# taz.de -- Musikessays von Simon Reynolds: Die Zukunft ist gecancelt | |
> Reynolds untersucht im Buch „Futuromania“ die Zukunftsträume | |
> elektronischer Musik. Oder besser: was von ihnen übrig ist. Die | |
> Aussichten sind trüb. | |
Bild: Donna Summer fühlt die Liebe | |
Zukunftsmusik. Eigentlich eine Idee von Richard Wagner. Es reicht nicht | |
aus, so der durchaus umstrittene Bayreuther Komponist, wenn Musik nur | |
zeitgenössisch klingt. Vielmehr solle sie sich selbst und ihrer Zeit voraus | |
sein. Die Aufgabe eines Komponisten bestehe daher darin, aus der Zukunft | |
jene ästhetischen Formen abzuschöpfen, die in der Gegenwart im Keim bereits | |
vorhanden sind, aber noch nicht hörbar gemacht wurden. Und wie das geht, | |
führte Wagner vor in Form seiner wuchtigen Opern. | |
Das war um 1870. Hundert Jahre später stand die Zukunftsmusik wieder auf | |
dem Programm, diesmal bei der Popmusik. Zwischenzeitlich war eine | |
Wundermaschine erfunden worden, ein rechteckiger Kasten, mit dem man | |
unerhörte Klänge wie aus der Zukunft bereits im Hier und Jetzt erzeugen | |
konnte: der Synthesizer. | |
Erst experimentierten E-Musik Komponist:Innen wie Karlheinz Stockhausen | |
und Konsorten damit, doch bald schon bemächtigte sich die Popmusik der | |
Maschinen, um – unterstützt von allerlei Drogen – in kosmische Weiten | |
abzutauchen oder um klinisch-futuristische Klangwelten zu kreieren, die in | |
jeder Hinsicht den Gitarrenrock zu einer Sache der Vergangenheit machten. | |
Berühmtes Beispiel ist Donna Summers Megahit „I Feel Love“ von 1976, der | |
genau so ein Stück zeitlose Zukunftsmusik war. | |
Der in Los Angeles lebende britische Musikautor Simon Reynolds widmet | |
diesem Klassiker, der von Giorgio Moroder produziert wurde, gleich das | |
erste Kapitel seines neuen Buches „Futuromania“. | |
## Posthumanes Gefühl der Bewegung | |
Aus [1][Pop, Soul, Funk und Disco, so Reynolds, hatte der Südtiroler | |
Klangzauberer im Münchner Aufnahmestudio „Musicland“] für die | |
afroamerikanische Sängerin einen „so tanzbaren wie brutalen Futurismus | |
geschaffen: technisierte Wiederholungen, eisige, sequenzierte Elektronik, | |
ein mit leeren Augen fixiertes posthumanes Gefühl der Bewegung.“ Oder | |
kurzgesagt: ein „Echtzeit-Zukunftsschock“. | |
Mit „Futuromania“ liefert der 60-jährige Reynolds [2][das Gegenstück] zu | |
seinem Erfolgsbuch „Retromania“ (2011). Diesmal seziert der Brite nicht den | |
aus ihrer Rückwärtsgewandtheit resultierenden Stillstand von Popmusik, | |
sondern geht, so der Untertitel, „Elektronischen Träumen von der Zukunft“ | |
nach. In Tat und Wahrheit sammelt „Futuromania“ verstreute, meist in | |
digitalen Musikmagazinen erschienene Texte von Reynolds, die nun erstmals | |
gebündelt und auf Deutsch vorliegen und in ihrer Bündelung einen eigenen | |
Sinnzusammenhang ergeben. | |
Musik vermag so zu klingen, als ob sie aus der Zukunft kommt, wenn sie die | |
„metronomische Unerbittlichkeit“ von „I Feel Love“ besitzt, führt Reyn… | |
aus. Weil man glaubt, der so präzise wie unnachgiebige Rhythmus treibe | |
einen rauschhaft immer weiter vorwärts, quasi ein unverhoffter „Sprung in | |
