# taz.de -- Linkes Pflaster Connewitz: Aber ist das noch Punkrock? | |
> Leipzigs Stadtteil Connewitz gilt als krawallig und unangepasst. Dabei | |
> ist er viel bürgerlicher geprägt, als der Mythos glauben lässt. | |
Bild: Selbst im Leipziger Stadtteil Connewitz kein Alltag: Pflastersteine nach … | |
LEIPZIG taz | Es wird Nacht am Connewitzer Kreuz: Vier Jugendliche lungern | |
inmitten einer Ansammlung von Bierflaschen herum. Ploppende Kronkorken und | |
klirrende Flaschen stiften ihrer untätig-aggressiven Grundstimmung einen | |
unsteten Rhythmus. Aus dem tragbaren Lautsprecher dröhnt Punkrock von der | |
Terrorgruppe: „Ja, wo ich geh und wo ich steh, weiß jeder alles besser / | |
Doch ich hab das bess’re Argument, mein Schweizer Taschenmesser.“ Die Musik | |
und das Anarcho-A auf ihrer Kleidung lassen an ihrer politischen Haltung | |
keinen Zweifel. Unvermittelt löst sich ein Teenager aus der Gruppe und | |
pöbelt wahllos Vorbeilaufende an. Irgendwo muss die Wut ja schließlich hin. | |
Diese vermeintlich typische Szene hat sich genau so in Connewitz | |
abgespielt. Allerdings nicht auf der Straße, sondern auf einer Bühne im | |
Werk 2, einem [1][soziokulturellen Zentrum] am Connewitzer Kreuz. Aber das | |
Klischee deckt sich mit einer in den Medien kursierenden Erzählung über den | |
Leipziger Stadtteil: Immerhin nannte die Bild den Stadtteil 2015 eine | |
gefährliche „No-go-Area“, der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung | |
sprach nach der Solidemo für Lina E. von „durchgeknallten Straffälligen in | |
Connewitz“. | |
Doch auch auf der Gegenseite wird dieses Bild gepflegt: Seit Jahrzehnten | |
ist Connewitz [2][identitätsstiftend für die linke Szene], Hassobjekt der | |
Rechten, mitunter Zankapfel der kommunalen Politik. Die Wechselwirkungen | |
zwischen dem Stadtteil, seinem Ruf und seiner Medienpräsenz sind komplex | |
und bisweilen widersprüchlich. Und viel davon scheint plötzlich sehr weit | |
weg, wenn man sich vor Ort tatsächlich umschaut. | |
Wer am zentral gelegenen Connewitzer Kreuz aus der Straßenbahn steigt, dem | |
offenbart sich ein typisches Großstadtviertel: links ein Supermarkt und ein | |
Bäcker, rechts vierstöckige Gründerzeithäuser, davor ein paar Grünflächen | |
und Parkplätze. Erst allmählich zeigt sich, wie flächendeckend besprüht die | |
Wände und wie stark mit Stickern beklebt die Straßenlaternen sind: Antifa, | |
Roter Stern, Rebel Kid. | |
## Normalos im Szeneviertel | |
An einer der sieben Straßen, die das Connewitzer Kreuz bündelt, steht ein | |
über und über bespraytes Fabrikgebäude. Inzwischen beherbergt es das Werk | |
2, eine Institution des kulturellen Lebens in Connewitz. Die Programmtafel | |
am Eingang zeigt das Abendprogramm an: „Scherbenhelden“, das Theaterstück | |
mit den krawalligen Jugendlichen aus der eingangs beschriebenen Szene. | |
Das Stück basiert auf [3][dem gleichnamigen Roman] von Johannes Herwig. | |
Sein ganzes Leben hat der tätowierte Mittvierziger in Connewitz verbracht, | |
war in den 1990er Jahren Punk und ist seit 2013 Autor. In „Scherbenhelden“ | |
verarbeitet er die Erfahrungen seiner Jugend im Leipziger Süden während der | |
