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# taz.de -- Querdenker-Demo in Göttingen: In der Höhle der Linken
> Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr kam die Querdenkerszene
> ausgerechnet in die Uni-Stadt, um zu demonstrieren. Warum tut sie sich
> das an?
Bild: Dicke Luft gab es bei der jüngsten Querdenker-Demo in Göttingen
Göttingen taz | „In Göttingen gibt es keine Nazis“, sagt Lilo und zieht
triumphierend ihren Schlauchschal über den Kopf. Rauchend sitzt sie mit
ihren Genoss*innen in einem leeren Raum, wo es keine Handys und keine
fremden Ohren gibt, die ihnen zuhören könnten. Sie sind Teil einer
geplanten Aktion gegen die Querdenker, die sich in ein paar Stunden am
Bahnhofsplatz zur [1][„Herbsterwachen“-Demo] versammeln werden.
Bevor es losgeht, müssen sie sich noch neue Namen ausdenken. Für heute sind
sie Lasse, Lilo, Elke und Thymian. Jeweils zu zweit bilden sie „Buddies“,
die sich später nicht von der Seite weichen werden. Die vier wirken so
aufgeregt wie entschlossen, ihre Stadt vor den „Schwurblis“ zu verteidigen,
wie sie die Teilnehmenden der Querdenker-Demo nennen.
Wieso will man ausgerechnet in einer Stadt wie Göttingen [2][gegen Impfung,
Queerness und grüne Politik] protestieren? Durch die Aktivitäten von
Anti-Atombewegung und autonomer Szene steht die Universitätsstadt schon
seit Mitte der 1980er Jahre in dem Ruf, eine Hochburg der Linken zu sein.
Immer wieder reisten Nazis aus dem Umland [3][für rechtsextremistische
Überfälle auf die Stadt] an. So auch an dem Tag vor über 30 Jahren, [4][als
die Studentin Conny Wessmann starb]. Mit ihrer Antifa-Gruppe wollte sie
einige Skinheads vertreiben und wurde auf der Flucht vor der Polizei von
einem Auto überfahren.
Ihr Tod rief ein nie dagewesenes Engagement gegen den rechten Terror
hervor. Heutzutage sind linke Kneipen und [5][Hausbesetzungen] nicht nur
fester Bestandteil des Stadtbildes, sondern auch politische Begegnungsorte
für die rund 30.000 Studierenden.
## Zentrale Lage
Dass die Wahl der Querdenker-Demo ausgerechnet auf Göttingen fällt,
begründen die Organisatoren mit der zentralen Lage der Stadt. Schon im
April waren etwas mehr als 600 Gleichgesinnte unter anderem aus Bielefeld,
München und dem Sauerland zur „Frühlingserwachen“-Demo angereist. Zwar
konnten die Protestierenden ihre Route nur zu einem Drittel antreten, doch
die Polizei wandte körperliche Gewalt an, um blockierende Personen
wegzutragen. Womöglich hat das die Querdenker dazu motiviert,
wiederzukommen.
Zur Mittagszeit trudeln sie nun zum zweiten Mal in diesem Jahr vor dem
Göttinger Bahnhof ein. Noch ist es eine überschaubare Menge an
Protestierenden, die sich zwischen orangenen Luftballons tummeln. Stände
mit Kuchen und Ansteckern hauchen dem Ganzen Volksfestcharakter ein – wären
da nicht Schilder, laut denen man die „Grünen an die Ostfront“ schicken
müsse. Schließlich [6][führe die Politik „Krieg gegen des Volk“]. Schon
jetzt fliegt der erste Feuerwerkskörper über die Menge hinweg und setzt
kurz darauf einen Busch in Brand.
## Bewusste Entscheidung
Zeitgleich wird an diesem Samstag in Magdeburg mit ungefähr viermal so
vielen Teilnehmenden für die gleiche Sache demonstriert. Die
Wahrscheinlichkeit, dass die Proteste dort eskalieren, ist zweifelsfrei
geringer. Glaubt man der Telegramgruppe des „Herbsterwachen“, haben sich
die Anhänger*innen aber bewusst für Göttingen entschieden. Die
„linksradikale Hochburg“ müsse „aufwachen“ und „sensibilisiert werde…
Ein Aufruf, dem auch die rechtsextremistische Partei der „Freie Sachsen“
gefolgt ist. Zwischen Fahnen mit Friedenstauben weht ihr Emblem.
Organisator Michael Schele begrüßt auf einem Lautsprecherwagen seine
„Freunde der Freiheit“. Es werden die ersten Feindbilder umrissen: Nancy
Faeser, Robert Habeck und überhaupt die gesamte Bundesregierung.
Immer wieder werden ihre Reden von lautem Gejubel übertönt. „Wir sind
mehr!“, grölt die Punk-Band „Schreiblockade“ von der anderen Straßensei…
herüber. Ungefähr 1.500 Menschen hat das Göttinger Bündnis gegen Rechts zum
Gegenprotest mobilisiert. Als die Oberbürgermeisterin Petra Broistedt dazu
aufruft, sich „gemeinsam gegen Rechts“ zu stellen, reihen sich die
Göttinger*innen wie auf einer Festung auf den Mauern ihres Stadtwalls
auf.
## Trommelnd Richtung Innenstadt
Sie brüllen und buhen, zeigen ihre Mittelfinger und Antifa-Flaggen, als die
430 Querdenker trommelnd Richtung Innenstadt ziehen. Vor ihnen erhebt sich
die ehemalige Befestigungsanlage, auf der die Gegendemonstrierenden
parallel zum Protestzug mitlaufen. Ursprünglich wurde sie errichtet, um den
Stadtkern zu schützen.
