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# taz.de -- Lob der Küche: Sie ist zum Leben da
> Der wahre Mittelpunkt der Wohnung ist die Küche. Vom Arbeitsplatz der
> Hausfrau wurde sie zum offenen Raum, in dem vieles ausgehandelt wird.
Bild: Küche bedeutet auch, mit den Eigenheiten anderer zurechtkommen zu müssen
Wie bei den meisten Menschen beginnt mein Tag morgens in der Küche, wo ich
mit zerknittertem Gesicht zuallererst zur Espressokanne stolpere. Der Tag
endet auch hier bei einem Abendtee, der manchmal beim Einschlafen hilft –
und manchmal nicht. Hier wird nicht nur Tee, Kaffee und Essen gekocht, hier
passiert noch viel mehr. Ich glaube, dass [1][die Küche] der Mittelpunkt
der meisten Wohnungen ist, der Raum, in dem das Leben spielt, an dem sich
zeigt, was in der Gesellschaft passiert.
Und weil das so ist, habe ich in Küchen schon so gut wie alles erlebt:
Küsse und Trennungen, Geburtstage und Abschiede, genussvolles Essen und den
Weg des Essens wieder heraus, weil es in zu viel Schnappes schwamm. Die
Küche ist ein sehr intimer Raum – zeig mir deine Küche, und ich sag dir,
wer du bist – doch gleichzeitig auch ein öffentlicher Raum, in dem Gäste
bewirtet und geschäftliche Telefonate geführt werden. Die besten Partys,
das ist weithin bekannt, enden in der Küche. Hier wird auf Socken getanzt
und in Schuhen geplaudert.
Küchen, die so offen sind wie heute, gab es natürlich nicht immer. Bis in
die 1970er war die (westdeutsche) Küche vor allem der [2][Arbeitsplatz der
Hausfrau]. Noch mein Opa betrat die Küche immer nur dann, wenn meine Oma
wegen Krankheit nicht kochen konnte – und stellte dort seine für diese
Ausnahmefälle vorgesehenen Reibekuchen her. Gleichzeitig wusste schon meine
Oma, dass in diesem Raum die Musik spielt, im wahrsten Sinne des Wortes:
Sie hatte von früh bis spät dort das Radio laufen, holte sich damit die
Welt in die Küche. In meiner Kindheit hatte sich diese Rollenverteilung ein
wenig aufgelöst, mein Papa kümmerte sich ums Essen, hinterließ die Küche
aber wie ein Schlachtfeld.
Heute habe ich einige [3][WG-Küchen] hinter mir und weiß, dass
Gleichberechtigung sich vor allem in diesem Raum zeigt: Es gibt Küchen, in
denen ein kleiner Küchendiktator die Entscheidungsgewalt innehat, aber auch
solche, in denen gemeinsam geschaffenes Chaos herrscht, das von allen
konsequent ignoriert wird. Es gibt Ticks, die das gemeinsame Kochen
erschweren, und Raubüberfälle auf Leckereien, die mit Beschriftungen oder
im äußersten Fall mit Spucke geschützt werden müssen.
## Immer eine Portion für Gäste
Es gibt Küchen, die offen für alle sind, in denen immer eine Portion mehr
für spontane Gäste bereitsteht. Aber auch in gastfreundlichen Küchen bricht
hin und wieder eine Mottenplage aus oder Streit vom Zaun, weil der
Mitbewohner immer so kocht, dass sich an den Wandfliesen neben dem Herd der
Speiseplan der letzten Woche ablesen lässt.
Genau in solchen Situationen zeigt sich, wer bereit ist, Marotten
auszuhalten, weil die Gemeinschaft zählt, weil es hier die lustigsten
Tanzeinlagen und tiefsinnigsten Nachtgespräche gibt, weil auf das Schnipsen
der Streichholzschachtel über den Esstisch der größtmögliche Lachflash
folgt und auf den Streit über den Platz des Sparschälers der versöhnlichste
Sex.