Wendezeit. Das Buch zu schreiben sei ihm nicht leichtgefallen. „Es ist | |
einfach schwierig, verständlich zu machen, wie sich das damals angefühlt | |
hat“, erzählt Herwig und meint damit: Frust, Verzweiflung, ein Gefühl von | |
Aussichtslosigkeit im neuen System. | |
Im Zuge der Wiedervereinigung haben viele Erwerbstätige im Osten ihre | |
Existenzgrundlage verloren: 825.000 Arbeitslose gab es laut dem Zentrum | |
digitale Arbeit kurz nach der Wiedervereinigung in den ostdeutschen | |
Bundesländern – im Vergleich zur Vollbeschäftigung zu DDR-Zeiten eine | |
gewaltige Zahl. | |
Einer davon ist der Vater des „Scherbenhelden“-Protagonisten Nino, der in | |
der DDR als Schuhmacher selbstständig war, durch die Wende seinen Job | |
verlor und seitdem depressiv zu Hause sitzt. Und dann ist da noch der | |
aufkeimende, oft gewalttätige Rechtsextremismus. Der Leipziger Süden habe | |
in dieser Zeit eine besondere Rolle für linke Strömungen gespielt, erklärt | |
Herwig. „Dort hat die alltägliche Bedrohungslage durch Rechtsextreme | |
irgendwann abgenommen, weil es viele Leute gab, die sich gewehrt haben.“ | |
Dass Connewitz aber auch bundesweit zum linken Szeneviertel schlechthin | |
wurde, ist allein durch den Antifaschismus der Wendejahre noch nicht zu | |
erklären. Schon in den 1970er Jahren galt der Stadtteil als alternativ, | |
aber auch als Arbeiterviertel. Ganze Straßenzüge standen damals leer, der | |
Staat machte sich rar. So begannen Hausbesetzer:innen, sich in den | |
leerstehenden Gebäuden Freiräume für Subkultur und Politik zu schaffen. | |
„Im Viertel hat sich ein alternatives Leben konzentriert und schließlich | |
auch behauptet. Das hat sich inzwischen aber diversifiziert, hier leben | |
heute mega viele Normalos“, sagt Herwig. „Das kommt in der | |
Berichterstattung über Connewitz ein bisschen zu kurz.“ | |
## Hausbesetzer im Kirchenvorstand | |
Gleich um die Ecke vom Werk 2 stehen zwei der wenigen nicht besprühten | |
Gebäude des Stadtteils: die evangelische Paul-Gerhardt-Kirche und ihr | |
Pfarramt. „Von unserer Gemeinde ist die Kultur nur einen Steinwurf | |
entfernt“, witzelt Pfarrer Christoph Reichl. Gemeinsam mit seiner Kollegin | |
Ruth Alber, Pfarranwärterin Nicole Bärwald-Wohlfarth und einem weiteren | |
Pfarranwärter kümmert er sich um eine Kirchengemeinde der besonderen Art. | |
„Sehr offen, aber auch kritisch“, beschreibt Reichl seine | |
Gemeindemitglieder mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. „In etwa so | |
verstehen wir uns auch als Kirche. Also linksliberal und weltoffen“, fügt | |
er hinzu. | |
Die Frage, inwiefern Kirche in Connewitz politisch sei, beantwortet er mit | |
einigen Anekdoten aus der Gemeindearbeit: Wie sie als Kirche eine | |
Gebetswache anmeldeten, nachdem Rechtsextreme in Connewitz demonstriert | |
hatten – um zu zeigen, „dass links nicht allein ist“. Oder wie sich die | |
Kirchen im Leipziger Süden im Jahr 2020 zusammenschlossen und als erste | |
Amtshandlung ein politisches Statement zur Flüchtlingshilfe im Mittelmeer | |
verfassten. | |
Die Gemeindemitglieder würden aber auch ganz alltägliche Sorgen umtreiben, | |
sagt Pfarranwärterin Bärwald-Wohlfarth. Kitaplatz- und Schulsuche bei | |
