| # taz.de -- Linkes Engagement in den US-Südstaaten: Wohin geht der Süden? | |
| > Die Südstaaten der USA sind politisch großteils in den Händen | |
| > erzkonservativer Republikaner. Aber langsam wächst der Widerstand. | |
| Bild: Justin Pearson (Mitte) protestiert zusammen mit anderen Demonstranten im … | |
| Memphis, Hattiesburg und Atlanta taz | Ein „Fundament aus Liebe, Säulen der | |
| Gerechtigkeit, ein Dach aus Mut, und Türen, die offen sind für alle“ – es | |
| waren große Metaphern, die der Abgeordnete Justin Pearson im Frühjahr | |
| benutzte, als er ins Parlament von Tennessee zurückkehrte. So stelle er | |
| sich das Repräsentantenhaus seines Bundesstaats vor, sagte der Schwarze | |
| Demokrat. Die „Säulen“ formte er dabei mit den Händen, wie man auf den | |
| Fernsehbildern sehen konnte. Für Jubel pausierte er in seiner Rede. | |
| Die republikanische Mehrheit hatte Pearson und einen weiteren Schwarzen | |
| Demokraten, Justin Jones, [1][am 6. April 2023 aus dem Parlament | |
| ausgeschlossen.] Wegen „ungebührlichen Verhaltens“. Beide hatten den | |
| Protest gegen zu laxe Waffengesetze ins Parlamentsgebäude in Nashville | |
| getragen, nachdem ein Amokläufer drei Kinder und drei | |
| Mitarbeiter:innen einer Grundschule ermordet hatte. Der Konflikt | |
| machte Pearson, Jones und Gloria Johnson, eine dritte protestierende | |
| Abgeordnete, als die „Tennessee Three“ international bekannt. | |
| Ein Ausschuss seines Wahlbezirks Shelby County votierte einstimmig dafür, | |
| Pearson sofort nach seinem Rauswurf wieder für den frei gewordenen | |
| Parlamentssitz zu nominieren, [2][so dass er schon nach weniger als einer | |
| Woche ins Repräsentantenhaus zurückkehren konnte.] | |
| Seither wird er als progressiver Hoffnungsträger gefeiert. Pearson sei | |
| charismatisch und habe eine enge Verbindung zu den Menschen in seiner | |
| Heimatstadt Memphis, sagt etwa Tikeila Rucker von der Basisinitiative | |
| „Memphis for All“. In seinen Reden knüpft Pearson, selbst Pastorenkind, an | |
| den Stil von Predigern des progressiven Schwarzen Christentums an. | |
| Bereits als Jugendlicher konfrontierte er die Schulbehörde von Memphis, um | |
| bessere Unterrichtsmaterialien zu erreichen. 2020 organisierte er eine | |
| Koalition, um den Bau einer Ölpipeline zu stoppen. Als das Projekt nach | |
| Monaten des Widerstands tatsächlich aufgegeben wurde, war Pearson plötzlich | |
| das Gesicht eines wundersamen Erfolgs. Mit dieser Geschichte im Rücken | |
| kandidierte er schließlich fürs Parlament. | |
| Pearson gilt als Ausnahmetalent. Aber er ist keine Einzelerscheinung. | |
| Hinter dem Abgeordneten stehen soziale Bewegungen, die in den vergangenen | |
| Jahren gewachsen sind. Ohne sie, das betont er selbst, wäre Pearson gar | |
| nicht erst ins Parlament gelangt. Der Kampf der „Tennessee Three“ zeigt | |
| aber auch: Im Süden der USA wächst der Widerstand gegen den konservativen | |
| und zunehmend autoritären Status quo. | |
| ## *** | |
| „Wohin der Süden geht, dahin geht auch die Nation“, lautet ein bekanntes | |
| Zitat [3][des großen Schwarzen Soziologen W. E. B. Du Bois]. Im Schlechten | |
| wie im Guten habe der Süden den Rest des Landes geprägt: von der | |
| Sklav:innenhalterwirtschaft bis zum Widerstand der Schwarzen | |
| Befreiungsbewegung. Du Bois ist 1963 gestorben, seinen Satz kann man aber | |
| auch auf die Gegenwart übertragen: Robuste Mehrheiten lassen sich ohne den | |
| Süden kaum organisieren. Ein politischer Wandel der USA weg von der | |
