# taz.de -- Ein Abend mit einem alten Freund: Unfreiwillig in Neukölln | |
> Der Autor wurde gefragt, ob er in Neukölln etwas trinken gehen möchte. | |
> Schnell hatte er das Gefühl, mit seiner Zusage einen Fehler gemacht zu | |
> haben. | |
Bild: „Wie immer überkam mich ein komisches Gefühl der Beklemmung, sobald i… | |
Ein alter Freund, mit dem ich eigentlich schon lange keinen Kontakt mehr | |
gehabt hatte, schrieb mir, ob ich mit ihm etwas trinken gehen wollte. Er | |
würde gerne mal wieder nach [1][Neukölln] gehen, sagte er. Ich war schon | |
sicher seit über zwei Jahren nicht mehr dort gewesen, also zum Trinken, und | |
sagte nur zögerlich zu. | |
Wie immer überkam mich ein komisches Gefühl der Beklemmung, sobald ich mich | |
in Neukölln befand. Schon auf dem Weg dorthin hatte mir ein Herr in der U6 | |
gleichzeitig Koks verkaufen und zur [2][Intifada] aufrufen wollen. Ich kann | |
nicht leugnen, dass ich mich schon zu diesem Zeitpunkt gefragt hatte, ob | |
ich den Bitten meines alten Freundes nicht zu sehr nachgegeben hatte. | |
Auf dem Weg von der U-Bahn zu der Kneipe, in der wir uns verabredet hatten, | |
ereignete sich die nächste seltsame Begebenheit. Ich lief vorbei an einem | |
Kino und sah eine Person mit wasserstoffblond gefärbtem Haar, die von zwei | |
jungen Männern gejagt wurde. Ich nahm sofort ihre Fährte auf, doch verlor | |
ich sie nach drei oder vier Blöcken. Auf einem Spielplatz sah ich mehrere | |
junge Personen, die Stiefel mit riesigen Schnallen zu tragen schienen. | |
Etwas verwirrt gelangte ich wieder zu der Straße, die ich eigentlich | |
entlanggehen musste, um zum Peppi Guggenheim zu gelangen. Dort war ich | |
nämlich mit meinem alten Freund verabredet. Als ich die warme, verrauchte | |
Kneipe betrat, überkam mich ich sofort ein heftiger, stechender | |
Kopfschmerz. Die Gäste dort, so schien mir, waren in einer vulgären, aber | |
gleichzeitig ängstlichen Stimmung. Ich verstand nicht, warum man auf diese | |
Weise seinen Samstagabend verbringen würde. | |
Da mein Freund noch nicht da zu sein schien und es an keinem Tisch einen | |
freien Platz gab, setzte ich mich an die Bar. Und bestellte ein kleines | |
Bier. So würde es nicht schal werden, dachte ich, wenn ich langsam trinken | |
würde, was ich an jenem Abend zu tun gedachte. Während ich an der Bar saß | |
und das Bier trank, erblickte ich an einem mir nahen Tisch eine Frau. Sie | |
war dünn und hatte gepflegtes, glattes Haar. Ihr verschmitztes Grinsen und | |
ihre strahlenden Augen machten mich neugierig. | |
Ich lächelte ihr zu und da merkte ich, wie sich im Augenwinkel eine fiese, | |
hässliche Fratze in mein Sichtfeld schob. Ein junger Mann mit wuscheliger, | |
wilder Frisur, der sich direkt neben der Frau befand, hatte meinen Blick | |
bemerkt. Er versuchte, so böse zu schauen, wie er nur konnte, womöglich, | |
dachte ich, machte er das aber auch gar nicht mit Absicht. Er sah aus, als | |
ob er mich als tiefe, existentielle Bedrohung betrachten würde. | |
Ich hatte keine Lust auf Stress, also drehte ich mich wieder um und sah dem | |
Barkeeper dabei zu, wie er seine Drinks mixte. Mein alter Freund ließ noch | |
immer auf sich warten. Es dauerte jedoch nicht lange, da stand die Frau mit | |
dem verschmitzten Grinsen neben mir, um etwas an der Bar zu bestellen. Ich | |
lächelte sie an und auch sie lächelte nun zurück. Doch da schob sich auch | |
schon der junge, wilde Mann zwischen uns. | |
Ich war so überrascht von seinem Übergriff, dass ich mich kaum abwenden | |
konnte. Ich spürte seinen warmen Atem und seine Bartstoppeln auf meiner | |
Wange. Ich erinnere mich noch an die Verwirrung, dass er mich tatsächlich | |
küssen wollte. Noch im selben Moment griff ich an seinen Pullover und ich | |
merkte, wie ich etwas davon herunterriss. Als ich die Hand öffnete, lag in | |
meiner Handfläche ein Pin. Neben einer Europafahne zeigte er eine andere | |
Fahne, die ich nicht erkennen konnte. | |
11 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Winter | |
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