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# taz.de -- Jüdisches Leben in Deutschland: „Nie wieder ist jetzt“
> Israel reagiert auf den Terror der Hamas in Gaza – und Jüdinnen und Juden
> in Deutschland werden angefeindet. Wie gehen sie damit um? Vier
> Protokolle.
Bild: Ein Loch in der Fensterscheibe des Jüdischen Krankenhauses in Berlin-Wed…
„Mittlerweile werden wir bewacht“
Fünf oder sechs Mal am Tag klingelt bei uns derzeit im Restaurant Schalom
das Telefon. Es sind Gäste, die ihre Reservierungen stornieren. Sie sagen,
dass sie Angst haben, zu uns zu kommen. Sie wollen ihre Kinder keinem
Risiko aussetzen. Einige von ihnen sagen, dass sie gerne in sechs Monaten
wieder zu uns kommen, wenn es uns dann noch gibt. Was meinen sie damit?
Gehen sie davon aus, dass unser Restaurant bis dahin geschlossen ist oder
dass wir erschossen wurden?
Dass die Polizei bei uns Streife fährt, ist nicht neu, doch mittlerweile
werden wir bewacht. Am Freitag, dem 13. Oktober, hatte die Hamas zum „Tag
des Zorns“ auf der ganzen Welt aufgerufen. An diesem Tag haben wir den
Geburtstag meiner Frau im Restaurant gefeiert, und das mit ständigem Blick
auf die Polizei. Natürlich gibt es einem auch ein Gefühl von Sicherheit,
aber es wird auch permanent visualisiert: Hier stimmt etwas nicht.
Am 11. Oktober waren wir bei einer proisraelischen Kundgebung in Chemnitz,
da gab es Gegendemonstranten mit palästinensischen Flaggen, die haben
gerufen: „Wir werden euch alle aufschlitzen.“ Als meine Frau, das Gespräch
mit ihnen gesucht hat, haben sie ihr das auch direkt an den Kopf geworfen.
Wir haben natürlich Anzeige erstattet, doch es kann ja nicht sein, dass das
Alltag in Chemnitz ist.
Natürlich erfahren wir auch Solidarität – immer wenn Hakenkreuze an unsere
Wände gemalt werden oder auch nach einem Anschlag durch Neonazis 2018 auf
mich und mein Restaurant. Kürzlich habe ich mein Restaurant für einen Tag
geschlossen, einfach um meinen Mitarbeitern und mir eine kurze Pause zu
gönnen von dem ganzen Krieg, Krieg, Krieg. Da habe ich sofort dutzende
besorgte SMS bekommen, ob etwas los sei? Das ist zwar nett gemeint, aber
auch anstrengend.
Denn gute Worte sind schnell gesprochen, sag ich mal. Ich möchte das auch
gar nicht kritisieren, es ist schön, wenn Menschen ihr Mitgefühl zeigen,
aber das kommt und geht halt in Wellen. Letztlich sind wir aber ein
normales Restaurant und ich wünsche mir, dass die Menschen nicht aus
Betroffenheit zu uns kommen, sondern aus Neugier aufs Essen.
Uwe Dziuballa, 58 Jahre, Gastwirt in Chemnitz
„Es kommen deutlich weniger Juden in die Synagoge“
Der 7. Oktober war ein Schock für mich, für uns alle. Ich habe noch nie so
viel geweint wie in den Tagen danach. Mir war ziemlich schnell klar, dass
die Massaker der Hamas in Israel Auswirkungen auf Deutschland haben werden,
das kenne ich aus der Vergangenheit. Ich bin in einen Waffenladen gegangen
und habe gefragt: Was kann ich denn tun, um mich auf legale Weise zu
verteidigen? Und ich habe für meine Familie und mich Pfefferspray gekauft.
Diese Angst spüre ich überall. Es kommen deutlich weniger Juden in die
Synagoge. Einer der Besucher hat sie neulich betreten, ohne dass der
Sicherheitsdienst es bemerkt hat. Danach ist fast eine Hysterie in der
Gemeinde ausgebrochen, wie das denn sein könne. Das zeigt einfach, wie
wenig Sicherheitsgefühl gerade bei vielen da ist. Aber nicht nur Juden
haben Angst, wir machen auch regelmäßig Führungen für Schulklassen in der
Synagoge. Und bei der letzten, die meine Schwester geleitet hat, haben zehn
Kinder gefehlt.
Auch ich bin viel vorsichtiger geworden in der Pforzheimer Innenstadt.
