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# taz.de -- Quarantäne im Hochhaus in Göttingen: Flucht aus dem Corona-Block
> Das Göttinger Hochhaus ist nicht mehr völlig abgeriegelt. Zwei Familien
> haben Eilanträge gestellt, um aus den beengten Wohnverhältnissen
> auszuziehen.
Bild: Wurden teilweise schon abgebaut: Zäune um das Hochhaus
Göttingen taz | Der Sperrzaun zur Hauptstraße hin wurde abgebaut, der
Zugang zu dem Göttinger Hochhaus ist aber noch geschlossen. Immerhin dürfen
Bewohner, die [1][zweimal negativ auf das Coronavirus getestet] wurden, das
Gebäude verlassen – nach hinten raus und unter Auflagen. Eine Ein- und
Auslasskontrolle soll sicherstellen, dass Infizierte im Hochhaus bleiben.
Nach einer Woche Vollquarantäne für den Wohnblock in der Groner Landstraße,
[2][in dem sich mehr als 120 Personen mit dem Coronavirus angesteckt]
haben, gibt es seit Freitag für einen Teil der Bewohner Erleichterungen.
Für die Infizierten und sogenannte Kontaktpersonen ersten Grades gelten
aber weiterhin strikte Quarantäne-Auflagen.
Die Stadtverwaltung hatte den Komplex am Donnerstag vorletzter Woche
komplett abriegeln lassen. Bis zu 800 Personen leben dort in äußerst
beengten Verhältnissen. Seitdem der Block abgeriegelt wurde, bekommen die
Bewohner zweimal täglich kostenlose Mahlzeiten. Care-Pakete mit
Lebensmitteln und Hygieneprodukten werden bis vor die Wohnungstür
geliefert. Es gab zwar Kritik an der Umsetzung, diese Hilfe soll aber
weiter laufen.
Auch Polizei, Hilfsorganisationen und Ärzte bleiben in Containern vor Ort.
Die rund 200 Kinder und Jugendliche aus dem Wohnkomplex sollen am heutigen
Montag ein weiteres Mal getestet werden, bis zum Vorliegen der Ergebnisse
dürfen sie nicht in die Schule oder Kita.
## Wohnungen haben mehr als 200 Eigentümer
Aber ist es ein Zufall, dass die massenhaften Corona-Infektionen gerade
hier auftreten? Mittlerweile wird in Göttingen Kritik an der
Wohnungspolitik der Stadt laut. Denn außer in der Groner Landstraße hatten
sich [3][auch im Iduna-Zentrum], einem Hochhauskomplex mit ähnlich
schlechten Wohnbedingungen, [4][zahlreiche Menschen angesteckt]. Das
Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung etwa bemängelt „das jahrelange
Wegsehen der Stadt“ bei den Problemen in den Hochhäusern.
Die Wohnungen dort stehen immer wieder zum Verkauf. Das Bündnis kritisiert,
dass seine wiederholten Forderungen, sie sukzessive aufzukaufen, die
Gebäude abzureißen und menschenwürdigen sowie bezahlbaren Wohnraum zu
schaffen, von der Stadt ignoriert würden. Rund 430 Ein- und
Zweizimmer-Wohnungen gibt es in dem 1978 erbauten Gebäude in der Groner
Landstraße. Die Wohnungen gehören mehr als 200 unterschiedlichen
Eigentümern.
Den Zustand der Immobilie hätten die Vermieter zu verantworten, sagt
Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD). Die Stadt habe bei
privat geschlossenen Verträgen keine Handhabe – auch nicht, wenn die Mieter
Hartz IV oder andere Transferleistungen bezögen. Auch vermittele die
Kommune keine Bezieher solcher Leistungen in diese Wohnanlagen.
