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# taz.de -- Überfischung im Mittelmeer: Der Fischer als Gefahr
> Die Fischbestände im Mittelmeer leiden und die marinen Ökosysteme leiden
> auch. Von einem gesunden Meer profitieren jedoch nicht nur seine
> Bewohner.
Bild: Der Fischer Gérard Genta erinnert sich an eine Zeit, als es dem Meer noc…
Mittelmeer, Katamaran „Waka“ taz | „Dein Job hat so viele Freiheiten! Wie
glücklich du sein musst!“, erinnert sich Gérard Genta an die Kommentare von
Tourist*innen aus seiner Anfangszeit als Fischer zurück. Heute dagegen
würden er und seine Kollegen als Verbrecher wahrgenommen – als eine „Gefahr
für die Gesellschaft“, sagt der Mittsechziger von der Insel Porquerolles in
Südfrankreich. Damit sei gemeint: eine Gefahr für den ökologischen Zustand
der Meere, so Genta. Davon ist auch der Ort betroffen, an dem er täglich
seiner Arbeit nachgeht – das Mittelmeer.
Obwohl das Gewässer vor seiner Haustür nicht mal ein Prozent des gesamten
weltweiten Meeresgebietes ausmacht, beherbergt das Mittelmeer laut der
Meeresschutzvereinigung [1][Med Sea Alliance] eine der größten
Biodiversitäten – Pottwale, Meeresschildkröten, Tiefseekorallen,
Neptun-Gräser, aber auch beliebte Fischarten wie Dorade, Wolfsbarsch oder
Thunfisch leben hier.
Gleichzeitig ist es auch eines der meist überfischten Meere der Welt. 70
Prozent der Bestände werden laut der [2][Allgemeinen Kommission für
Fischerei im Mittelmeer (GFCM)] immer noch nicht nachhaltig befischt.
Nachhaltig zu fischen bedeutet nur so viel Fisch zu fangen, dass sich die
Populationen erholen können und die marinen Ökosysteme nicht langfristig
beschädigt werden. Doch die Nachfrage nach besonders beliebten Fischarten
wie beispielsweise dem Roten Thun sorgt dafür, dass er stark überfischt
wird.
Die EU habe sich mit ihrer Reform der Fischereipolitik lange besonders auf
gesündere Fischbestände in der Nordsee und im Atlantik konzentriert, sagt
Domitilla Senni, Präsidentin und eine der Gründer*innen der
Mediterranean Recovery Action-Organisation. „Als 2013 die europäische
[3][Common Fish Policy] erneuert wurde, vernachlässigte die EU weiterhin
den Schutz des Mittelmeers“, kritisiert Senni – und das, obwohl zu dem
Zeitpunkt bereits 90 Prozent der Fischbestände überfischt waren.
## Regularien auf Schutz von Nordsee und Atlantik ausgelegt
Damit verlor das Mittelmeer enorm an Artenvielfalt, der Lebensraum
verschlechterte sich und wichtige Ökosysteme wie Seegraswiesen oder
Korallenriffe wurden durch fahrlässige Fischerei gefährdet. Denn die neuen
Regularien wurden vorwiegend mit Fokus auf den Schutz der biologischen
Ressourcen in Nordsee und Atlantik festgelegt.
Ein Grund, warum das Mittelmeer von der EU lange vernachlässigt wurde, ist,
dass es lange als ein besonders schwieriger Fall galt – insgesamt teilen
sich 25 Staaten die Küste des Mittelmeers. EU und Nicht-EU-Staaten mit
unterschiedlichen politischen Situationen konnten sich nicht darauf
einigen, wie sie die Fischerei einheitlich verwalten sollten, erklärt
Senni.
Ein weiterer Grund wäre, dass sich die Vorgaben und Regularien, die
überwiegend für die Nordsee und den Atlantik bestimmt wurden, nicht so
leicht auf das Mittelmeer übertragen ließen, erläutert Senni. Athanassios
Tsikliras, Professor für Fischbiologie und Fischerei an der
Aristoteles-Universität in Thessaloniki erklärt, das Mittelmeer sei ein
stark diverses Ökosystem. Wegen des großen Artenreichtums schwimmen den
Fischern fast ausschließlich gemischte Fänge ins Netz. In einem gewünschten
Garnelenfang könnten zum Beispiel weitere kommerzielle Arten wie Seehecht
oder Rotbarsch, aber auch Haie, Seekatzen oder Seesterne landen.
Während die Fischer in der Nordsee Schwärme ganz bestimmter Fischarten
anpeilen, schwimmen den Trawlern im Mittelmeer bei einem Fang bis zu 200
verschiedene Arten ins Netz. Aus diesem Grund sei es im Vergleich zur
Nordsee oder dem Atlantik quasi unmöglich, Vorgaben für Fischer zu machen
und Quoten durchzusetzen, erklärt Tsikliras.
## Überfischung der Bestände gesunken
Denn die industrielle Fischerei habe sich im Mittelmeer noch nicht so stark
entwickelt wie in anderen Meeren. Doch gerade kleine Fischerboote unter 12
Meter machen bis zu 80 Prozent der Fischereiflotte im Mittelmeer aus. Diese
wurden jedoch lange kaum oder gar nicht registriert, sodass die Fänge
dieser Kleinfischer nicht nachverfolgt werden konnten.
