# taz.de -- Kinder- und Jugendparlament in Berlin: Wahlfach Mitbestimmung | |
> In Berlins vermeintlichem Problembezirk Neukölln versuchen Kinder und | |
> Jugendliche ein eigenes Parlament einzurichten – eine Lehrstunde in | |
> Demokratie. | |
Bild: Gute Stimmung während der Auftaktveranstaltung auf dem Rütli-Campus in … | |
Berlin-Neukölln taz | Um 18:45 Uhr fragt der zwölfjährige Hadi: „Wie lange | |
dauert das noch?“ Arda zuckt mit den Schultern, er ist 15 und weiß es auch | |
nicht. Seit fast zwei Stunden sitzen die beiden mit vier anderen Kindern | |
und Jugendlichen an einem Mittwochabend im Dezember 2023 in der | |
Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Neukölln oben auf der | |
Zuschauertribüne. Hadi schaut auf sein Handy, zockt irgendwas, Anita sagt: | |
„das ist super langweeeeilig“, und zieht die Wörter so lang, wie sich der | |
Abend für sie anfühlt. Die Politiker:innen unten sind mittlerweile bei | |
Punkt 8.4 der Tagesordnung angelangt, Hadi, Arda und die anderen sind erst | |
bei Punkt 12.10 dran. Jonathan schüttelt seine Beine, die sind ihm | |
eingeschlafen. | |
Politik ist mühsam, zäh und unverständlich, das scheint die erste Lektion | |
zu sein, die die sechs Kinder und Jugendlichen hier lernen. „Wir sind damit | |
am Ende der mündlichen Anfragen“, sagt der Vorsitzende der BVV irgendwann. | |
Die Abstimmung darüber, ob Neukölln ein rede- und antragsberechtigtes | |
Kinder- und Jugendparlament bekommen soll, wird vorgezogen. „Jetzt seid ihr | |
dran“, flüstert die Sozialarbeiterin Caro Salzmann durch die Reihe. | |
Hadi steckt sein Handy weg und rückt auf seinem Sitz ein Stück nach vorne. | |
Er beugt sich über die für ihn ein bisschen zu hohe Brüstung. Im April 2019 | |
hatte die SPD einen Antrag in der BVV eingereicht, in dem das Bezirksamt | |
Neukölln gebeten wurde, die Einführung eines Kinder- und Jugendparlaments | |
für Neukölln zu prüfen. Jetzt, fünf Jahre später, ist es so weit, und es | |
wird abgestimmt, ob die Kinder und Jugendlichen auch hier, in der BVV, | |
sprechen und Anträge einreichen dürfen. Ohne dieses Recht hätte das | |
Parlament keinen tatsächlichen Einfluss und die ganze Beteiligung wäre mehr | |
Spiel als Ernst. | |
Damals, vor fünf Jahren, hat sich das Kinder- und Jugendbüro Neukölln der | |
Sache angenommen und Veranstaltungen organisiert, um Kinder und Jugendliche | |
für das Projekt zu begeistern. Eine wechselnde Gruppe von etwa 20 Kindern | |
und Jugendlichen hat sich geformt, die sogenannte Initiativgruppe. | |
Die hat sich dann fast allein um alles gekümmert. Sie haben E-Mails | |
geschrieben, sich mit Abgeordneten getroffen und sich Regeln für die | |
Geschäftsordnung des KJPs überlegt. Auch während Corona sind sie | |
drangeblieben. Ihnen sei es von Anfang an wichtig gewesen, zu verhindern, | |
dass sich wieder nur die engagieren, die eh schon | |
Schülersprecher:innen sind oder deren Eltern schon politisch aktiv | |
sind. | |
Im Hintergrund haben ihnen Sozialarbeiterinnen den Rücken freigehalten und | |
für Süßigkeiten gesorgt: Caro Salzmann und Susi Hermann. Susi Hermann wird | |
vom Bezirksamt bezahlt. Caro Salzmanns Stelle wurde in diesem Jahr neu | |
geschaffen. Die hatte die Initiativgruppe, also die Kinder und Jugendlichen | |