die Zukunft.“ | |
## Jenseits des Menschenmöglichen | |
Eine andere Form von Zukunftsmusik macht Reynolds bei den | |
Breakbeat-Techniken im brischen Dancefloor-Subgenre Jungle aus, wo es einen | |
„zeitversetzten Zusammenstoß des Analogen mit dem Digitalen gibt“. Das vom | |
Vinyl stammende Sample eines Schlagzeugers wird im Studio mit simplen | |
Software-Tricks (genannt „Timestretching“) so stark bearbeitet, dass die | |
Musik „zu etwas mutiert, das weit über die menschliche Spielfähigkeit | |
hinausgeht. Es wird übermenschlich.“ | |
Es sind dergleichen posthumane Manöver, in denen der Mensch zur Maschine | |
wird – wir spüren, wie die Zukunft sich anfühlt und was sie aus uns machen | |
wird. | |
Das wird besonders virulent im Klang der Stimme, gehört diese doch wie das | |
Gesicht zur Signatur jedes Individuums. Verantwortlich für den Siegeszug | |
synthetischen Gesangs in der Popmusik war der 2020 verstorbene Florian | |
Schneider von Kraftwerk, dem Reynolds einen einfühlsamen Nachruf widmet. | |
Doch Vocoder oder sonstige Verfremdungs-Gadgets haben schon lange | |
ausgedient. Heute herrscht allenthalben Autotune: „ein vertrauter Fremder, | |
aus einer unheimlichen Welt zwischen organisch und synthetisch. | |
## Stimmen zu Datenströmen | |
Eine Stimme, die einem menschlichen Körper entstammt und zu purem | |
Datenstrom verarbeitet wird.“ Der fast 30-seitige Essay über Autotune, | |
ursprünglich für das US-Online-Musikmagazin Pitchfork verfasst, in dem | |
Reynolds überaus kenntnisreich die Prägung der nahezu gesamten | |
Poplandschaft des 21. Jahrhunderts durch die digitale Tonhöhenkorrektur | |
analysiert, ist einer der Höhepunkte von „Futuromania“. | |
Bestechendes zu sagen hat der gebürtige Londoner auch zur [3][konzeptuellen | |
Electronica von Oneohtrix Point Never] und anderen, deren „Experimente mit | |
Maschinenmusik die Stimme zu einem Schauplatz machen, an dem sich die | |
Klänge der Zukunft zeigen.“ Vom Menschen, wie wir ihn kennen, dürfte dann | |
nicht unbedingt viel übrig sein: Die in die Länge gezogenen oder | |
abgeknickten Vocals verweisen auf eine buchstäblich zermahlende Zukunft, in | |
der „der Mensch in Einzelteile zerlegt wird.“ | |
Einem Gemeinplatz zufolge sind die Kinder unsere Zukunft. Gegen Ende von | |
„Futuromania“ kommt [4][Reynolds auf seinen Teenager-Sohn] zu sprechen. | |
Dieser besitze „keine besondere Begeisterung für die Zukunft und kaum einen | |
Sinn dafür, dass sie besser sein oder sich stark von der Gegenwart | |
unterscheiden könnte“. Kein Wunder, ist die Zukunft doch – wie Reynolds’ | |
britischer Kollege Mark Fisher feststellte – längst abgesagt. | |
Cancelled. Was kommt, wird schlechter sein als unsere Gegenwart, | |
bestenfalls gleich mies. Die Utopie hat abgedankt. Auch in der Popmusik. | |
Daher „der allmählich stärker werdende, schreckliche Verdacht, dass die | |
Popmusik von 2050 der heutigen ziemlich ähneln wird“. Trübe Aussichten also | |
für Zukunftsmusik. Ihre elektronischen Träume verwandeln sich mehr und mehr | |
in einen Albtraum. | |
10 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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