| Dominanz der Rechtskonservativen wird ohne diese Region nicht erreichbar | |
| sein. | |
| Der Süden hat schon deswegen hohe Bedeutung für das Land, weil in keiner | |
| Großregion mehr US-Amerikaner:innen leben. Laut Zensus sind es rund 130 | |
| Millionen, verteilt auf sechzehn Bundesstaaten und den District of Columbia | |
| um die Hauptstadt. Die Harvard-Professorin Imani Perry nennt den Süden das | |
| wahre „Heartland“ – üblicherweise eine Bezeichnung für den Mittleren | |
| Westen. | |
| In ihrem Buch „South to America“ erklärt Perry, dass die Sklaverei das | |
| „Verhältnis der Amerikaner:innen zu Arbeit und Boden“ geprägt habe und | |
| man die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus somit nicht vom Süden | |
| trennen könne. Wer die heutigen Machtverhältnisse verstehen wolle, müsse | |
| deshalb südlich von Washington, D. C., ansetzen. | |
| Der Süden werde in seiner Bedeutung oft verkannt, sagt auch James Thomas, | |
| Soziologe an der Universität in Oxford, Mississippi. Das liege unter | |
| anderem daran, dass viele Politiker:innen und Journalist:innen bei | |
| Kategorien wie „ländlich“ oder „working class“ immer noch zuerst an We… | |
| denken. Der Süden sei jedoch nicht nur die Region mit dem größten Schwarzen | |
| Bevölkerungsanteil, sondern auch der ländlichste und ethnisch diverseste | |
| Teil des Landes. „Der Süden ist kein überwältigend konservatives Gebiet“, | |
| sagt Thomas. „Der Süden ist ein Ort, der heiß umkämpft ist.“ | |
| Die Region ist voller Widersprüche. Die Menschen hier sind durchschnittlich | |
| ärmer als im Rest des Landes, und struktureller Rassismus bestimmt viele | |
| Lebensbereiche. Gleichzeitig ist der Süden für Unternehmen besonders | |
| attraktiv – niedrige Steuern und Löhne ziehen auch Autobauer wie Volkswagen | |
| an. In vielen Vorgärten sieht man bis heute auch die Konföderierten-Flagge, | |
| das Symbol der ehemaligen Sklav:innenhalterstaaten. | |
| Christliche Kirchen mit extremen Ideologien haben im Süden besonders großen | |
| Einfluss. Und fast flächendeckend regieren die Republikaner mit einem | |
| zunehmend repressiveren Programm. Die Partei verbietet Abtreibungen, | |
| schränkt das Wahlrecht ein, unterdrückt Gewerkschaften, erlässt | |
| transfeindliche Gesetze. Wer nur diese Schlagzeilen verfolgt, kann vom | |
| Süden die Vorstellung einer reaktionären Masse bekommen. | |
| Zur Realität gehört aber nicht nur, dass viele Menschen unter der rechten | |
| Politik leiden, sondern auch, dass viele Bürger:innen an den politischen | |
| Prozessen gar nicht erst beteiligt sind. Bei den Kongresswahlen 2022 gab | |
| weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In | |
| Mississippi waren es nur 31,5 Prozent – nirgendwo sonst im Land ist die | |
| Beteiligung so gering. Davon profitieren vor allem die Republikaner, die | |
| schon länger darauf setzen, ihre überwiegend weiße Basis zu agitieren, | |
| während ein großer Teil der Bevölkerung resigniert. „Minority Rule“ nennt | |
| sich das: autoritäres Regieren trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit. | |
| Aus genau dieser Konstellation ergibt sich aber auch das Potenzial für | |
| politische Veränderungen. | |
| ## *** | |
| In Memphis im Bundesstaat Tennessee lässt sich beobachten, dass Menschen | |
| nicht nur resignieren, sondern sich auch politisch organisieren. Das liegt | |
| vor allem an progressiven Gruppen, die die Basisarbeit leisten. | |
| [4][„Memphis for all“] ist eine solche Initiative. Sie wurde im Dezember | |
| 2016 gegründet – einen Monat nach Donald Trumps Wahl zum Präsidenten. | |