selbst, beim Bezirksamt gefordert – mit Erfolg. Angestellt ist Salzmann | |
über den freien Träger „Demokratie & Dialog“. | |
Auf der BVV-Ebene hat die Gruppe Unterstützung von den Grünen, der SPD und | |
den Linken. Die CDU ist skeptisch gegenüber dem Antrag auf Antrags- und | |
Rederecht, die AfD hat sich auf die erste Mail der Initiativgruppe nie | |
zurückgemeldet. Kurz vor der entscheidenden BVV-Sitzung am 13. Dezember | |
lautet die spannende Frage für die Jugendlichen und Sozialarbeiter:innen, | |
ob die Stimmen der Grünen, SPD und Linken reichen werden. | |
Neukölln taucht meist dann in den Medien auf, wenn es um schlechte | |
Nachrichten geht: um Jugendgewalt, um gescheiterte Integration oder um | |
muslimischen Antisemitismus. In der Silvesternacht 2022 waren da die | |
„Krawalle“ in Neukölln, die eine bundesdeutsche Debatte über verfehlte | |
Migrationspolitik auslösten. [1][Da war im heißen Sommer 2023 eine | |
überhitzte Sommerlochdiskussion über scheinbar außer Kontrolle geratene | |
Jugendgewalt im Freibad.] Nach dem Angriff der islamistischen | |
Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober fanden im muslimisch | |
geprägten Neukölln Pro-Palästina-Demonstrationen auf dem Hermannplatz | |
statt. | |
Im KJP soll den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, | |
mitzureden, statt dass nur über sie gesprochen wird. Sie sollen ihre | |
eigenen Themen setzen können. Aber ob sie ihre Stimme in der BVV erheben | |
dürfen, wird immer noch von Erwachsenen entschieden. | |
Rückblende. Fast einen Monat vor der Abstimmung in der BVV, am 20. | |
November, sitzt Mohammad aufgeregt auf seinem Stuhl in der großen | |
Mehrzweckhalle auf dem Campus Rütli, [2][der einst notorischsten Schule | |
Deutschlands]. Heute findet hier die Auftaktveranstaltung des Kinder- und | |
Jugendparlaments Neukölln statt. Die Initiativgruppe, die seit 2019 aktiv | |
war, soll heute präsentieren, was sie bisher geschafft hat. Ein aufregender | |
Tag für die Jugendlichen. | |
Mohammad ist zehn Jahre alt und er hat ein verdammt breites Grinsen im | |
Gesicht, er hofft, heute berühmt zu werden. Susan sagt: „Der redet schon | |
seit Wochen von nichts anderem mehr.“ Sie verdreht die Augen. Susan ist 17 | |
Jahre alt, sie fläzt sich auf ihrem Stuhl in einem grauem, kuscheligen | |
Jogginganzug und diskutiert mit Mohammad über den besten Fußballer der | |
Welt. | |
Mohammad und Susan sitzen hier mit 70 anderen Kindern und Jugendlichen, | |
manche von ihnen wurden von ihren Eltern gebracht, andere sind allein | |
gekommen oder in Begleitung von Sozialarbeiter:innen. Sie wachsen in einem | |
Umfeld auf, in dem Lehrer:innen, Medien und Menschen irgendwo außerhalb von | |
Berlin schon eine Meinung zu ihnen haben, bevor sie selbst wissen, wer sie | |
eigentlich sind. Was sie wissen, ist, dass sie offenbar in einem Bezirk | |
leben, den die Erwachsenen „Problembezirk“ nennen. | |
An diesem Montag werden auch die Kinder und Jugendlichen von schlecht | |
ausgestatteten Schulen erzählen, von dreckigen Matratzen auf der Straße und | |
von den vielen Obdachlosen. Sie werden von ihrer Angst vor der AfD erzählen | |
und von Lehrer:innen, die im Unterricht Dinge sagen, die sie als | |
