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# taz.de -- Oneohtrix Point Never und Forest Swords: Gespenster, die nicht verg…
> Neue Alben von US-Produzent Oneohetrix Point Never und vom britischen
> Künstler Forest Swords schlittern ohne Nostalgie durchs Gestern.
Bild: Näher an die Sonne: Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never
Nichts geht mehr, alles ist nur noch Variation von Sounds und Stilen, die
es im Pop bereits gibt. Eine endlose Variation des Vergangenen dominiere,
hat der britische Autor Simon Reynolds bereits 2011 diagnostiziert und
diesen von ihm beklagten Zustand „Retromania“ genannt. Eine endlose
Wiederaufführung, über die Pop den exzessiven Drang nach Übermorgen hin zu
einer utopisch imaginierten Zukunft verloren hätte.
Zur Retromania-These passte damals eine Musik, die klang, als wäre sie aus
den Erinnerungen an vorangegangene Stile gemacht. Gespensterklänge,
zusammengesetzt aus verwaschenen Samples, verhallten Stimmen und manchmal
stolpernden Beats.
Daniel Lopatins Soloprojekt Oneohtrix Point Never ist einer der
produktivsten und ausdauerndsten Künstler jenes Genres. Seit Anfang der
Zehnerjahre, als diese Form von Ambient tatsächlich komplett neu wirkte,
firmiert sie unter dem Begriff Hauntology oder Hypnagogic Pop.
## Formvollendete Geistermusik
Auf seinen stilbildenden Alben „Returnal“ (2010) und „Replica“ (2011), …
den Blick zurück und die Repetition schon im Titel ankündigen, fließen
Ambient-Flächen, Störgeräusche-Loops und stark verfremdete Samples aus
Werbung und alten TV-Formaten zur formvollendeten Geistermusik ineinander.
Jetzt ist ein neues Album von Oneohtrix Point Never erschienen, mit dem
Titel „Again“.
Die Herkunft des einem Text von Jacques Derrida entlehnten Begriffs
Hauntology zeigt an, wie gut sich Lopatins Sound kulturtheoretisch aufladen
lässt: Geräusche, die aus dem Unbewussten des Pop kommen sollen, wie
Gespenster, die nicht vergehen wollen, und die klingen, als wären sie der
Soundtrack für Zwischenstadien.
Zum Beispiel für den somnambulen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein.
Lopatin hat am Diskurs über seine Musik gerne mitgestrickt. Der erste
Impuls dafür käme aus einer Art Verwirrung bezüglich der eigenen, sozusagen
falschen Erinnerung an Musik von Anderen, [1][hat er kürzlich dem
Online-Magazin The Line of Best Fit erzählt].
## Jenseits der Wiederholung
Die Musik auf „Again“ lässt sich auch als Ergebnis einer idiosynkratischen
Weise hören: Als Musik, die in ihn als Schöpfer eingegangen ist, die er
verarbeitet und zu etwas Neuem formt. Etwas, das den einfachen Blick zurück
und die Wiederholung tatsächlich überschreitet. Dabei lief
Oneohtrix-Point-Never-Sound immer wieder Gefahr, gimmickhaft zu klingen.
Gerade nachdem Künstler:innen wie ANOHI, Charli XCX, und The Weeknd mit
Daniel Lopatin zusammengearbeitet und die Verfremdung von irgendwie
trashigen Muzak-Sounds in latent erhabene Klanggebilde für sich genutzt
haben.
„Again“ ist nun das erste Album von Oneohtrix Point Never, dem nichts
Durchdachtes mehr anhaftet. [2][Bislang gab es stets ein konzeptuelles
Gerüst], das alles zusammenhielt. Mit „Garden of Delete“ hat Lopatin 2015
ein Metal-Album ohne Metal produziert. „Age of“ klang dann drei Jahre
später wie surreale Kammermusik, und zugleich war es das popaffinste
Oneohtrix-Point-Never-Album bis dato. „Again“ wiederum wirkt wie eine
einzige Jamsession. [3][Die Düsternis ist verschwunden, und in den besten
Momenten entsteht jetzt der Eindruck, dass hier einer angetörnt von Neuem
im Heimstudio ausprobiert, was er mit dem Gerätepark anstellen kann].
## Ideen in Songs stapeln
Dabei kommen dann immer wieder in Schieflage herumschlitternde Tracks raus,
„Nightmare Paint“ zum Beispiel, der freudig-kopflos zwischen Neoklassik,
Postrock und kaputten Breakbeats umherzappt. Wie überhaupt oft der
Höreindruck entsteht, dass auf „Again“ drei bis vier Tracks in einen
gestapelt worden sind. „Memories of Music“ etwa, der in der zweiten Hälfte
klingt, als hätte man eine betrunkene Progrock-Band im Keller
eingeschlossen und ihr die Gitarren weggenommen.