Seit die EU jedoch beschlossen hat, den Zustand des Mittelmeers zu
verbessern, lassen sich Veränderungen feststellen: Die Überfischung der
Fischbestände ist laut der GFCM um etwa 15 Prozentpunkte gesunken, 75
Prozent gelten immer noch als überfischt. Das heißt, dass mehr Fische
gefangen werden, als Nachwuchs produziert werden kann und die Fänge auch
durch verstärkten Fischereiaufwand nicht mehr erhöht werden können.
Die Kontrollen und Vorschriften im Mittelmeerraum würden längst nicht
ausreichen, um die Fischbestände nachhaltig zu schützen, sagt Tsikliras.
„Die Vorschriften brauchen ein regelmäßiges Update, etwa wie viele Fische
eines Fischbestandes gefangen werden dürfen. Diese Quoten wurden 1994
festgelegt, jedoch sind die Fischbestände wegen der Überfischung seitdem
kleiner geworden“, erklärt er. Auch neue Technologien wie Sonars, die per
Schallimpulse Fischschwärme unter Wasser besser aufspüren können, würden
nicht berücksichtigt.
EU verfehlt Ziel, illegale Fischerei zu beenden
Eine weitere Bedrohung für marine Ökosysteme ist die [4][illegale
Fischerei]. Diese beginnt schon beim Fischen mit stärkeren Schiffsmotoren
oder größeren Netzen als erlaubt. Die Tricks einiger Fischer seien schwer
zu überwachen, sagt Tsikliras. Die Vorschriften seien vorhanden, jedoch
scheitere es an der Umsetzung durch die nationalen Hafenbehörden. Diese
erlauben gewissermaßen illegale Fischerei. Die illegale Fischerei verdrei-
bis vervierfache den Umsatz der professionellen Fischerei, erklärt der
Forscher.
Unter illegaler, ungemeldeter und unregulierter Fischerei – kurz
IUU-Fischerei – versteht man das Fischen mit verbotenen Fanggeräten,
außerhalb von Sperrzeiten, innerhalb von Schutzgebieten. Auch wenn Fischer
Fische fangen, für die sie keine Lizenz oder Fangquote haben, ist das IUU.
Die EU wollte diese illegale Fischerei zwar bis 2020 beenden. Dafür stellte
die EU-Kommission insgesamt 580 Millionen Euro bereit, um Überwachungs-,
Kontroll- und Durchsetzungsmaßnahmen zu fördern. Das Ziel wurde jedoch
verfehlt – und auf 2027 verlegt. Die Umsetzung werde voraussichtlich sogar
bis 2030 dauern, meint Tsikliras.
„Fisch wird immer knapper, und wenn nicht genügend Ressourcen vorhanden
sind, um den wirtschaftlichen Bedarf zu decken, neigen Fischer dazu,
Beschränkungen zu ignorieren“, sagt Meeresschützerin Senni. Deshalb brauche
es vor allem abschreckende Sanktionen. Denn die Fischer kennen die Beträge
der Bußgelder und können sie in ihr Budget einplanen. „Es gibt keinen
Grund, warum ein Fischer, der erwischt wird, weiter fischen sollte, also
sein Fahrzeug nicht verlieren sollte oder andere ernsthafte Maßnahmen, die
einen zweimal nachdenken lassen, ob man es machen sollte“, argumentiert
sie.
## Mehr Schutzgebiete und mehr Sicherheit
Damit es auch in Zukunft genügend große Fischbestände für Fischer und
Ökosysteme gibt, müssen laut Tsikliras mehr Schutzgebiete eingerichtet und
die Sicherheit auf See gefördert werden. Dazu gehöre bessere eine
Ausrüstung, beispielsweise zur Kommunikation auf See. Außerdem sollten
möglichst alle Boote jederzeit überwacht werden. Ende Oktober 2023 stimmte
das Europäische Parlament einer neuen Kontrollverordnung zu, laut der mit
einigen Ausnahmen auch kleine Fischerboote und Freizeitfischer ihre Fänge
bei den jeweiligen Hafenbehörden melden müssen. „Doch auch hier werden die
Fischer Wege finden, die Kontrollen zu umgehen“, vermutet Senni.
Dass auch Fischer von strengen Vorschriften und Meeresschutzmaßnahmen
profitieren, zeigt das „Jabuka Pomo Pit“ im Hauptfanggebiet von Italien und
Kroatien. Das über 2.700 Quadratkilometer große Gebiet im Adriatischen Meer
wird seit 2017 geschützt. Die Fischbestände können sich hier erholen, die
Fänge in angrenzenden Gebieten werden immer größer – und auch die Größe …
Fische legt zu.
Dieser Text entstand im Rahmen eines [5][Recherchestipendiums der Okeanos
Stiftung für das Meer].
7 Mar 2024
## LINKS
[1] https://www.medseaalliance.org/
[2] https://www.fao.org/gfcm/en/
[3] /Schutz-der-Fischbestaende-in-der-EU/!5937983
[4] /Keine-Erfassung-des-Schiffsverkehrs/!5986416
[5] https://okeanos-stiftung.org/recherchestipendium/
## AUTOREN
Anna Ballay
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