Eltern, Sicherheit und Mobilität bei den Älteren. Ist Connewitz also doch | |
kleinbürgerlicher als gedacht? Ist das hier noch Punkrock? „Die Punks, die | |
Connewitz damals als linksalternatives Viertel mit aufgebaut haben, sind in | |
die Jahre gekommen“, antwortet die Pfarranwärterin. Und manch ein | |
Ex-Hausbesetzer sei heute sogar im Ortsausschuss des Kirchenvorstands | |
aktiv, ergänzt Pfarrer Reichl. | |
## Trautes Heim, Glück allein | |
Aber nicht nur ehemalige Hausbesetzer:innen, die heute bürgerlich leben, | |
weichen den Ruf des linksalternativen Viertels auf: Viele derjenigen, die | |
das Image von Connewitz als linke Hochburg noch aufrechterhalten würden, | |
seien gar nicht hier ansässig, so Reichl. Gerade die Jüngeren würden eher | |
im Osten und Südosten der Stadt leben, weil die Mieten dort günstiger | |
seien. Tatsächlich liegen die Mietpreise laut der Leipziger Volkszeitung, | |
die sich dabei auf Daten der Stadt bezieht, in Connewitz bei 8,55 Euro pro | |
Quadratmeter. Das ist deutlich höher als in den südöstlichen und östlichen | |
Leipziger Stadtteilen. | |
Der langhaarige, tiefenentspannte Familienvater wohnt zwar nicht direkt im | |
Viertel, kommt mit seinem Sohn aber oft zum Herderspielplatz. So auch heute | |
wieder. Wenn sein Sohn wieder nach ihm ruft – „Papaaa“ –, schaut er kur… | |
ihm hinüber, schubst ihn einmal kräftig an und redet dann unbeirrt weiter: | |
„Connewitz ist geil – perfekt für Familien. Man hat hier wirklich alles, | |
was man braucht. Viel Grün, offene und engagierte Menschen, einen super | |
Spielplatz.“ Er sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, als nerve es | |
ihn, wenn andere die Sicherheit und Lebensqualität von Connewitz infrage | |
stellen. Und tatsächlich: Eine Statistik der Stadt verzeichnet von 2017 bis | |
2021 deutlich mehr Straftaten in anderen Vierteln, wie Plagwitz, | |
Reudnitz-Thonberg oder Möckern. | |
„Papaaa!“ – das Kind ist mittlerweile am Klettergerüst angekommen und | |
verlangt nach Unterstützung. Ob er nicht schon allein klettern könne, ruft | |
der Vater. Sicherheitsbedenken im Viertel, fährt er fort, habe er | |
jedenfalls keine. Denn Unruhen kämen selten vor und konzentrierten sich | |
sowieso nur auf einzelne Orte, da brauche man sich keine Gedanken zu | |
machen. Das leuchtet ein: Aktionen wie den Tag X etwa, an dem Anfang Juni | |
Demonstrant:innen in Connewitz gegen das Urteil für Lina E. | |
protestierten, gibt es schließlich nicht alle Tage. Wenn überhaupt, dann | |
müsse man Angst vor dem Rechtsextremismus haben, findet der Vater. Mit | |
Nachdruck fügt er hinzu: „Ich will ja nicht politisch sein, aber dieser | |
Nazischeiß, der nervt.“ | |
## Wir machen uns die Welt | |
Ganz ausdrücklich politisch sein möchte hingegen das Conne Island. Das | |
[4][1991 gegründete Jugendzentrum] liegt etwas abseits vom Rest des | |
Viertels – und ist doch so etwas wie das Zentrum von dessen politischem | |
Leben. Man sieht sich hier als diskriminierungsarmen Raum mit linkem | |
Selbstverständnis für all jene Menschen und Subkulturen, die von der Norm | |
abweichen. „Wir sind sozusagen ein riesiger DIY-Laden für diejenigen, die | |
nichts Vorgefertigtes konsumieren, sondern selbst gestalten wollen“, so | |
