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# taz.de -- Kundgebung zum Gaza-Konflikt: „Die Räume werden enger“
> Auf einer von jüdischen KünstlerInnen und AutorInnen organisierten
> Kundgebung wird getrauert, protestiert – und zunehmendes Schweigen
> angeprangert.
Bild: Eine Demonstration mit Botschaften, aber ohne Flaggen
Berlin taz | „Glaubt nicht, dass die moralische Klarheit im Schweigen
liegt!“, ruft Deborah Feldman den rund 1.500 Menschen zu, die sich am
Freitagabend zu einer Kundgebung Unter den Linden versammelt haben. Sie
wolle an diesem Tag etwas Positives vermitteln, sagt die in einer
ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York aufgewachsene und
mittlerweile in Berlin lebende Schriftstellerin („Unorthodox“): Sie habe in
Deutschland auch Menschen kennengelernt, die Verantwortung übernehmen.
„Deren moralischer Kompass ist stärker als die Stimmen der PolitikerInnen,
die sie auffordern stillzuhalten.“
Feldman ist eine von insgesamt zwanzig RednerInnen auf der Demonstration
mit dem Motto „We Still Still Still Still Need to Talk“, getragen von einem
losen Bündnis von Juden aus Deutschland, Israel und anderen Ländern, wie
Candice Breitz, eine der Anmelderinnen, zum Auftakt der fast vierstündigen
Veranstaltung erklärt. [1][Flaggen sind keine zu sehen] – damit entsprechen
die TeilnehmerInnen dem Aufruf, diese zu Hause lassen.
Die Botschaften auf ihren Schildern sind trotzdem deutlich: „Ceasefire now
/ Waffenstillstand jetzt“ steht darauf, „Nicht in meinem Namen“ oder
„Jewish Safety and Palestinian Freedom are not Opposing Causes“. Genauso
wie „Release All Hostages“, „Befreit alle Geiseln“: Im Mittelpunkt der
Kundgebung steht die Trauer um die israelischen Opfer der Hamas-Attacke und
die Sorge um die Geiseln, die von der Hamas nach Gaza verschleppt wurden,
gleichberechtigt neben der Anklage der anhaltenden Bombardierung der Stadt
durch die israelische Armee.
Aber nicht nur das: Viele der Reden sprechen von dem Gefühl, immer stärker
von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Politik „gesilencet“ zu werden.
Mehrmals kommt die [2][Situation des migrantischen Neuköllner
Kulturzentrums Oyoun] zur Sprache: Dessen Förderung aus dem Landeshaushalt
wird nicht nur von der CDU-Kulturverwaltung, sondern auch von den Grünen in
Frage gestellt, weil es dem Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden
in Nahost“ Räume zur Verfügung stellt. „Die Räume für Verständigung we…
immer enger“, sagt der Redner Ferat Koçak. Das Oyoun sei „ein Ort, wo das
Diskutieren noch möglich ist – weil anderswo Angst davor herrscht“, so der
Linken-Abgeordnete.
## Anhaltender Redebedarf
Auch der ungewöhnliche Slogan der Kundgebung steht für einen solchen
Vorgang, wie Candice Breitz erläutert. Die jüdisch-südafrikanische
Künstlerin mit einer Professur an der Hochschule für Bildende Künste
Braunschweig hatte zusammen mit Michael Rothberg, Holocaust-Forscher an der
University of California, ein Symposium unter dem Titel „We Still Need to
Talk: Towards a Relational Culture of Remembrance“ organisiert. Es sollte,
gerade nach den Debatten um die Kasseler documenta 2022, „die Rolle der
Kunst und der künstlerischen Freiheit angesichts wachsenden Antisemitismus,
Rassismus und Islamophobie“ thematisieren.
Die Akademie der Künste – Breitz ist Mitglied – wollte das [3][Symposium
ursprünglich ausrichten, zog sich aber im Dezember 2022 mit der Begründung]
zurück, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt“ für eine solche
Veranstaltung. In die Bresche sprang die Bundeszentrale für Politische
Bildung (bpb). In diesem Dezember hätte „We Still Need to Talk“ im Berliner
Futurium stattfinden sollen, aber zwei Wochen nach dem 7. Oktober sagte
auch die bpb ab. Begründung: In der derzeitigen Situation sei es nicht
möglich, „diese Debatte konstruktiv zu führen und zu moderieren, um das
angestrebte Bildungsziel in einer sachlichen und respektvollen Weise zu
erreichen“.
Mit den OrganisatorInnen wurde das im Vorfeld nicht abgesprochen, dafür
ließ die bpb verlauten, es hätten sich nicht alle Eingeladenen ausreichend
von dem Massaker der Hamas distanziert – einen Vorwurf, den Breitz absurd
findet. Und nun sei kurzfristig auch noch untersagt worden, direkt auf dem
Pariser Platz zu demonstrieren, dort, wo die Akademie der Künste ihren
Hauptsitz hat. „Bitte, Leute, was ist das für eine Demokratie?“, ruft
Breitz in die Menge.