| „Viele wollten sich damals politisch einbringen, aber wussten nicht, wo“, | |
| sagt Bennett Foster, der die Gruppe leitet. | |
| Durch den Trump-Schock sei die Überzeugung gewachsen, dass sich auch die | |
| Demokratische Partei wandeln müsse. Bernie Sanders’ linker Wahlkampf habe | |
| ihnen zudem Mut gemacht, dass es anders gehen könne. | |
| Foster, 38 Jahre alt, ein großer Mann mit braunen Haaren und kleinen | |
| silbernen Ohrringen, sitzt in einem Sitzungsraum im Seitengebäude einer | |
| Kirche. Sein Handy legt er kaum aus der Hand, tippt auf einem Laptop – mal | |
| geht es um Flyer, die gedruckt werden müssen, mal darum, einen Raum für | |
| eine Veranstaltung zu besorgen. Wie viele Städte des Südens hat Memphis | |
| einen Demokraten als Bürgermeister und ist eine vergleichsweise liberale | |
| Stadt. Die Stärke der republikanischen Partei kommt oft von den Weißen, die | |
| in Vorstädten und auf dem Land leben. | |
| Die liberale protestantische „First Congressional Church“ stellt Bennett | |
| Foster und den anderen Aktivist:innen Räume zur Verfügung, das Geld für | |
| die zehn Angestellten von „Memphis for all“ kommt aus Spenden. | |
| Die Kirche liegt im Viertel Cooper-Young, zwischen szenigen Cafés. An den | |
| Wänden hängen Bilder von Martin Luther King, der 1968 in Memphis ermordet | |
| wurde. Foster, der hier aufgewachsen und einer der wenigen Weißen im Team | |
| ist, sagt, dass das wichtigste Ziel der Initiative eine höhere | |
| Wahlbeteiligung sei. Dafür ziehen die Mitglieder von Tür zu Tür, richten | |
| Veranstaltungen aus, helfen bei der Registrierung. | |
| „Wir mussten in den letzten Jahren viel dazulernen“, sagt Foster. Zum | |
| Beispiel, wie elementar die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen sei. „Wir | |
| gehen zu Gewerkschaftstreffen, um die Leute dort für die Wahl zu | |
| mobilisieren. Die Gewerkschaften wiederum kommen zu uns, wenn sie Leute am | |
| Streikposten brauchen.“ Ohne konkrete Themen ließen sich Wähler:innen | |
| schwer motivieren. Die Initiative versucht deshalb, über politische Ziele | |
| ins Gespräch zu kommen: eine staatliche Krankenkasse für alle, eine Reform | |
| des Strafjustizsystems, mehr Schutz für Einwander:innen ohne Papiere | |
| und ein strengeres Waffengesetz. Es sind genau die Dinge, für die auch | |
| Justin Pearson kämpft. | |
| Die Aktivist:innen in Memphis sind stolz auf den Abgeordneten, mit dem | |
| sie eng zusammenarbeiten. Zugleich wissen sie, dass einzelne Lichtgestalten | |
| auf Dauer wenig ausrichten können. „Wir wollen Tennessee politisch | |
| umdrehen“, sagt die Aktivistin Tikeila Rucker. Sollte dieses Ziel | |
| irgendwann erreicht werden, könnte das auch Auswirkungen auf die Politik in | |
| Washington haben. | |
| Für viele Reformen brauchen die Demokraten im hundertköpfigen US-Senat eine | |
| Mehrheit von 60 Stimmen. Diese Mehrheit kann die Partei eigentlich nur | |
| erreichen, wenn sie in Bundesstaaten wie Tennessee irgendwann auch | |
| Senatswahlen gewinnt. | |
| Bislang ist der Wandel im Süden vielerorts nur eine Andeutung. Doch | |
| angesichts der schwierigen Bedingungen ist jeder Versuch aus Sicht | |
| liberaler und linker Kräfte schon erfreulich. Das gilt nicht nur für die | |
| Wahlpolitik, sondern auch für die Gewerkschaftsbewegung, die in den | |
| vergangenen Jahren neuen Aufschwung bekommen hat. Bei Starbucks haben | |
| Angestellte in zahlreichen Städten des Südens mittlerweile erreicht, dass | |
| es eine gewerkschaftliche Vertretung gibt. In der Kleinstadt Bessemer in | |