Niemals würde ich einer Gruppe arabischer Jugendlicher sagen, dass ich Jude
bin. Schon lange trage ich in der Öffentlichkeit keinen Davidstern mehr.
Ich fürchte, dass die Erfahrungen der letzten Wochen dazu führen, dass
jüdisches Leben in Deutschland immer unsichtbarer wird.
Ein Großteil meiner Familie wohnt in Israel. Meine Cousine überlegt, mit
ihrer Familie nach Deutschland zu kommen. Sie hat gefragt, wie die
Situation hier gerade ist, weil ihre Kinder hebräisch sprechen. Und, ganz
ehrlich, ich würde ihr davon abraten, in der Pforzheimer Innenstadt auf der
Straße hebräisch zu sprechen.
Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich noch nie so viel Support erlebt habe
wie in den letzten Wochen. Leute rufen an, kommen unangekündigt bei uns zu
Hause vorbei – und das will schon etwas heißen in Deutschland. Da habe ich
wirklich Glück mit meinem Umfeld. Aber gesellschaftlich sehe ich immer
weniger Safe Spaces für Juden. Mit Rechten wollen wir selbstverständlich
nichts zu tun haben. Ich selbst habe mich lange sicher gefühlt unter
Linken, aber jetzt sehe ich, wie dort die Hamas-Propaganda immer mehr
Anschluss findet.
Und die Mitte der Gesellschaft? Die spricht zwar Solidarität aus, aber wenn
Juden anfangen sich zu verteidigen, passt ihnen das auch nicht und
antisemitische Einstellungen können zum Vorschein kommen.
In Pforzheim ist es bislang verhältnismäßig ruhig geblieben, aber wenn ich
die Bilder der sogenannten propalästinensischen Demos aus Paris, Berlin
oder London sehe, finde ich das nur gruselig. Wir Juden wussten immer, dass
wir nach Israel können, wenn es hier zu brenzlig wird, da nur in Israel die
Sicherheit der Juden wirklich uneingeschränkt Staatsräson ist. Aber diese
Gewissheit wurde am 7. Oktober durch die Hamas-Terroristen erschüttert.
Deshalb müssen diese Terroristen unschädlich gemacht werden. Nie wieder ist
jetzt.
Michael, 34 Jahre, Start-up-Gründer aus Pforzheim
„Ich bin empört, was in Deutschland passiert“
Als ich am [1][7. Oktober von den Massakern in Israel] hörte, war ich
zutiefst schockiert. So sehr, dass ich anfing zu weinen und über den
Teppich in meiner Wohnung stolperte und stürzte. Seitdem liege ich im
Krankenhaus.
Ich bin empört darüber, was in Deutschland passiert. Synagogen werden
angegriffen, Palästinenser demonstrieren und feiern die Hamas. Von der
deutschen Regierung fühle ich mich im Stich gelassen. Was tut sie, damit
wir Juden hier sicher leben können? Als am 13. Oktober von der Hamas zum
weltweiten „Tag des Zorns“ gegen Israel aufgerufen wurde, hat mein Sohn
entschieden, seine Kinder, meine Enkel, nicht in die Schule zu schicken.
Sie besuchen das jüdische Gymnasium in Frankfurt. Mein Sohn hatte zu viel
Angst davor, dass ihnen etwas passieren könnte. Seitdem fährt er die Kinder
morgens mit dem Auto zur Schule. Nachmittags gehen meine Enkel und ihre
Mitschüler in Gruppen nach Hause, niemals alleine.
Ich bin 82 Jahre alt. Und ich habe keine Angst. Denn ich habe schon das
Schlimmste in meinem Leben erlebt und überlebt. Als die Deutschen 1941 nach
Kaunus in Litauen einmarschierten, musste meine Familie ins Ghetto
übersiedeln. Ich war damals gerade erst sechs Monate alt. Meine gesamte
Familie wurde später von den Deutschen ermordet, nur ich nicht. Mein Vater
hatte mich aus dem Ghetto geschmuggelt. Er gab mir ein Schlafmittel, damit
ich nicht schreien würde und trug mich in einem Kohlesack gemeinsam mit
einem anderen Mädchen aus dem Ghetto. Den Krieg überlebte ich dann in einem
Versteck auf dem Land außerhalb von Kaunus und in einem Kinderheim.