rassistisch und diskriminierend empfinden. Sie werden erzählen, dass ihnen | |
von manchen Lehrer:innen in der Schule gesagt werde, dass sie früher | |
oder später selbst Teil des Problems sein werden. | |
Die Kinder und Jugendlichen hatten drei Möglichkeiten, um beim KJP | |
mitzumachen. Jede Schule, jede Freizeiteinrichtung und jeder Sportverein in | |
Neukölln konnte Wahlen abhalten, um Abgeordnete zu bestimmen. Susan und | |
Mohammad sind beide in ihrem Heimat-Jugendzentrum gewählt worden, dem | |
Kindertreff Delbrücke. | |
Außerdem wurden 150 Kinder und Jugendliche aus den 45.000 Personen zwischen | |
6 und 21 Jahren, die in Neukölln gemeldet sind, per Losverfahren | |
ausgewählt. 22 der 150 angeschriebenen Kinder und Jugendlichen hätten sich | |
zurückgemeldet. „Das ist ziemlich gut“, findet Caro Salzmann. Schließlich | |
konnten sich Kinder und Jugendliche auch eigeninitiativ bewerben. So seien | |
die meisten hergekommen, sagt die Sozialarbeiterin. | |
Die Anwesenden werden ihrem Alter entsprechend in Gruppen aufgeteilt. Vorne | |
rechts in der Halle sitzen die 15- bis 18-Jährigen. Sie sollen den Flyer | |
vorlesen, in dem die Arbeitsweise des KJPs erklärt wird. Fünfmal im Jahr | |
soll sich das gesamte KJP treffen, dort sollen Inhalte diskutiert und | |
Forderungen aufgestellt werden. Jemand stellt Baklava in die Runde, ein | |
Junge in schwarzem Kapuzenpulli, schwarzer Jogginghose und leichtem | |
Bartwuchs sagt: „Junge, da hab ich Bock drauf.“ | |
Dem KJP wird ein jährliches Budget aus dem Bezirkshaushalt zugesprochen, | |
wie viel das in diesem Jahr sein wird, ist noch nicht ganz klar. Im | |
vergangenen Jahr waren es 16.000 Euro, und die wurden vor allem genutzt, um | |
Werbematerial und Wahlunterlagen zu finanzieren. | |
Der Großteil der inhaltlichen Arbeit soll in den sogenannten Arbeitsgruppen | |
stattfinden, die sich etwa einmal im Monat treffen werden. Die Ergebnisse | |
werden dann in die großen Sitzungen getragen und von da aus in das | |
Bezirksparlament Neukölln, die BVV. Die Arbeitsgruppen werden sich nach der | |
Schule treffen, sagt der Betreuer. Leicht genervte Blicke zur Seite: doch | |
nicht schulfrei. „Das fühlt sich nicht wie Arbeit an, wenn man Spaß dran | |
hat!“, sagt der Betreuer, sichtlich bemüht, Motivation zu vermitteln. | |
Lisa meldet sich und sagt, Antirassismus-Aufklärung läge ihr sehr am | |
Herzen. Luisa sagt, dass es in Berlin einen krassen Lehrermangel gebe, | |
Lehrer würden deswegen in Fächern unterrichten, von denen sie keinen Plan | |
hätten. „Meine Schule hat Geräte“, sagt ein Mädchen mit glatten rot-blon… | |
Haaren, „die sind älter als wir alle.“ Lautes Lachen. „Ein | |
Overheadprojektor ist mal explodiert.“ Ihre Worte sind Ausrufezeichen, sie | |
sagt sie aber so, als würde sie das alles, die Overheadprojektor und die | |
Veranstaltung hier, eigentlich nicht interessieren. | |
Drei Mädchen in der Runde können nicht so gut Deutsch, eine meldet sich | |
vorsichtig und reicht ihren Zettel dem Betreuer, der liest vor: „Saubere | |
U-Bahnhöfe“. Der Betreuer schreibt auf das Flipchart „sauberes Neukölln�… | |
Auf dem Zettel der anderen steht „Bücherei“, sie behält ihren Zettel in d… | |
Hand und meldet sich nicht. | |
Im Gegensatz zu den Älteren ist die Gruppe der 11- und 12-Jährigen kaum zu | |