| Alabama kämpfen die Beschäftigten eines Amazon-Logistikzentrums seit 2021 | |
| für dieses Ziel. Mit der [5][Union of Southern Service Workers] gibt es | |
| zudem eine neue Gewerkschaft, die Arbeiter:innen aus verschiedenen | |
| Dienstleistungsjobs zusammenbringen will. | |
| Diese Auseinandersetzungen haben besonderes Gewicht, weil fast überall im | |
| Süden „Right to work“-Gesetze gelten: Arbeiter:innen haben meist keinen | |
| Kündigungsschutz. Gewerkschaften wird verboten, verpflichtende | |
| Mitgliedsgebühren zu verlangen. Im Süden sind daher nur 4,5 Prozent aller | |
| Beschäftigten organisiert. Während jeder Vorstoß für eine stärkere | |
| gewerkschaftliche Vertretung den progressiven Kräften Mut macht, ist er für | |
| die einzelnen Arbeiter:innen immer auch ein Existenzrisiko. | |
| ## *** | |
| Christina Jiménez nahm im März 2022 dieses Risiko auf sich. Sie streikte, | |
| zum ersten Mal in ihrem Leben. Wie ihr Arbeitgeber, die Callcenter-Firma | |
| Maximus, darauf reagieren würde, war unklar. Die Mitarbeiter:innen | |
| hatten Angst, dass die Firma ihnen kündigen oder den Standort schließen | |
| könnte. Und doch wagten Jiménez und rund 40 Kolleg:innen, von denen die | |
| meisten ebenfalls Schwarze Frauen sind, den Streik. Wenn sie heute darüber | |
| spricht, erinnert sich Jiménez vor allem an das Gefühl, etwas bewegen zu | |
| können: „Bei meinem allerersten Streik habe ich meine Tochter mitgenommen. | |
| Sie war zu der Zeit drei Jahre alt. Ihr zu zeigen, wie man für seine Rechte | |
| eintritt, war fantastisch.“ Sie habe ihrer Firma zeigen können, „dass ich | |
| nicht nur eine Zahl bin, sondern eine Stimme habe, dass ich nicht nur ein | |
| Roboter bin, sondern ein menschliches Wesen“. | |
| Jiménez ist 29 und hat drei Kinder, die sie allein großzieht. Sie wohnt in | |
| Hattiesburg, einer mittelgroßen Stadt im Süden des Bundesstaats | |
| Mississippi. Jiménez sitzt im Büro der Gewerkschaft CWA, die | |
| Arbeiter:innen in der Telekommunikationsbranche vertritt. Sie wirkt | |
| erschöpft, aber lächelt viel. Nur kurz hat sie Tränen in den Augen, als sie | |
| erzählt, dass sie vor ihrem Umzug nach Mississippi in einem Obdachlosenheim | |
| in Georgia gewohnt habe. Ein Leben „ganz unten in der Hierarchie“. Dieses | |
| Bild benutzt sie mehrfach im Laufe des Gesprächs. | |
| Der Job im Callcenter sei hart. Jiménez nimmt von 8.30 Uhr bis 17 Uhr | |
| Anrufe entgegen, um Versicherte von Medicare, der staatlichen | |
| Krankenversicherung für Rentner:innen, zu beraten. Ihr Arbeitgeber Maximus | |
| ist eine private Firma, Auftraggeber ist aber die Bundesregierung, die sich | |
| mit Mississippi einen Staat ausgesucht hat, in dem die Arbeit billig ist. | |
| Manchmal werde sie beschimpft, sagt Jiménez. Einige Versicherte, die | |
| verzweifelt seien, weil sie sich mehr Unterstützung gewünscht hatten, | |
| hätten schon mit Selbstmord gedroht. Und wenn man sich gerade fangen müsse, | |
| sei schon der Nächste in der Leitung. | |
| Mehr als eine Handvoll „sick days“ habe sie am Anfang nicht gehabt. Das ist | |
| eine feste Anzahl von Tagen, an denen Beschäftigte krank sein dürfen. Zudem | |
| sei ihre eigene Krankenversicherung so mangelhaft, erzählt Jiménez, dass | |
| sie neben dem monatlichen Beitrag von 900 Dollar, den sie für sich und ihre | |
| Kinder aufbringen muss, auch für die meisten Behandlungen extra zahle. Sie | |
| müsse sich oft entscheiden, ob sie sich „Licht, Wasser, Essen oder Benzin“ | |
| leiste – oder eben den Arzt für ein krankes Kind. | |