## Es muss ausgehalten werden
In jeder Küche muss ausgehalten werden, dass alle, die sie nutzen, anders
sind, wie es eben in der Gesellschaft auch ist. Klar, das macht es
anstrengend – wer übersieht schon gern den Stinkekäse im Kühlschrankfach
der Mitbewohnerin? Andererseits: Wer verzichtet gern auf die gemeinsamen
Geschichten, die so eine Küche schon erlebt hat und für die viele
Gegenstände Zeugen sind?
Dabei sind es oft nicht die teuren Maschinen oder das edle Geschirr, die
solche Geschichten erzählen, sondern die kleinen Dinge: Das Salztöpfchen,
das in ganz Kopenhagen gesucht und von dort mitgebracht wurde, der
liebevoll angeklebte Griff einer uralten Tasse, der ihr langes Leben
anzusehen ist, der Topf, in dem die köstlichsten Nudeln aller Zeiten unter
verliebten Blicken zubereitet wurden, die eingerahmte Kolumne einer
Autorin, die so ziemlich das kann, wo ich als Schreiberin eines Tages
hinkommen will.
## Küche gewinnt an Bedeutung
Ich glaube, dass die Küche in der Zeit der Pandemie und im Winter, wenn
[4][die Heizkosten uns sorgen], wieder an Bedeutung gewonnen hat: Weil
Essen auswärts nicht erlaubt war, entdeckten viele während der Lockdowns
das Kochen für sich. Ich zum Beispiel verpackte den Frust und die
Einsamkeit in Aufläufe und Kuchen, die ich Abend für Abend in den Ofen
schob, um wenigstens irgendwas gebacken zu bekommen. Andere legten sich
einen Leihgarten an oder kauften regionale Lebensmittel beim Bauernhof im
ländlichen Umkreis.
Als die Gaspreise stiegen, war die Küche schlicht der wärmste Raum in
meiner mäßig isolierten Wohnung. Ich habe hier praktisch alles gemacht –
gearbeitet, gekocht, gegessen, geliebt, gelacht. Bei Kerzenschein, dem
laufenden Backofen und den 120 Watt Wärmeleistung pro Person entwickelten
sich hier alle möglichen Gespräche. Nun kommt der Winter bald wieder, und
ich habe nie aufgehört, hier die meiste Zeit zu verbringen. [5][Dass offene
Wohnküchen sich durchgesetzt haben], ist sowohl in Wohnungen als auch in
Möbelgeschäften nicht mehr zu übersehen: Wer durch Ikea streift, sieht,
dass selbst die schlauchigste Küche noch über einen gemütlichen Sitzbereich
verfügen soll. Die Botschaft wird deutlich: Die Küche ist zum Leben da!
## Idee der offenen Küche
Nun gibt es natürlich architektonisch offene Küchen, in denen sich trotzdem
Menschen aufhalten, die in Sachen Offenheit noch eher in den 1960ern leben.
Ob es sich um eine offene, gleichberechtigte Küche handelt, entscheidet
sich vermutlich nicht am Innenleben der Küche, sondern an dem ihrer
Nutzer*innen. Die Idee einer offenen Küche, die ein Lebensmittelpunkt ist,
setzt sich hoffentlich weiter durch.
Damit eines Tages auf jedem Küchentisch kommentar- und bedingungslos ein
Teller mehr für Gäste gedeckt wird, damit alle hier nicht nur Chaos,
sondern auch Ordnung reinbringen, damit kleine Küchendiktatoren auch für
Langsam-Schnibbler*innen Platz machen und damit sich eines Tages alle für
die Lebensmittelmotten verantwortlich fühlen. Diesen Text übrigens habe
ich– wo sonst? – in der Küche verfasst.
21 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Alina Komorek
## TAGS
Küche
Küchengerät
WG
Wohnraum
Gemeinschaft
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Gastronomie
Kolumne Das bisschen Haushalt
Zukunft
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an fünf Regeln halten. Aber Vorsicht, Konflikte im Paarbereich sind
vorprogrammiert.
Die Verständnisfrage: Kein Grund sich zu verstecken!
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