„On An Axis“ ist dann glasklarer Shoegaze-Pop, nur eben mit freidrehenden
Synthesizern. Am Ende ist „Again“ so zum verspieltestem
[4][Oneohtrix-Point-Never-Werk] bislang geworden. Eine wesentlich
direktere, sozusagen weniger intellektuelle Hauntology-Variante hat der
britische Musiker Matthew Edward Barnes unter seinem Künstlernamen Forest
Swords in die Welt gesetzt.
Vokoder-Geister-Stimme, schwergängige Beats, melancholische
Postrock-Gitarren: Auch auf dem neuen Album „Bolted“ ist so etwas wie eine
melodramatische, gar nicht abstrakte Hypnagogic-Pop-Variante entstanden.
Zum Beispiel die Single, „Butterfly Effect“, die um [5][ein vorsichtig
zerhacktes Neneh-Cherry-Sample] gebaut ist. Was beim ersten Hören klingt
wie eine Variante oder auch ein Rip-off der Musik von Burial, ist dann doch
noch mal etwas anderes, eigenes.
Eine Erinnerungsmusik, die an die große britische Elektronik-Tradition
anschließt, sie aber nicht ehrfürchtig wiederholt, sondern als etwas
Vergangenes melancholisch wieder aufscheinen lässt. Und die trotzdem
tatsächlich tanzbar ist; manchmal zumindest, und wenn auch sehr langsam.
Die Musik von Forest Swords vertraut weiterhin auf die [6][Unmittelbarkeit
von Pop und Breitwandsounds]. Das gerät dann manchmal, etwa im Track
„Caged“, mit verfremdeten Chorsounds ins Kinematografische und rückt
bedenklich nahe an Kitsch.
## Lücke im Mikrogenre
Aber egal, Barnes hat eine Lücke im Mikrogenre gefunden, in der sich
Soundtrack-Ästhetik, Dancefloor und melancholische Geister miteinander
verbinden. Irgendwie geht es also doch weiter. Vielleicht hat Reynolds mit
„Retromania“ auch nur eine temporäre Stillstandsphase diagnostiziert und
zur Universaltheorie aufgeblasen, die seither oft von
Musikkritiker:innen hergenommen wird, wenn ihnen nichts einfällt.
Wenn auch musikalisch eine Revolution wie Punk oder Hip-Hop so heute nicht
mehr denkbar ist, verschiebt und verändert sich doch laufend einiges:
Produktionsbedingungen, auf Gender-Zuschreibungen basierende
Machtverhältnisse, die Rolle der Popkritik selbst. Der auch in
„Retromania“präsente Kulturpessimismus wirkt da latent boomerhaft. Und
Reynolds’ These lässt sich eben leider auch als rhetorisch brillante und
argumentativ sehr überzeugende Variation von „Früher war alles besser“
lesen.
Die Melancholie in der Musik von Forest Swords und Oneohtrix Point Never
ist aber auch ohne Verfallsdiagnose beschreibbar. Mark Fisher hat in seinem
Buch „Ghosts of My Life“ den Diskurs über das Mikrogenre ins Politische
gewendet: Hauntology würde von den unter kapitalistischen Bedingungen und
allgemeiner Entfremdung zwangsläufig uneingelösten Versprechen des Pop
erzählen.
So verstanden, sind die Alben von Forest Swords und Oneohtrix Point Never
Beiträge in der Weiterentwicklung von elektronischer Musik: Sie schildern
neue Kapitel, die sich auf Vergangenes beziehen, aber, eben weil sie dieses
Vergangene kenntlich machen, nie alt klingen. Und doch so, als sei ihre
Musik im Wissen entstanden, dass in der nicht mehr rekonstruierbaren
Erinnerung zwangsläufig etwas verloren gegangen ist.
17 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.thelineofbestfit.com/features/interviews/oneohtrix-point-may-yo…
[2] /Neues-Album-von-Oneohtrix-Point-Never/!5726223
[3] /Updates-elektronischer-Musik/!5057861
[4] /Neues-Album-von-Oneohtrix-Point-Never/!5107893
[5] /Neneh-Cherrys-Raw-Like-Sushi/!5656425
[6] /Werkschau-der-britischen-Band-Broadcast/!5842909
## AUTOREN
Benjamin Moldenhauer
## TAGS
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Dubstep
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