| Sie arbeitete erst ein paar Tage in ihrem Job, als ihr das Management ein | |
| Video zeigte, in dem vor Gewerkschaften gewarnt wurde. Klassisches „Union | |
| Busting“, für das oft auch Rechtsanwaltskanzleien und Beratungsteams | |
| angeheuert werden, um Mitarbeiter:innen einzuschüchtern. Weil jeder | |
| Standort einzeln abstimmen muss, ob eine Gewerkschaft dort zugelassen wird, | |
| bleibt dafür viel Raum. Allein Amazon gab im Jahr 2022 mehr als 14 | |
| Millionen Dollar für Anti-Gewerkschafts-Berater:innen aus. | |
| Dreimal haben Jiménez und ihre Kolleginnen inzwischen gestreikt. Mit | |
| Erfolg: Ihr Lohn ist von 11 auf 16 Dollar die Stunde gestiegen. Es gibt | |
| auch mehr bezahlte Krankentage. Für Jiménez änderte sich darüber hinaus | |
| ihre grundsätzliche Sicht auf politisches Handeln. „Ich war zu hundert | |
| Prozent einer dieser typischen Menschen, die sagen: Warum soll ich wählen, | |
| das ändert doch nichts“, sagt sie. „Aber je mehr ich in der Gewerkschaft | |
| mitmache, desto klarer ist mir, wie wichtig Politik ist.“ | |
| Es ist diese Erkenntnis eigener Handlungsmacht, vor der nicht nur | |
| Unternehmen Angst haben. Je mehr Menschen ihre Rechte am Arbeitsplatz | |
| einforderten und ihre Resignation gegenüber der Politik aufgäben, desto | |
| gefährlicher sei das für die gesamte „herrschende Machtstruktur im Süden�… | |
| sagt der Soziologe James Thomas. | |
| Politischer Wandel im Süden werde viel Zeit brauchen. „Ich glaube, es wird | |
| erst noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird“, meint Thomas. Ein | |
| zentrales Problem sei das „Gerrymandering“, bei dem Parteien die | |
| Wahlbezirke für die Kongresswahlen so zuschneiden, wie es ihnen am meisten | |
| nützt. | |
| In Mississippi ist so die überwältigende Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung | |
| in einem einzigen Kongressbezirk vertreten, der an die Demokrat:innen | |
| geht, während die anderen drei Bezirke eine weiße und konservative Mehrheit | |
| haben. Ein anderes Mittel, mit dem die Republikaner:innen ihre Macht | |
| verteidigen, sei Wahlbehinderung, sagt Thomas: komplizierte Vorschriften | |
| bei der Registrierung oder das Schließen von Wahllokalen. | |
| Hoffnung schöpft der Soziologe mit Blick auf die Vergangenheit: „Der Süden | |
| war schon immer der Ort unserer radikalsten sozialen Bewegungen und der | |
| radikalsten Formen des Widerstands, die bis in die Zeit der Versklavung | |
| zurückreichen“, sagt er. | |
| ## *** | |
| Wenn es in den USA derzeit einen Ort gibt, an dem verschiedene progressive | |
| Bewegungen zusammenkommen, dann ist es Atlanta. In der Hauptstadt von | |
| Georgia kämpfen seit Frühjahr 2021 Tausende Menschen gegen die Errichtung | |
| eines Polizeitrainingsgeländes, das in einem Wald südlich der Stadt geplant | |
| ist. Mit rund 350.000 Quadratmetern Fläche wäre es das größte im ganzen | |
| Land. Mindestens 90 Millionen Dollar soll es kosten, ein großer Teil davon | |
| durch Steuergelder finanziert. Eigentlich sollte [6][„Cop City“], wie die | |
| Gegner:innen das Projekt nennen, schon fertig sein. Der Widerstand hat | |
| es verzögert. | |
| Wie breit die Bewegung gegen Cop City ist, wird an einem Samstag in einer | |
| Vorschule im östlichen Teil von Atlanta sichtbar. Die Direktorin der | |
| Highlander School, Rukia Rogers, hat die Aktivist:innen zu sich geholt, | |
| weil sie von der Sache überzeugt ist. Wo normalerweise Kinder spielen, | |
| treffen sich nun rund 30 Leute. Studenten, Eltern, Rentnerinnen. Sie | |