bändigen. Sie diskutieren über Barrierefreiheit an U-Bahnhöfen, darüber, ob | |
es jetzt genug oder zu wenig Fahrstühle gibt, über Obdachlose, die nicht | |
obdachlos sein wollen, und über Rassismus, ihre Forderung: „weniger | |
Rassismus“. Über bessere Bezahlung für Busfahrer („damit die bessere Laune | |
haben“) und für Reinigungskräfte („damit es sauberer ist“). | |
Am Ende will der Betreuer, dass sie gemeinsam entscheiden, was ihnen am | |
wichtigsten ist. Sie einigen sich auf „mehr Obdachlosenhäuser“. Der | |
Betreuer fragt, wer das bezahlen soll. Ein Mädchen überlegt, sagt „der | |
Staat“, der Junge links daneben grinst schelmisch: „Wir ziehen den Staat | |
ab.“ | |
Am Nachmittag kommen einige Politiker:innen vorbei. Ein paar Kinder | |
wollen Selfies machen mit dem SPD-Bezirksbürgermeister. Martin Hikel beugt | |
seinen langen Körper runter zu den kleinen Kinderköpfen. Viele der | |
Politiker:innen sind von der CDU. Markus Oegel ist | |
Fraktionsvorsitzender der CDU Neukölln. Er sagt: „Ich finde die Idee gut, | |
lediglich der Weg muss noch einmal diskutiert werden.“ Er sagt auch, er | |
fände es schade, dass die Kinder bisher noch nicht geredet hätten in den | |
sie betreffenden Ausschüssen. Eingeladen habe er sie aber auch nicht, gibt | |
er zu, und Ausschüsse finden normalerweise in den Abendstunden unter der | |
Woche statt – nicht gut kompatibel mit einem frühen Schulstart am nächsten | |
Morgen. | |
Die Jugendlichen der Initiativgruppe erzählen, sie hätten im Vorfeld alle | |
Fraktionen kontaktiert, um ihnen ihr Vorhaben und Anliegen zu erklären. Die | |
CDU-Fraktion habe folgenden Termin vorgeschlagen: Halloween, 18 Uhr. Die | |
Kinder und Jugendlichen haben mithilfe von ChatGPT eine Antwort verfasst. | |
Ihre Anweisung an ChatGPT war, „auf Beamtendeutsch“ zu erklären, warum so | |
ein Vorschlag respektlos sei. | |
Die Betreuer:innen fassen auf der Bühne zusammen, was die Kinder und | |
Jugendliche am meisten zu beschäftigen scheint: soziale Gerechtigkeit | |
beziehungsweise das Gegenteil davon: soziale Ungerechtigkeit. Die möglichen | |
Themen für die Arbeitsgruppen, die heute herausgearbeitet wurden, sind | |
folgende: Klima, Spenden, Verkehr, Diversität, Inklusion, Spielplätze, | |
Freizeit, Schule und Sicherheit. Die Belange, die die Kinder und | |
Jugendlichen beschäftigen, gehen also weit über das kommunale und ihr | |
eigenes Interesse hinaus. | |
Ein Anruf beim Politikberater und Beteiligungsexperten Erik Flügge. Das | |
Ziel von Kinder- und Jugendbeteiligung sei zweigeteilt, sagt er. Es gehe | |
einerseits um politische Bildung und andererseits um tatsächliche | |
politische Mitbestimmung, als Ersatz dafür, dass Kinder und Jugendliche | |
nicht wählen dürfen. Er sagt: „Was politische Bildung angeht, ist ein KJP | |
eher schwach, weil das Miterleben begrenzt ist auf diejenigen, die | |
tatsächlich mitmachen.“ | |
Die 90 Kinder des KJP-Neukölln bilden nur 0,2 Prozent der 45.000 gemeldeten | |
Kinder und Jugendlichen in Neukölln ab. Diejenigen, die Teil des Parlaments | |
sind, erfahren aber ein selbstermächtigendes Gefühl von politischer | |
Teilhabe, wenn sie auf kommunaler Ebene tatsächlich mitwirken dürfen. | |
In der Hinsicht ist das Kinder- und Jugendparlament ein starkes Instrument | |
