# taz.de -- Hannah-Arendt-Preis für Masha Gessen: Politisches Denken im Hinter… | |
> Masha Gessen wird in einer kleinen Bremer Galerie geehrt. In der Rede | |
> entwickelt die Publizist*in eine kleine Philosophie des | |
> Holocaust-Vergleichs. | |
Bild: Publizist*in Masha Gessen (hinten Mitte) bekommt den Hannah-Arendt-Preis … | |
BREMEN taz | Muckelig warm ist es in der kleinen Hinterhof-Galerie, in der | |
Masha Gessen am Samstag den Bremer Hannah-Arendt-Preis für politisches | |
Denken [1][verliehen bekommen hat]. Es brennt ein deftiges Feuer im Kamin. | |
An den Wänden hängen eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Fotografien vom Krieg in | |
der Ukraine. Das Publikum drängt sich nur so, und das scheint die Stimmung | |
positiv zu färben: so ein bisschen freudig-erregt, wenn nicht gar | |
kämpferisch. Man ist sich ziemlich einig. Aber dass es räumlich ein Abstieg | |
ist, lässt sich nicht leugnen. | |
Eigentlich hätte es einen Festakt im Bremer Rathaus geben sollen, dem | |
Meisterwerk der Weserrenaissance. Doch der war am Donnerstag dann abgesagt | |
und die gesamte Sause auf den Samstagstermin zusammengeschnurrt worden, in | |
der opulenten Gründerzeit-Villa des Institut français, so war’s gedacht | |
gewesen. | |
Doch hatte dessen Leitung am Freitagabend Sicherheitsbedenken bekommen, | |
immerhin steht Gessen wegen Berichten aus der Ukraine auf einer russischen | |
Todesliste, sodass spontan eben nur noch der Hinterhof in der Straße | |
Fehrfeld blieb. „Das ist die seltsamste Preisverleihung, an der ich je | |
teilgenommen habe“, sagt Gessen bei der Ankunft. „Hannah Arendt would have | |
been laughing in her grave.“ Dann wird ein Drucker gesucht, weil ja die | |
Rede komplett neu geschrieben werden muss. | |
Und das alles wegen eines unangemessenen Vergleichs. Genau darum geht es | |
beim Festvortrag: Anders als ursprünglich geplant, spricht Gessen am späten | |
Samstagvormittag übers Vergleichen; tapfer, auch klug, wenn auch nicht | |
restlos überzeugend. Darüber, dass es falsch ist, den Vergleich von Äpfeln | |
und Birnen (im amerikanischen Original natürlich Orangen) zu verbieten, | |
weil nur so die Erkenntnis von Unterschieden möglich sei. | |
## Essay im „New Yorker“ als Ausgangspunkt | |
Darüber, dass jedes Sprechen über den Holocaust – selbst das Feststellen | |
seiner Singularität – ein Vergleichen ist. Darüber, dass gerade im Bezug | |
auf die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht nur implizite | |
Holocaust-Vergleiche [2][Konjunktur haben.] Und auch darüber, warum sie* es | |
für notwendig gehalten hatte, in einem Essay im Magazin New Yorker am 9. | |
Dezember die Lage im Gazastreifen mit der in den Zwangsghettos | |
[3][ausdrücklich gleichzusetzen]. | |
Denn nein, zu neuen Einsichten habe dieser Vergleich nicht führen können | |
und sollen, bestätigt sie* im Pausengespräch mit der taz. Es sei genau | |
darum gegangen, um die Feststellung einer Wesensgleichheit („sameness“): Er | |
wird damit zum auf Wirkung bedachten, rhetorischen Mittel. So ein Vergleich | |
passiert nicht einfach, schon gar nicht versierten Autor*innen. | |
Und die realen Zustände der Zwangsghettos sind Gessen zweifellos sehr | |
bewusst: Ein Großvater war Vorsitzender des Judenrats im Getto von | |
Białystok. Das Leiden in diesen Vorposten zur Vernichtung ist Teil der | |
Familiengeschichte, in die Gessens vor knapp 20 Jahren erschienenes | |
eindrucksvolles Buch „Esther und Rusja. Wie meine Großmütter Hitlers Krieg | |
und Stalins Frieden überlebten“ die Lesenden eintauchen lässt. | |
Diese Gleichheit anzuerkennen, sei notwendig, heißt es zum Schluss von | |
Gessens Ansprache, um die Kette der Ereignisse zu durchbrechen. Also um zu | |
verhindern, dass aus der gleichen Ursache dieselbe Katastrophe folge, | |
„damit die Geschichte am Ende hoffentlich beweist, dass wir damit Unrecht | |
hatten“. Denn das Wissen um die Katastrophe sei die einzige Erkenntnis, die | |
Menschen des 21. Jahrhunderts ihren Vorfahren in Wirklichkeit voraushätten: | |
„They didn’t know the Holocaust was possible. And we do.“ | |