Später, nach dem Krieg, wurde ich adoptiert und zog nach Russland. Mein
Adoptivvater sagte immer zu mir: Wenn Hitler nicht geschafft hat, dich
umzubringen, kann niemand es schaffen. Wir Juden geben niemals auf, wir
gehen immer vorwärts. Das ist der Grund, warum unser Volk seit fast 6.000
Jahren lebt, obwohl wir immer wieder verfolgt und getötet wurden. Natürlich
hat Israel, wie jedes andere Land, viele politische Probleme.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurde – zu Recht – in der
Vergangenheit immer wieder kritisiert. Für mich ist jetzt trotzdem klar:
Ich stehe an der Seite Israels.
Eleonora Volskaya, 82 Jahre, Rentnerin aus Darmstadt
„Was seit dem 7. Oktober passiert ist, erlebe ich als gesellschaftlichen
Rückschritt“
Am 24. Februar 2022, dem russischen Überfall auf die Ukraine, dachte ich:
Es kann nichts Schlimmeres mehr passieren. Ich bin in der Ukraine geboren,
habe dort noch Familie. Was mir damals geholfen hat, war die große
Solidaritätsdemonstration wenige Tage nach dem Angriff in Berlin.
Hunderttausende haben damals gezeigt, dass sie an der Seite der Ukraine
stehen.
Der [2][Krieg in der Ukraine geht weiter]. Ich habe das Gefühl, viele
Menschen in Deutschland vergessen das manchmal. Ich fürchte, dass die
Unterstützung dadurch nachlassen wird. Und nun kommt noch hinzu, dass ich
nicht verarbeiten konnte, was am 7. Oktober in Israel passiert ist.
Ich habe am Tag des Hamas-Massakers meine Familie besucht. Erst am Abend
hatte ich Zeit, auf mein Handy zu schauen. Ich war in Schock und sah direkt
Instagram-Posts von Menschen, die ich persönlich kenne, die diese Taten
rechtfertigten. Diese Menschen wissen, dass ich Jüdin bin. Niemand von
diesen Leuten hat angeprangert, wie schrecklich ist, was in Israel
passiert. Stattdessen las ich Relativierungen und Sätze wie: Ihr seid doch
selber daran schuld. Das ist klassische Täter-Opfer-Umkehr. Wie nennt man
so etwas? Verrohung?
Mittlerweile ist ein Grad an Hoffnungslosigkeit erreicht, der schwer in
Worte zu fassen ist. Die Angst überwiegt. Mein Vertrauen wurde mir geraubt.
Es fehlt der Rückhalt aus einem progressiven Milieu, von Menschen, die sich
sonst gegen jedes Unrecht positionieren. Wiederum andere, die sonst laut
sind, sagen nichts. Stille. Ich verstehe nicht, wie man bei dieser
Unmenschlichkeit, nach so einem Massaker, schweigen kann. Ich bin viel im
Kunst- und Kulturbereich unterwegs, gehe gerne zu Lesungen, Ausstellungen.
Ich habe jetzt Angst, dort hinzugehen. Weil ich keine Lust habe auf
Diskussionen, auf Vorwürfe.
Mein Partner, meine engsten Freunde und meine Familie sind an meiner Seite.
Das bestärkt mich. Eine Freundin schickte mir sogar eine Karte aus der
Schweiz und schrieb, dass sie mir Trost spende.
Als jüdische Häuser in Deutschland mit einem Davidstern markiert wurden,
hat mir mein Cousin aus der Ukraine ein Foto davon geschickt und gefragt:
Was passiert da bei euch? Gestern habe ich mit meiner Mutter telefoniert
und mit ihr über [3][den antisemitischen Mob in Dagestan] [eine muslimisch
geprägte Teilrepublik im Nordkaukasus, d. Red.] gesprochen, der den
Flughafen gestürmt und nach Juden in einem ankommenden Flug aus Tel Aviv
gesucht hat. Ich fragte meine Mutter: Das musst du doch aus der Sowjetunion
kennen? Sie sagte: Nein, nicht in dem Ausmaß.
Erst während meines Studiums habe ich angefangen, darüber zu sprechen, dass
ich Jüdin bin – und nicht nur Ukrainerin. Mir wurde beigebracht, das nicht
zu erzählen. Ich habe diese Angst eigentlich nie wirklich verstanden – bis
jetzt. Was seit dem 7. Oktober passiert ist, erlebe ich als
gesellschaftlichen Rückschritt. Ich werde jetzt mir zweimal überlegen, ob
ich Fremden gegenüber offen erzähle, dass ich Jüdin bin.
Anastassija Kononowa, 33 Jahre, kam in den 90er Jahren aus der Ukraine nach
Deutschland
1 Nov 2023
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## AUTOREN
Carolina Schwarz
Erica Zingher
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