Mond | |
ins Mittelmeer gefallen. Oder man könnte mikroskopisch kleine Organismen | |
beobachten, die durchsichtig und filigran durch das Wasser schweben, bis | |
ein Finnwal sie mitsamt 70 Tonnen Meerwasser in sein Maul strömen lässt, er | |
seine Bartenplatten zusammenpresst, das winzige Plankton sich darin | |
verfängt und im Magen des Wals landet. Kurzum: Könnten wir diesen | |
Mittelmeer-Teppich anheben, wir würden aus dem Staunen nicht mehr | |
herauskommen. | |
Joaquim Garrabou sagt: „Wenn die Menschen sehen könnten, was im Meer los | |
ist – sie würden schreien.“ Der Meeresökologe vom spanischen [1][Institut | |
für Meereswissenschaften (ICM)] kennt das Leben im Mittelmeer wie kaum ein | |
anderer. Er begann vor 30 Jahren, einen der vielfältigsten Lebensräume zu | |
untersuchen: Korallenbänke. | |
Im Sommer 1999 beobachtete der Forscher das erste große Massensterben | |
entlang der französischen und italienischen Mittelmeerküste. In jenem | |
Sommer stiegen die Wassertemperaturen in noch nie dagewesene Extreme. | |
Garrabous Forschungsobjekte, die [2][Korallen], starben massenhaft ab. | |
Seitdem beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich der [3][Klimawandel] | |
auf die marinen Ökosysteme des Mittelmeers auswirkt. | |
Nach der ersten tödlichen Welle 1999 kam es vier Jahre später erneut zu | |
einem Massensterben im nordwestlichen Mittelmeer. Über Tausende von | |
Küstenkilometern starben vor allem wirbellose Tiere, darunter Rote | |
Korallen, die Korallenart Farbwechselnde Gorgonie und Feigenschwämme. | |
Inzwischen sind solche Ereignisse aber nicht mehr die Ausnahme, sondern | |
Normalität. | |
Massensterben sind wie Waldbrände im Meer | |
Dass [4][Hitzewellen] im Mittelmeer aufgrund des Klimawandels häufiger und | |
intensiver werden und dass es in Folge häufiger zu Massensterben kommen | |
wird, belegt auch e[5][ine Studie im Fachmagazin Global Change Biology]. | |
Man muss es sich so vorstellen: An heißen Sommertagen ohne Wolken am Himmel | |
heizen sich die oberen 30 bis 40 Meter des Meerwassers besonders stark auf. | |
Das warme Oberflächenwasser verliert dadurch an Dichte und liegt auf der | |
schweren, kühlen Schicht in der Tiefe. Zudem weht kaum Wind, der die | |
Wasserschichten durchmischen könnte. Die Nährstoffe bleiben in der Tiefe | |
hängen, die obere Schicht wird immer heißer. In der Fachsprache spricht man | |
von marinen Hitzewellen. | |
„Wenn die Temperaturen auf extreme Werte ansteigen, halten einige Arten die | |
Hitze nicht mehr aus“, so Garrabou. Besonders betroffen sind Korallen, | |
Muscheln, Schwämme und Seegräser, da sie auf Felsen oder am Meeresboden | |
festkleben und nicht in kühlere Regionen flüchten können. Sie beginnen zu | |
schmelzen, ihr Gewebe löst sich ab, zurück bleiben tote Skelette. | |
Um sich das Massensterben im Meer besser vorstellen zu können, vergleicht | |
Garrabou es mit Waldbränden an Land: „Nach einem Brand bleiben von den | |
Bäumen mit ihren grünen Blättern lediglich schwarze Stümpfe übrig. So | |
ähnlich sieht es im Meer nach einem Massensterben aus.“ In Wäldern brüten, | |
jagen, fressen und leben unzählige Arten. Brennen die Bäume ab, | |
verschwindet mit ihnen weiteres Leben im Wald. In der Wissenschaft spricht | |
man von einem Kaskadeneffekt. | |
Das Gleiche passiert im Meer, wenn Korallen, Schwämme und Seegräser | |
sterben. Darin verstecken sich Einsiedlerkrebse, Fische laichen und ziehen | |
ihre Kinder groß und Rochen kommen aus der Tiefsee, um nach Fressen zu | |
suchen. Garrabou sagt: „Wenn man eine dichte Population, zum Beispiel von | |
Gorgonien hat, dann ist es da bunt, voller Leben. Nach dem Massensterben | |
bleiben nur noch tote Skelette mit wenig Leben übrig.“ | |
Konkurrenz von tropischen Arten | |
Die steigenden Temperaturen locken zudem neue, fremde Arten ins Mittelmeer. | |
Rotfeuerfische, Nomadenquallen und Hasenkopf-Kugelfische wandern aus dem | |
Roten Meer über den Suezkanal ein oder werden von Frachtschiffen | |