bringen die Mitarbeitenden den Geist des Conne Island auf den Punkt. Sie | |
möchten nicht namentlich genannt werden. | |
Wer sich beteiligen oder politisch engagieren möchte, ist zum | |
allwöchentlichen offenen Plenum eingeladen. Hier wird seit 30 Jahren | |
kollektiv ausgehandelt, wem das Island eine Plattform bieten soll. Das | |
können Bands sein, marxistische Lesekreise, Mobilisierungsveranstaltungen | |
oder Aktivismus-Workshops. „Dabei haben wir als Island keine einheitliche | |
Linie“, sagt eine Mitarbeitende, „es ist eher so eine Art Wabern zwischen | |
Grundwerten.“ Diese Selbstverwaltung in Eigenverantwortung ist nicht | |
selbstverständlich. | |
Sicherlich trägt das Conne Island mit seiner politischen Arbeit zum Mythos | |
Connewitz bei, der in der Wendezeit aufkam und das Viertel bis heute | |
begleitet. Doch aufrechterhalten wird er laut den beiden Mitarbeitenden | |
nicht allein von der alternativen Szene selbst, sondern auch von der | |
Gegenseite: „Die CDU braucht den Ruf von Connewitz halt, um Wahlkampf zu | |
machen.“ | |
## Punks im Kino | |
Weg vom südlichsten Zipfel des Viertels und zurück auf die | |
Wolfgang-Heinze-Straße zu Haus 12 a. Hier verbirgt sich hinter einer | |
unscheinbaren Fassade das UT, Leipzigs ältestes Lichtspieltheater. | |
Inzwischen stehen nicht mehr viele Filme auf dem Programm – stattdessen | |
geben sich Punkbands, Sinfonieorchester, der Connewitzer Sportverein Roter | |
Stern und sogar der MDR-Kinderchor die abgenutzte Klinke in die Hand. | |
„Nur Parteipolitik hat hier keinen Platz“, stellt ein Mitarbeiter des UT | |
Connewitz e. V. klar, der anonym bleiben möchte. „Aber links verortet sind | |
wir natürlich schon“, schiebt er gleich hinterher. Das kulturelle Leben ist | |
in seinen Augen so lebendig wie eh und je – nur dass jetzt eben jüngere | |
Leute das weiterführen, was es schon in den 1980ern an alternativer Szene | |
gab. Geblieben ist zum Beispiel der Umstand, dass Geld für diesen | |
Kulturbetrieb nicht die entscheidende Rolle spielt: Hier im Union-Theater | |
etwa engagiert sich niemand gegen Bezahlung – sondern ehrenamtlich und aus | |
Überzeugung. | |
Die Veränderungen im kulturellen Leben in Connewitz sieht der Mitarbeiter | |
gelassen. Corona hätte da bisher mehr negative Folgen gehabt [5][als die | |
Gentrifizierung]. „Inzwischen haben wir hier eben nicht mehr nur die | |
Leipziger Punkband, sondern auch feiernde Erstis.“ Unbegreiflich sind ihm | |
nur diejenigen, die aufgrund des Hypes nach Connewitz ziehen, dann aber auf | |
Nachtruhe um 22 Uhr pochen. | |
Schon zu Beginn des Gesprächs mit dem UT-Mitarbeiter ist klar: Es wäre ein | |
Fehler, seine Gelassenheit mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. „Hier | |
müssen sie mich raustragen, mit den Füßen zuerst.“ | |
23 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.werk-2.de/ | |
[2] /Linke-Stadtviertel/!5977523 | |
[3] https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Jugendliteratur/Scherbenhelden… | |
[4] https://conne-island.de/ | |
[5] /Gentrifizierung-in-Leipzig/!5368403 | |
## AUTOREN | |
Finn Gessert | |
Josephine Walther | |
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