der Teilhabe. Man dürfe die Erwartungen an ein KJP nicht überfrachten, | |
denn: Sowieso könne kein Modell „alle Probleme auf einen Schlag lösen“, | |
sagt Flügge. Es brauche eine breite Demokratiebildung, die neben der | |
Stärkung von Schülervertretungen, der Demokratisierung von Jugendzentren | |
und projektbasierten Initiativen auch umfasst, Eltern dabei zu | |
unterstützen, bereits zu Hause Demokratie zu leben. | |
Das KJP-Neukölln soll erst mal für ein Jahr laufen, dann soll es eine neue | |
Wahlperiode geben. Wenn die Beteiligten aber merken, dass ein | |
Zweijahresrhythmus sinnvoller ist, weil die Arbeitsgruppen gerade erst ins | |
Arbeiten gekommen sind, kann das auch angepasst werden, sagt Caro Salzmann. | |
Wie schwerfällig so ein Projekt ist, merken die Kinder und Jugendliche das | |
erste Mal an dem Wochenende nach dem 20. November, als sich etwa 30 von | |
ihnen im Wannseeforum versammeln, ein Tagungsort etwas außerhalb von | |
Berlin. Hier am Wannsee liegen keine Matratzen auf der Straße, kein Dreck, | |
keine Spritzen, nur Grün und Wasser, so weit das Auge reicht. Hier, wo die | |
Unterschiede zu Neukölln ins Auge springen, sollen die Kinder und | |
Jugendliche lernen, ihre Stimme zu finden. | |
Vorne stehen Vinzenz Sengler und Christina Rogers, zwei | |
Sozialpädagog:innen, die auch das KJP in Charlottenburg begleiten, das es | |
bereits seit fast 20 Jahren gibt. Sie erzählen von Methoden, von bewährten | |
Strukturen und davon, wenn Politiker:innen die Kinder doch nur | |
scheinbar beteiligten, „wenn Politiker sich nur mit euch dekorieren“. Die | |
Kinder rutschen über den Vormittag hinweg immer weiter auf ihren Stühlen | |
runter, schauen raus. Die Luft ist längst weggeatmet. | |
Christina Rogers und Vinzenz Sengler haben die KJPs in Charlottenburg und | |
in Hellersdorf-Marzahn mehrere Jahre begleitet. Sie wissen, dass die | |
Begleitkräfte enorm wichtig sind, dass es wichtig ist, dass jemand wie Caro | |
Salzmann eine Stelle hat und diese engagiert ausführt. Dass die Eltern | |
wichtig sind, die den Kindern erlauben, sich neben der Schule zu | |
engagieren. Die Schulen, die den Kindern schulfrei geben, damit sie zu den | |
Treffen können. | |
Kurzum: Rogers und Sengler sind sich bewusst, wie elementar die Rolle der | |
Erwachsenen ist. Sie müssen es den Kindern möglich machen, sich zu | |
engagieren. Auch dadurch, dass logistische Fragen geklärt werden. Beim KJP | |
Hellersdorf-Marzahn habe es beispielsweise eine Diskussion darüber gegeben, | |
wie die Kinder zu den Treffen kommen, wenn die Eltern sie nicht bringen | |
können, erzählt Rogers. In einem Workshop seien dann verschiedene | |
Transportmöglichkeiten diskutiert worden. | |
Das KJP Charlottenburg besteht bereits seit 2003. Auf seiner Website steht, | |
dass es unter anderem an Fragen der Verkehrssicherheitsthemen beteiligt | |
war, dass auf seinen Antrag hin eine neue Jugendfreizeiteinrichtung | |
entstanden sei, weil das KJP gezeigt hätte, dass das Geld dafür vorhanden | |
war, und dass durch sie die Reinigung von Spielplätzen „kinder- und | |
bürgerfreundlich optimiert“ wurde. | |
Deutschlandweit gibt es schon seit den 1960er Jahren KJPs. Das erste fand | |
1962 in Wolfsburg statt, in den 1980er Jahren wurde das Konzept vor allem | |