Zwei Stunden vor Beginn hat die Versammlungsbehörde den VeranstalterInnen
mitgeteilt, dass der Platz vor dem Brandenburger Tor tabu sei. In der
schriftlichen Begründung der Polizei an die AnmelderInnen, die der taz
vorliegt, heißt es, das Tor stehe „sinnbildlich für Berlin“ und habe
„diesbezüglich einen weltweiten Wiedererkennungswert“. Der Plan der
AnmelderInnen sei, eine „pro-palästinensische“ Versammlung in direkter Nä…
des Tores durchzuführen, schreibt die Polizei weiter. Solche Versammlungen
seien aber „Anziehungspunkt für Personen“, die die Hamas unterstützten.
„Die nunmehr vorgenommene marginale Ortsverlegung lässt Vorgenanntes nicht
mehr besorgen“, so der Wortlaut der Mitteilung.
Bei der Kundgebung dann, ein paar Meter weiter unter den Linden,
kritisieren mehrere RednerInnen, dass sie regelmäßig aufgefordert werden,
sich erst von den Taten der Hamas zu distanzieren, bevor sie irgendwelche
Forderungen stellen dürfen. „Ekelhaft“ sei es, dass Deutsche das von ihr
verlangten, sagt Candice Breitz, und die Journalistin Emily Dische-Becker
findet, die vorgeschaltete Frage wirke auf sie wie die Aufforderung einer
Website, den Button „Ich bin kein Roboter“ anzuklicken. Ferat Koçak fragt:
„Haben wir gefordert, dass sich die Almans von den Querdenkern
distanzieren? Haben wir nicht!“ Von der Hamas solle er sich aber ständig
abgrenzen, „weil ich aussehe, wie ich aussehe. Dabei bin ich noch nicht mal
Muslim.“
Trotz allem stellen viele ein weiteres Mal klar, dass sie keinerlei
Sympathien für die Hamas hegen. Und der israelische Architekt Eyal Weizman
vom KünstlerInnenkollektiv „Forensic Architecture“ berichtet ausführlich
von dem Moment, als palästinensische Freunde in Israel am 7. Oktober die
Trauer seiner Tochter, die als Menschenrechtsaktivistin tätig ist, teilten.
Weizman spricht offen und wiederholt von einem „Genozid“, den die
israelische Armee in Gaza verübe. Er berichtet von Recherchen seines
Kollektivs, die ergeben hätten, dass Bomben zum Einsatz kämen, die ihre
Sprengwirkung tief unter der Erde entfalten und Verwüstungen in einem viel
größeren Umfeld bewirken. „Die Vorstellung, dass sie genau wissen, was sie
da bombardieren, ist falsch“, so Weizman, „es ist eine Lüge.“
## „1x1 Pappschild mit Schrift“
Der Begriff „Genozid“ sorgt an diesem Abend auch wieder für einen
Polizeieinsatz: Als schon zwei Stunden vergangen sind, wird Iris Hefets von
der „Jüdischen Stimme“ festgenommen, in einem Einsatzfahrzeug werden ihre
Personalien aufgenommen. „Ich bekam dann einen Durchschlag von der Polizei,
auf dem als Tatbestand lediglich steht: „1x1 Pappschild mit Schrift
gehalten in der rechten Hand“, sagt sie. Die Schrift auf dem Schild
lautete: „Als Jüdin und Israelin: Stoppt den Genozid in Gaza“.
„Auf meinen Hinweis, dass ich damit schon seit einem Monat auf die Straße
gehe und es der Polizei längst bekannt sei, hieß es nur, es habe eine
Anweisung vom LKA gegeben“, sagt Hefets der taz. „Ich habe den Eindruck,
dass es Instruktionen gibt einzuschreiten, um eine solche Kundgebung zu
kriminalisieren. Irgendetwas ‚muss‘ passieren, und das wird dann eben
inszeniert.“
Später, auf dem Heimweg nach der Demonstration, wird eine andere Rednerin
angegriffen. „Eure Verantwortung und eure Täterschaft für damals und heute,
die könnt ihr nicht weg-konvertieren!“, hat die Rromni auf der Kundgebung
gesagt, gerichtet „an die Deutschen und especially Volker Beck“, den
Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Auf einem U-Bahnhof sei
sie von einer Gruppe linker Leute gefragt worden, ob sie „pro Hamas“ sei,
berichtet sie der taz, dann hätten sie versucht, ihr einen
Palästina-Sticker vom Rucksack und die Kufiya, das palästinensische Tuch,
vom Hals zu reißen.
Als sie sich gegen den Angriff zur Wehr setzte, wurde sie von einem der
Männer mit voller Wucht über die Bahnsteigkante gestoßen. Sie habe
minutenlang Todesangst gehabt. Zum Glück seien ihr dann die Umstehenden,
die sich vorher nicht eingemischt hätten, zur Hilfe gekommen, so dass sie
rechtzeitig aus dem Gleisbett klettern konnte. Die Täter waren da schon
längst verschwunden. Für die Rednerin ist klar: „Die haben mich als braune,
muslimische Rromni identifiziert.“
11 Nov 2023
## LINKS
[1] /Positionierungen-zum-Nahostkonflikt/!5971985
[2] /Kulturpolitik-im-Nahost-Konflikt/!5968435
[3] /Antisemitismus-auf-der-Documenta/!5860701
## AUTOREN
Claudius Prößer
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