Ironischerweise muss die Polizei den Marsch kurz vor dem Einbiegen in die
Altstadt an einem linken Hausprojekt stoppen. Quer über der vierspurigen
Straße sitzt ein schwarzer Block aus vermummten Gesichtern. Die Arme zu
einer Menschenkette verhakt, zwingen sie den Zug zum Stehenbleiben.
Hunderte Fäuste strecken sich in die Luft, dahinter gehen Müllcontainer und
Leitbaken in Flammen auf. Vor dem weißen Rauch laufen Gestalten mit
Antifa-Flaggen hin und her. Immer mehr Menschen springen von der Stadtmauer
herunter und stellen sich solidarisch dazu. Sogar Schaulustige stimmen in
den Gesang ein: „Siamo tutti antifascisti!“ Irgendwo dazwischen sitzt auch
Lilo und muss zusehen, wie die Polizeipferde immer näher kommen.
Um den Brand zu löschen, fangen die Beamt*innen an, die Menge
einzukesseln. Das Feuer lässt die Luft noch schwüler werden, als sie eh
schon ist. Eine Mutter streckt zwischen zwei Polizisten eine Trinkflasche
zu ihrer Tochter durch: „Hier, du brauchst Wasser!“
Einige hundert Meter weiter warten noch eine Blockade der „Omas gegen
Rechts“ und eine ölverschmierte Straße auf den Querdenker-Zug. Doch der
wurde schon in die entgegengesetzte Richtung umgeleitet. Auch dort werden
die Protestierenden mit Kartoffeln beworfen und sogar von einem Anwohner
mit einem Gartenschlauch bespritzt. Es ist, als hätte sich die gesamte
Stadt gegen sie verschworen.
Womöglich hatte „Herbsterwachen“-Organisator Michael Schele auf die
polizeilichen Repressionen vom letzten Mal gehofft. Nun wirft er den
Beamt*innen gemeinsame Sache mit der Antifa vor. Man habe das Grundrecht
der Demonstrierenden verletzt, sich friedlich zu versammeln. „Wo war das
Tränengas, das ihr so oft gegen uns eingesetzt habt?“, ruft er in sein
Mikrofon.
## Krawall machen die anderen
Trotzdem formen seine Gefolgsleute immer wieder hämisch die Hände zu
Herzen. Sie inszenieren sich als die friedliebende der beiden Parteien, die
demokratische. Die Antifa-Demonstrierenden hätten sich durch ihre Gewalt
als die wahren Faschist*innen entlarvt, meinen sie.
Der Politologe Philipp Scharf vom [7][Göttinger Institut für
Demokratieforschung] zweifelt diese Selbstinszenierung an. „Es muss klar
gewesen sein, dass die Demonstration nicht weit kommen wird. Das
Empörungspotential, das da vermutet werden kann, ist hoch.“
„Herbsterwachen“-Organisator Michael Schele freut sich darüber, dass die
„Klimaaktivisten so viel Plastik verbrannt haben“. Die Polizei ermittelt
nun wegen Landfriedensbruchs. Scheles Ansprache auf dem mit
Deutschland-Fahnen geschmückten Wagen erweckt den Eindruck, dass diese
Bilder bewusst provoziert wurden: „Nächstes Mal machen wir das in
Connewitz, da fahr ich vorne weg!“
Letztendlich muss der Demozug wegen des anhaltenden Widerstandes zum
Bahnhof umkehren. Feixend begleiten die Aktivist*innen die
gescheiterten Querdenker auf ihrem Rückzug. Niemand von ihnen solle auch
nur auf die Idee kommen, nach dem Ende der Veranstaltung auf eigene Faust
durch die Stadt zu ziehen, sagt eine Person mit schwarzem Schlauchschal.
Die Kreisvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Agnieszka Zimowska,
erinnert sich, im Anschluss an die Demonstration im April Hitlergrüße und
antisemitische Plakate gesehen zu haben. Sie hoffe, dass Göttingen nun
gezeigt habe, dass „die Querdenker keinen Grund und Boden haben, hier zu
mobilisieren.“
## Mit Edding auf dem Arm
Bei der Abschlusskundgebung sitzt Lilo mit ihrem Buddy auf der Wiese vor
dem Bahnhofsplatz. Die beiden teilen sich veganen Kuchen und einen letzten
Schluck Wasser. Der Telefonnummer der Antifa-Sanitäter*innen, die sie sich
mit Edding auf den Arm geschrieben hatten, ist vom Schweiß verwischt.
Von drüben hört man ihre Genoss*innen immer noch aus voller Brust „Nazis
raus“ grölen. So lange, bis auch die letzte Person des
„Herbsterwachen“-Protestes wieder im Zug raus aus Göttingen sitzt.
22 Sep 2023
## LINKS
[1] /Querdenker-Szene-in-Goettingen/!5956749
[2] /Herkunft-der-Impfgegner-und-Querdenker/!5815438
[3] /Antifa-verteidigt-Goettingen/!5393764
[4] /Gedenken/!5152548
[5] /Streit-um-Immobilie-in-Goettingen/!5502312
[6] /Andreas-Speit-ueber-verqueres-Denken/!vn5810204
[7] /Studie-ueber-Hannovers-linke-Szene/!5791537
## AUTOREN
Nina Christof
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