in Baden-Württemberg angewendet. In einer kurzen Pause, in der sich die | |
Erwachsenen Kaffee holen und die Kinder draußen rumspringen, frage ich | |
Salzmann, das wievielte KJP in Berlin sie sind. „Das vierte“, sagt sie. | |
Arda in weißem Trainingsanzug mischt sich ein: „Und das beste!“ Er grinst. | |
Dann wird es endlich wieder interaktiv. Die Kinder und Jugendlichen sollen | |
in Gruppen besprechen, warum es das KJP geben soll und was das KJP in | |
Neukölln besonders macht. „Die eigene Generation weiß besser, was sie | |
braucht“, sagt ein Junge. Alle klatschen. Der nächste: „Erwachsene | |
bestimmen für andere.“ Klatschen. Ein Mädchen sagt eloquent: „Politiker | |
können wunderbar reden, aber da kommt nicht unbedingt was Sinnvolles bei | |
raus“. Klatschen. Das rotblonde Mädchen, die an der Auftaktveranstaltung | |
von den kaputten Overheadprojektoren gesprochen hatte, sagt: „Neukölln wird | |
als Problembezirk gesehen.“ Pause. „Unsere Toiletten gehen nicht mehr auf. | |
Wir müssen in die Politik rein, um was zu ändern.“ Klatschen. | |
Arda sagt: „Ältere haben zu viel Macht über uns, wir müssen uns | |
einbringen.“ Klatschen. Yuri überlegt, rutscht auf seinen Händen herum und | |
sagt dann: „Alten Leuten ist das häufig egal, weil sie nicht mehr lange | |
leben.“ Klatschen. Yuri ist acht, er hat noch verdammt lange zu leben. Ein | |
Mädchen sagt: „Wir Kinder sehen Neukölln anders als Erwachsene. Manche | |
dreckigen Stellen sehen nur wir. Die fallen Erwachsenen nicht auf wegen dem | |
Alltag, zum Beispiel Matratzen, die rumliegen.“ Sie redet noch von dem | |
Schnee, der nicht liegen bleibt, und davon, dass sie die Erde noch | |
bräuchten, dass sie für sie kämpfen müssten. Ihre Kinderstimme klingt dabei | |
ziemlich ernst. | |
Dann geht es um die Frage, was das KJP in Neukölln besonders macht. Arda | |
sagt: „Ich bin Kurde, du Russin“, er schaut das Mädchen mit den rotblonden | |
Haaren an, „wir sind alle anders aufgewachsen und so. Wir sind anders als | |
Marzahn, da ist alles deutsch. Wir haben mehr Wurzeln in anderen Ländern.“ | |
Nachdem Arda geredet hat, sagt jemand: „Wie ein Löwe!“ Arda grinst stolz. | |
Er kann schon ganz gut reden, an seiner Schule ist er in der Politik-AG. | |
Bis vor einem Jahr habe er in der [3][High-Deck-Siedlung] gewohnt, der | |
berüchtigtsten Siedlung Neuköllns, dort, wo Leute hingehen, wenn sie | |
erfahren wollen, wie es den Kindern und Jugendlichen in Neukölln wirklich | |
geht. Jetzt lebt er in Rudow. Da sei einiges anders, meint er. Rudow ist | |
ein Randbezirk von Neukölln, dort sind die Häuser flacher als am | |
Hermannplatz und es gibt sogar einen Dorfplatz. | |
Einen Monat später, Anfang Dezember in der BVV, lehnt sich Hadi über die | |
Brüstung, um besser zu sehen. Er erkennt den Bürgermeister wieder, „mit dem | |
ich hab ich Sching, Schang, Schong gemacht“, ruft er. Neben ihm sitzt Arda | |
in seinem wie immer weißen Pulli, mit seinem leichten Oberlippenbart und | |
der Zahnspange, rechts daneben die 17-jährige Beril. | |
Jemand sagt unten: „Nur wenn die Bezirke funktionieren, funktioniert | |
Berlin.“ Hadi, Arda und Beril klopfen laut auf die hölzerne Brüstung vor | |
ihnen, das finden sie gut: Sie als Teil von Berlin, Neukölln als | |
