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# taz.de -- Corona-Quarantäne in Göttingen: Rechtswidrig eingesperrt
> Eine Familie klagte gegen die Umzäunung ihres Wohnkomplexes in der
> Pandemie. Nun erklärte ein Gericht das für rechtswidrig.
Bild: In diesem Wohnblock in der Groner Landstraße in Göttingen wurden Mensch…
Göttingen taz | Es waren turbulente Tage: Im Juni 2020, inmitten der
Coronapandemie, brach in einem Göttinger Hochhauskomplex das Virus aus.
[1][Die Stadtverwaltung stellte das ganze Gebäude unter Quarantäne] und
riegelte es ab, niemand durfte das Grundstück verlassen. Eine der
betroffenen Familien klagte vor dem örtlichen Verwaltungsgericht – und
bekam am Donnerstag Recht.
Das Gericht erklärte die Freiheitsentziehung durch eine Umzäunung und die
polizeiliche Bewachung des Gebäudekomplexes für rechtswidrig. Für die
mehrere Tage andauernde Maßnahme gebe es keine Rechtsgrundlage, so die
Begründung.
Der Wohnkomplex in der Groner Landstraße gilt als Problemimmobilie und
sozialer Brennpunkt. Rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und
Jugendliche, leben dort unter prekären Bedingungen. Die Besitzverhältnisse
an den nur 19 bis 39 Quadratmeter großen Wohnungen sind undurchsichtig. Für
die meisten Appartements zahlt die Stadt Göttingen die Miete, weil die
Bewohner auf Transferleistungen angewiesen sind.
Nachdem sich zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten, ordneten die
Behörden Tests für alle Bewohner an. 120 Menschen wurden positiv getestet.
Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex
für zunächst eine Woche unter Quarantäne. Vom 18. bis 25. Juni 2020 blieben
die Bewohner quasi eingesperrt. Die Eingänge zum Grundstück wurden
abgesperrt und mit Toren verschlossen. Lieferwagen brachten Lebensmittel
und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben auch eine
mobile Sanitätsstation.
## Bei einer Demo eskaliert die Situation
Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte die Versorgung schlecht, es gab
Klagen über zu wenig Essen. „Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein
paar Äpfel und abgelaufene Chips“, sagte damals eine Frau. Auch von den
Grünen und mehreren Initiativen setzte es Kritik: Der evangelische Pfarrer
und Grünen-Ratsherr Thomas Harms sprach von einem „verschärften Arrest“ f…
700 Personen und stellte die Frage, ob eine solche Maßnahme wohl auch in
den besseren Wohnvierteln der Stadt angeordnet worden wäre.
Die Gruppe „Basisdemokratische Linke“ rügte, hier würden 700 Leute, ohne
sie vorab zu informieren, „interniert“ und mit einem Großaufgebot an
Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu
sein. „Es wird riskiert, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht
werden.“
[2][Drei Tage nach Beginn der Quarantäne eskalierte die Lage]: Am 21. Juni
zog eine Demonstration in die Groner Landstraße, die Protestierenden
forderten den Abbau der Zäune. Innerhalb der Absperrungen versammelten sich
etwa 100 Bewohner. Sie rüttelten an den aufgestellten Bauzäunen, einige
versuchten über die Hindernisse zu klettern. Flaschen, Pyrotechnik und
Haushaltsgegenstände flogen auf die Polizei, diese setzte massiv
Pfefferspray ein, auch gegen Jugendliche. Auf beiden Seiten gab es
Verletzte. Gegen etliche Hausbewohner liefen in der Folge Strafprozesse.
Ein damals 38 und 31 Jahre altes Ehepaar mit seinen neun und drei Jahre
jungen Kindern zog seinerseits vor Gericht. Die Familie klagte nicht gegen
die Quarantäneanordnung an sich, vielmehr gegen die Umzäunung und die damit
einhergehende Freiheitsentziehung.
Für eine derart weitreichende Maßnahme sieht das von der Kommune in
Anspruch genommene Infektionsschutzgesetz aber keine Rechtsgrundlage vor.
Eine mögliche „Absonderung“ soll demnach in der Regel in einem geeigneten
Krankenhaus erfolgen. Lediglich für „Quarantänebrecher“ ist eine
Rechtsgrundlage für eine zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus
oder in einer anderen geeigneten Einrichtung vorgesehen, was einen
richterlichen Beschluss voraussetzt.
„Die Stadt hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfüllt
und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und
ohnehin sozial marginalisierten Bewohner des Gebäudekomplexes
eingegriffen“, sagte der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam. Das Urteil habe
weitreichende Bedeutung für den zukünftigen Umgang mit Gebäudekomplexen in
Pandemien. Die Maßnahme „hätte trotz der pandemiebedingt dynamischen und
sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierigen Lage in dieser Form
niemals durchgeführt werden dürfen“.
1 Dec 2023
## LINKS
[1] /Ausschreitungen-wegen-Corona-Quarantaene/!5690924
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## AUTOREN
Reimar Paul
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