Der [5][Rechtsanwalt Sven Adam], der Familien aus dem Haus vertritt, äußert
daran allerdings Zweifel. Er wisse von vier Geflüchteten, die wegen Corona
aus einer Sammelunterkunft ausziehen wollten und von der Stadtverwaltung
jeweils ein Appartement in der Groner Landstraße angeboten bekommen hätten:
20 Quadratmeter inklusive Küche für monatlich 450 Euro. Keiner nahm dieses
Angebot an. Oberbürgermeister Köhler bezeichnet den Vermittlungsversuch
inzwischen als Fehler, aus dem Konsequenzen gezogen würden.
„Die Coronapandemie setzt soziale Missstände der Städte und Länder wie ein
Brennglas ins Licht“, heißt es vom Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung
in einer Pressemitteilung. Auch aus Sicht des niedersächsischen
Linken-Bundestagsabgeordneten Diether Dehm sind die Göttinger Konflikte nur
exemplarisch. „Sowohl die kommunalen Behörden als auch die Anwohnerschaft
sind vor einen Knoten geschoben, den sie ohne Bund und Land nicht lösen
können“, sagt er.
Einerseits verlangten Regierende und Medien für die Gesundheit mehr
Distanz. Andererseits zeigten Wohnverhältnisse wie in Göttingen und
[6][Arbeitsverhältnisse wie bei Tönnies], „dass Abstand dort nicht
einzuhalten ist, wo ungehemmte Renditeerwartungen regieren, die nicht von
sozialstaatlichen Gesetzen eingehegt wurden“.
## Familien ziehen vor Gericht
Wie unzufrieden die Bewohner selbst mit den Maßnahmen der Stadt – sie
konnten nicht mehr einkaufen gehen, bevor der Block abgeriegelt wurde – und
der Situation in den Wohnungen sind, wurde deutlich, als einige von ihnen
[7][mit der Polizei aneinandergerieten]. Die Beamten setzten Pfefferspray
ein, Bewohner warfen mit Gegenständen.
Zwei Familien haben Eilanträge bei Gericht gestellt, um sofort aus dem
abgeriegelten Wohnkomplex in andere städtische oder private Wohnungen
umziehen zu können.
Ein Verfahren hat ein Ehepaar angestrengt, das genau wie seine drei und
neun Jahre alten Kinder zuvor zweimal negativ auf das Coronavirus getestet
wurde. Es wäre aus Gesundheitsgründen unverantwortlich, wenn sie in dem
Gebäudekomplex bleiben müssten, argumentierte ihr Rechtsanwalt Adam.
Inzwischen sei die mittellose Familie in eine Wohnung im Landkreis
Göttingen gezogen. Die Stadt habe auf den Eilantrag beim Sozialgericht hin
die Zusicherung zu doppelten Mietzahlungen und die Übernahme eines
Kautionsdarlehens erteilt, sagte Adam der taz. Die Wohnung im Kreis sei
aber nur eine Übergangslösung, „wir müssen jetzt schnell eine
längerfristige Bleibe für die Familie finden“.
Noch nicht entschieden war am Wochenende der zweite anhängige Fall. Hier
haben sich zwei von vier Familienmitgliedern mit dem Coronavirus
angesteckt. Ein Betroffener leide an einer erheblichen Vorerkrankung. „Die
Situation in dem Gebäudekomplex der Groner Landstraße ist auch für diese
Familie untragbar“, sagt Adam.
Sie müsse schon wegen der erforderlichen Genesung und zum Schutz der
negativ getesteten Angehörigen in eine andere Unterkunft gebracht werden.
Dort solle sie unter ärztlicher und psychosozialer Betreuung in Quarantäne
bleiben.
29 Jun 2020
## LINKS
[1] /Wegen-Corona-abgeriegelter-Wohnkomplex/!5696816
[2] /Erneuter-Corona-Ausbruch-in-Goettingen/!5690125
[3] /Corona-im-Idunazentrum-Goettingen/!5690591
[4] /Corona-Ausbruch-in-Goettingen/!5686511
[5] /Anwalt-ueber-heimliches-Datensammeln/!5483316
[6] /Corona-Hotspot-Fleischindustrie/!5690113
[7] /Ausschreitungen-wegen-Corona-Quarantaene/!5690924
## AUTOREN
Reimar Paul
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