unabdingbarer Teil von Berlin. Unten geht es um die Schuldenbremse, um das | |
fehlende Geld, um die Verträge, die nicht verlängert werden, und um die | |
Kinder- und Jugendeinrichtungen, die darunter leiden werden. Es sei von | |
allem zu wenig da. Ein CDU-Politiker sagt: „Geld sollte man haben, bevor | |
man es ausgibt.“ Die anderen CDU-Politiker klopfen auf die Tische, der Rest | |
des Saals verdreht die Augen. Jemand redet, es wird wieder laut geklopft, | |
Hadi will mitmachen, Arda zischt ihn an, „hey, das ist einer von der AfD“. | |
Die Guten sind die Linken, Grünen und die SPD, die Bösen die CDU und ganz | |
besonders die AfD. Diese Sichtweisen scheinen sich die Kinder schon | |
einverleibt zu haben. Arda ist sogar SPD-Mitglied, einer aus der | |
Initiativgruppe hat bei der Bundestagswahl Werbung für die Grünen gemacht. | |
Und das beides, obwohl sie selbst noch nicht wählen dürfen. | |
Der nächste Sprecher ist wieder von der AfD, diesmal bleibt es leise oben | |
im Zuschauerraum. Warum Hadi die AfD nicht mag? „Weil sie mich abschieben | |
wollen, obwohl ich einen deutschen Pass habe“, sagt er. Er ist 12. „Die | |
sind unfair. Die sollen sich mal vorstellen, sie kämen in ein anderes Land | |
und würden so behandelt.“ | |
Als der Antrag für die Abstimmung über das Rede- und Antragsrecht des KJPs | |
vorgezogen wird und alle wieder aufmerksam zuhören, werden das erste Mal an | |
diesem Abend die Kinder und Jugendlichen direkt angesprochen. Alle | |
Fraktionen bis auf die AfD halten eine Rede zum Rede- und Antragsrecht. Ein | |
Abgeordneter der Linken sagt: „Manche Kinder sind weiter als Erwachsene.“ | |
Hadi macht ein ungläubiges Gesicht, shish, hat der das gerade wirklich | |
gesagt? Die Kinder vergessen kurz, dass sie nicht klopfen dürfen, und hauen | |
mit der flachen Hand auf die Brüstung. | |
Zweieinhalb Stunden mussten sie warten, bis darüber abgestimmt wird, ob ihr | |
Engagement irgendeinen Einfluss haben wird. Am Ende steht es: 28 Stimmen | |
dafür, 15 dagegen. Auf der einen Seite Linke, Grüne und SPD, auf der | |
anderen CDU und AfD. Eine Stimme weniger und es hätte nicht gereicht. | |
Arda und Beril sitzen für ein kurzes Interview nach der Abstimmung noch auf | |
einer Holzbank im Rathaus Neukölln. Auf dem Weg zur Toilette kommen ein | |
paar Erwachsene vorbei. Eine Grünenpolitikerin, die sich wirklich für sie | |
zu freuen scheint und ihnen ungefragt erzählt, dass sie auch immer noch | |
nervös sei, wenn sie vor vielen Menschen spreche. Dann ein grauhaariger | |
SPD-Politiker, der sagt: „Wenn man die anderen richtig anscheißen kann, | |
macht’s auch Spass!“ Ein Lokaljournalist, ähnlich alt wie der | |
SPD-Politiker, er hat einen Tipp für Arda und Beril, das Wichtigste seien | |
die Fotos: „Wenig tun, viel Publicity!“ Arda und Beril nicken freundlich, | |
es ist nicht zu erkennen, was sie von den Tipps halten. | |
Der nächste Termin für das KJP ist am 23. Januar. Caro Salzmann ist | |
zuversichtlich, dass die Kinder wiederkommen, bisher hätten sich nur vier | |
abgemeldet. Wenn im Sommer noch 70 am Start sind, sei das gut, sagt sie. | |
19 Jan 2024 | |
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Lea Schönborn | |
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