eingeschleppt. Die tropischen Arten verdrängen die heimische Flora und | |
Fauna. Weil: Sie kommen mit den steigenden Temperaturen besser zurecht. | |
Im Nationalpark Port-Cros vor der französischen Côte d’Azur konnten die | |
Forscher das in den letzten Jahren beobachten. Gilles Martin ist der | |
Vorsitzende des Wissenschaftsrats, er berät die Verwaltung des | |
Nationalparks. Der Umweltjurist Martin erzählt von der Edlen Steckmuschel, | |
die anmutig wie ein Keil im Meeresboden steckt und bis zu 1,20 Meter groß | |
und 50 Jahre alt werden kann. Sie ist eine endemische Art, das heißt, sie | |
kommt nur im Mittelmeer vor. | |
Vor sieben Jahren wurde die Muschel von einem Parasiten befallen, der, so | |
vermuten es die Forscher des Nationalparks, mit dem Ballastwasser von | |
Frachtschiffen ins Mittelmeer gelang. Der Parasit fühlte sich wohl und | |
breitete sich immer weiter aus. Bevor er in Port-Cros ankam, lebten | |
Schätzungen des Nationalparks zufolge 12.500 bis 19.500 Edle Steckmuscheln | |
in dem Schutzgebiet. Nach dem Massensterben war die Muschel aus dem | |
Nationalpark verschwunden. | |
Das Massensterben und die Konkurrenz durch neue Arten führen dazu, dass die | |
Ökosysteme immer mehr an Vielfalt verlieren. Statt hundert Jahre alter | |
Korallen und Gorgonien breiten sich nun kurzlebige, schnell wachsende Algen | |
im Mittelmeer aus. Garrabou sagt: „Die marinen Ökosysteme werden | |
banalisiert.“ | |
Schutzzonen für das Meer | |
Bleibt die Frage, was man dagegen tun kann – oder ob man überhaupt etwas | |
tun kann. „Natürlich werden wir keine Eiswürfel ins Meer werfen. Aber wir | |
müssen der Natur auf jeden Fall mehr Raum und Zeit geben, sich zu erholen“, | |
so Garrabou. Für ihn ist das [6][Meeresschutzabkommen der Vereinten | |
Nationen] der richtige Weg – es müsse nur wirklich umgesetzt werden, und | |
zwar so schnell wie möglich. Im März dieses Jahres einigten sich die | |
Mitgliedsländer der Vereinten Nationen nach jahrelangen Verhandlungen | |
darauf, 30 Prozent der weltweiten Meeresfläche unter Schutz zu stellen. | |
Für viele Tiere und Pflanzen gebe es einen gewissen Spielraum, sich den | |
neuen klimatischen Bedingungen anzupassen, erklärt Garrabou. Die bisher | |
gesammelten Daten deuten zwar darauf hin, dass der enorme Temperaturanstieg | |
die Anpassungsfähigkeit vieler Arten übersteigen wird. Aber die Natur sei | |
voller Überraschungen, so Garrabou. Deswegen brauche es geschützte Zonen, | |
in denen sie sich erholen kann. Mit weniger Motorbooten, geregelter | |
Fischerei und begrenzten Tauchzonen. | |
So wie im Port-Cros-Nationalpark. Nachdem die Population der Edlen | |
Steckmuschel vollständig verschwunden war, entdeckten Forscher vor drei | |
Jahren auf einem Tauchgang [7][acht jugendliche Steckmuscheln], die sich | |
wieder angesiedelt hatten. Die Forscher hoffen, dass diese Muscheln ein | |
neues genetisches Erbe entwickelt haben, um dem tödlichen Parasiten | |
widerstehen zu können. Mit Sicherheit könne man das noch nicht sagen, so | |
Gilles Martin, der Vorsitzende des Wissenschaftsrats: „Aber die wenigen | |
Muscheln, die wir lebend gesehen haben, haben wir geortet und schützen sie, | |
zum Beispiel dürfen dort keine Boote mehr ankern. Wir beobachten nun, wie | |
sie sich entwickeln.“ | |
Dieser Text entstand im Rahmen eines [8][Recherchestipendiums der Okeanos | |
Stiftung für das Meer.] | |
7 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://icm.csic.es/ca | |
[2] /Meeresoekologe-ueber-Korallenriffe/!5951172 | |
[3] /Hitzerekorde-im-Atlantik/!5946885 | |
[4] /Studien-zur-Erhitzung-des-Ozeans/!5931558 | |
[5] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/gcb.16301 | |
[6] /Hochseeschutzabkommen-kommt-voran/!5961624 | |
[7] https://www.portcros-parcnational.fr/sites/portcros-parcnational.fr/files/1… | |
[8] https://okeanos-stiftung.org/recherchestipendium/ | |
## AUTOREN | |
Carlotta Böttcher | |
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