| unterhalten sich, essen Wassermelone und Kekse und versammeln sich dann im | |
| Kreis, wo eine junge Frau erklärt, wie man erfolgreich Unterschriften | |
| sammelt. | |
| In kleinen Teams werden sie später durch die Nachbarschaft ziehen. „Ich | |
| glaube weiterhin, dass Cop City nie gebaut werden wird“, sagt die | |
| 49-jährige Rukia Rogers. Sie trägt ein blaues, weites Kleid und sorgt an | |
| diesem Tag mit Scherzen dafür, dass die Stimmung optimistisch bleibt. | |
| Dass die Proteste so intensiv sind, habe verschiedene Gründe, sagt sie. Ein | |
| wesentlicher Punkt sei „die fortschreitende Militarisierung der Polizei“, | |
| unter der vor allem Schwarze und arme Menschen leiden. 90 Prozent der in | |
| Atlanta Festgenommenen sind Schwarz, obwohl sie etwas weniger als die | |
| Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Auch in den Gefängnissen der Stadt sitzen | |
| überproportional viele Schwarze – oftmals nur deshalb, weil sie sich die | |
| Kaution nicht leisten können. Zum anderen gehe es um die Umweltzerstörung, | |
| die mit Cop City verbunden sei, sagt Rogers. Teile eines Walds, wo früher | |
| die indigene Gemeinschaft der Muskogee lebte, wurden bereits gerodet. Der | |
| Wald gilt als eine der „vier Lungen der Stadt“, er kühlt und schützt vor | |
| Fluten. | |
| Kritiker:innen sehen das Projekt als typisch für den sogenannten | |
| Atlanta Way, womit eine Kooperation der Schwarzen und weißen Oberschicht | |
| zulasten der Arbeiter:innenklasse gemeint ist. Initiiert wurde das | |
| Vorhaben durch die Polizeistiftung APF, die von Spenden großer Konzerne | |
| lebt. | |
| Bemerkenswert ist nicht nur die Hartnäckigkeit der Bewegung gegen Cop City, | |
| sondern auch die Bandbreite ihrer Aktionen. Zeitweise hatten die | |
| Aktivist:innen ein Protestcamp im Wald eingerichtet. Immer wieder | |
| sabotierten sie die Bauarbeiten. Die Polizei reagierte zunehmend gewaltsam. | |
| Gegen 61 Aktivist:innen laufen mittlerweile Verfahren wegen des | |
| Vorwurfs der Bildung einer „kriminellen Vereinigung“. [7][Im Januar dieses | |
| Jahres erschossen die Beamt:innen bei einer Razzia eine:n der | |
| Besetzer:innen im Wald.] 57 Schüsse trafen „Tortuguita“, mit | |
| bürgerlichem Namen Manuel Terán, eine 26-jährige nichtbinäre Person. | |
| „Cop City“ wirkt wie eine Verdichtung verschiedener struktureller Probleme. | |
| An der Protestbewegung sind deshalb neben radikal-linken Gruppen auch | |
| zahlreiche Gewerkschaften, Klimainitiativen und andere | |
| zivilgesellschaftliche Kräfte beteiligt. | |
| Mehr als 100.000 Unterschriften wurden in den vergangenen Monaten | |
| gesammelt, um ein Referendum zu erwirken. Das Projekt ist für die gesamte | |
| amerikanische Linke von zentraler Bedeutung. Für die nächste Aktionswoche, | |
| die Mitte November stattfinden soll, haben sich viele Aktivist:innen | |
| aus anderen Städten angekündigt. | |
| Und so gilt weiterhin: Was hier im Süden passiert – oder eben nicht –, kann | |
| das ganze Land verändern. | |
| 12 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-Rauswurf-zweier-US-Abgeordneter/!5927064 | |
| [2] https://www.spiegel.de/ausland/usa-abgeordnete-justin-jones-und-justin-pear… | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/W._E._B._Du_Bois | |
| [4] https://www.memphisforall.com/ | |
| [5] https://ussw.org/ | |
| [6] https://en.wikipedia.org/wiki/Cop_City | |
| [7] /Waldproteste-eskalieren/!5910106 | |
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| Lukas Hermsmeier | |
| Frauke Steffens | |
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