Klingt so indiskutabel nun auch wieder nicht. Kommt im kritisierten Essay | |
aber nicht wirklich rüber. Und als die Ausführungen dann mit etwas | |
Zeitverzögerung nach Deutschland geschwappt waren, war eine | |
Erregungsmaschine angelaufen, die auf die Herstellung eines tabulosen | |
politischen Denkens jedenfalls nicht abzielt. | |
In Bremen hatte das sehr rasch die Züge eines weihnachtlich-erbitterten | |
Familienstreits angenommen: Absage-Forderungen seitens der maßgeblich von | |
Grünen-Mitgliedern geprägten lokalen Deutsch-Israelischen Gesellschaft und | |
Gründungsmitgliedern des Hannah-Arendt-Preis-Vereins – auch Erz-Grüne! – | |
hatten die Preisgeberinnen zum Rückzug veranlasst. | |
Die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung und die örtliche | |
Heinrich-Böll-Stiftung, die eigenständig, aber auch grünennah ist, sowie | |
die Freie Hansestadt Bremen wollten Gessen wegen des jüngsten Essays keine | |
Bühne geben. Ob sie auch das Preisgeld von 10.000 Euro einbehalten können, | |
ist eine noch ungeklärte juristische Frage. | |
Moralisch aber bleibt man eher eindeutig: „Das ist ein unsäglicher | |
Vergleich, der eine rote Linie überschreitet“, hatte der dafür zuständige | |
Finanzsenator Björn Fecker (Grüne) erklärt, dem tatsächlich niemand | |
zutrauen würde, in einem Festakt die Kontroverse zu suchen. Das | |
„erschreckende Ausmaß an Geschichtsvergessenheit“ sei „durch nichts zu | |
rechtfertigen“. | |
Wer die Geschichte des politischen Diskurses in der Bundesrepublik verfolgt | |
hat, wird feststellen: Gerade die Grünen-Ikonen waren Meister*innen der | |
Holocaust-Analogien. So hat Petra Kelly Hiroshima und Auschwitz | |
[4][konsequent miteinander gleichgesetzt]. Und der | |
Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll [5][spricht 1964 davon], dass die | |
Wissenschaft im Dienste der Konsumgesellschaft dabei sei, „eine Art | |
gigantisches Auschwitz zu schaffen, über dessen Tor das Schild hängen | |
könnte ‚Verbrauch macht frei‘“. Möglich, dass gerade diese eigene Herku… | |
die Abwehr intensiviert – und jede Debatte verhindert. | |
## Es gibt keine politische Diskussion | |
Seine Fehlbarkeit ist wahrscheinlich das wichtigste Merkmal politischen | |
Diskurses. Entsprechend hat auch Hannah Arendt bisweilen erschreckende | |
Dummheiten verzapft. Ihre „Reflections on Little Rock“ zum Beispiel gehören | |
[6][zum Blödesten, was eine wichtige Intellektuelle im Laufe des 20. | |
Jahrhunderts verbrochen hat]. Gegen dieses rassistische Pamphlet ist | |
Gessens Essay geradezu eine Quelle der Weisheit. | |
Wahr ist: Um die Wesensgleichheit von Zwangsghetto und | |
Palästinensergebieten zu behaupten, muss alles, was sie ausmacht – die | |
extreme Enge, die Funktion, Vorposten der Vernichtung zu sein, und auf der | |
anderen Seite die Raketenangriffe aus Gaza –, zu Nebensächlichkeiten | |
erklärt werden. | |
Das tut Gessen, offenbar um den Mangel ihres Arguments zu überspielen, beim | |
Festvortrag mithilfe eines Herrenwitzes. Die moralische Unwucht, die der | |
Vergleich produziert, wird von Gessen an keiner Stelle bearbeitet. Die | |
Hoffnung, durch seine polemische Zuspitzung befriedend zu wirken, ist, wenn | |
ehrlich, dann naiv. | |
Und als am Ende der Veranstaltung Arendt-Preis-Richter Klaus Wolschner, | |
Ex-taz-Redakteur, darauf drängt, doch auch etwas zur Rolle der Hamas zu | |
sagen, reagiert Gessen unwillig. Und ebenso wollen Teile des Publikums | |
lieber glauben, schon die Wahrheit zu wissen. Politische Diskussion findet | |
nicht statt. | |
17 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Bremer-Hannah-Arendt-Preis-2023/!5980282 | |
[2] https://www.rnd.de/politik/ukraine-baerbock-nennt-russlands-krieg-bruch-der… | |
[3] https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holoc… | |
[4] https://www.nytimes.com/1983/03/07/world/man-in-the-news-tenacious-leader-o… | |
[5] https://www.uni-frankfurt.de/46036887/1959_1968___Archiv_der_Frankfurter_Po… | |
[6] https://www.jstor.org/stable/10.5325/critphilrace.3.1.0052 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
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