# taz.de -- Buch über Glamrock: Er hat ihr Haarspray aufgebraucht | |
> Simon Reynolds hat über die Kulturgeschichte des Glamrock geschrieben. | |
> Das Buch zeigt: Die Musikrichtung steht für mehr als einen crazy Look. | |
Bild: „Ich bin ein Rowdy“, Musikerin Suzi Quatro | |
Bryan Ferry hatte noch mal Glück gehabt. Die Nachricht, dass er ein | |
Konterrevolutionär sei, erreichte den Sänger der britischen Band Roxy Music | |
vermutlich an einer Hotelbar in Manchester im Herbst 1974. Es hatte auch | |
nicht frühmorgens an seiner Haustür geklingelt, obwohl Ferrys Name auf | |
einer Liste stand. | |
Erstellt wurde sie von dem angehenden Punk-Impresario und Kunststudenten | |
Malcolm McLaren, der Modedesignerin Vivienne Westwood und Bernie Rhodes, | |
einem Schneider, der etwas später zum Manager der Punkband The Clash werden | |
sollte. Ihre Liste erweiterten die drei zum T-Shirt-Aufdruck mit dem | |
Slogan: „Eines Tages wirst du aufwachen und wissen, auf welcher Seite du | |
gelegen hast.“ Auf dem T-Shirt rechts prangte eine umfangreiche Sammlung | |
von „Bösewichten“, darunter neben Ferry auch Andy Warhol und Rod Stewart. | |
Ihnen hatte das Trio pauschal Ausverkauf vorgeworfen. Links standen | |
„loves“, eine kürzere Reihe ihrer HeldInnen: darunter die Feministin | |
Valerie Solanas, der Jazzsaxofonist John Coltrane und die damals noch | |
unbekannte Band „Kutie Jones and his Sex Pistols“. | |
Davon, dass Ferry es seinen Anklägern recht leicht gemacht hat, erzählt | |
Simon Reynolds in einem der 14 Kapitel seines gerade in deutscher | |
Übersetzung von Jan-Niklas Jäger erschienenen Grundlagenwerks „Glam. | |
Glitter Rock und Art Pop von den Siebzigern bis ins 21. Jahrhundert“. Ein | |
langer, durchaus angebrachter Titel für eine 640-seitige Schwarte, die das | |
Zeug hat, zum wichtigsten Popbuch der Saison zu werden. „Wieder ein | |
Ziegelstein“, gesteht Reynolds kokett. Aber es gibt eben auch viel über | |
Glam zu erzählen, viel mehr, als gewöhnlich mit dem Thema assoziiert wird. | |
PophörerInnen werden beim Stichwort Glam zuerst an Songs wie „Children of | |
the Revolution“ oder „Ziggy Stardust“ von Superstars wie T. Rex und | |
[1][David Bowie] denken. Auch Bryan Ferry und seine Band Roxy Music machten | |
Glam. Sie alle sind bis heute wegen ihrer farbensprühenden Fotos in | |
Erinnerung, auf denen die Künstler ihre flamboyante Erscheinung und | |
glamouröse Bühneninszenierung zur Schau stellten – sie verstießen mit ihren | |
überbordenden und barocken Anleihen gegen herrschende Schönheitsideale der | |
siebziger Jahre. | |
## In Eleganz verwandelte Enttäuschung | |
Musikalisch gesehen war Glam viel weniger virtuos und weit theatralischer | |
als alles, was zuvor unter Rockmusik subsumiert wurde. Die Maskerade wurde | |
entscheidend, zum ersten Mal in der Geschichte des Pop ahmten die Fans die | |
Kostümierungen ihrer Idole nach: Über Slade-Leadsänger Noddy Holder | |
schreibt Simon Reynolds etwa, dieser habe gewirkt „wie ein typischer | |
Engländer aus dem 19. Jahrhundert … ein wohlhabender Bauer aus einem | |
Thomas-Hardy-Roman vielleicht, der sich für eine wilde Partynacht in | |
Dorchester wie ein Dandy gestylt hat“. | |
Damit ist ein weiterer zentraler Begriff von Glamrock gefallen. Der Dandy | |
ist auch – und oftmals gerade – in Eleganz verwandelte Enttäuschung. Und | |
bei Reynolds ist das „wie“ vor „Dandy“ nicht ganz unwichtig. Glamrocker… | |
Holder und Brian Ferry griffen nach den Insignien der englischen | |
Oberschicht und verwandelten sie in Pop. Bei Holder lässt sich von einer | |
dreisten und beherzten Anverwandlung sprechen; bei Ferry, selbst ein Kind | |
der Arbeiterklasse, wurde daraus schon Identifikation mit dem, was die | |
Gegenkultur der Sechziger noch ablehnte. Da liegt der Vorwurf an Ferry | |
begründet. Wobei Glam einerseits die Sechziger ablöste und ihren | |
weltverändernden Impetus verwarf beziehungsweise als gescheitert ansehen | |
musste, andererseits aus ihnen hervorging und sich aus noch früheren | |
Jahrzehnten speiste. | |
Zu Glam gehört, erst nachgeordnet über den knalligen rockistischen Sound zu | |
sprechen. Er hatte in der Struktur mit den Exerzitien von Progrockern und | |
Späthippies wenig gemein. Seine Technik war durchaus modern, doch nicht | |
modernistisch, wie Reynolds luzide ausführt: „Glam und Glitter führten | |
zurück zu den simpleren musikalischen Strukturen von Rock ’n’ Roll in den | |
1950ern und der 1960er-Beatgruppen vor dem Aufkommen von Psychedelic-Rock, | |
die aber durch die Aufnahmetechnik der späten 1960er und frühen 1970er auf | |
den neuesten Stand gebracht worden waren.“ | |
## Glam war deutlich jungslastig | |
Glam-Sound zeigt sich exemplarisch im Song „Suffragette City“ von David | |
Bowie, in mitreißenden 3 Minuten und 27 Sekunden und exakt eingesetzten | |
Zutaten: Einem energischen Gitarrenintro, stoischer Schlagzeug-Straightness | |
und klassischem Call-and-Response-Gesang in den Strophen: „Hey man“ und | |
„Wham bam thank you ma’am“ singt Bowie absichtsvoll expressiv. | |
Glam war, auch das muss gesagt werden, deutlich jungslastig. Allerdings | |
trugen die Jungs gerne Fummel und Make-up, entsprachen keinesfalls dem | |
Mainstream ihrer Zeit. Wer buchstäblich dazwischenfuhr, war die US-Sängerin | |
und Bassistin Suzi Quatro, von der Reynolds treffend schreibt, sie habe | |
„Anti-Glam-Glamour“ verkörpert. Wo ihre männlichen Kollegen sich in | |
Federboas warfen und Lippenstift auftrugen, griff Quatro zum nüchternen | |
Rocker-Outfit, das sie eher als Anführerin einer Motorradgang erscheinen | |
ließ. Ein Vergleich, der ihr wahrscheinlich gefallen würde: Quatro, aus der | |
Industriestadt Detroit stammend, sprach von sich als „so was wie ein Rowdy“ | |
und trug Lederanzug, -halsband und -armbänder. | |
Quatros zweite Single, „Can the Can“, erschien im Juni 1973 nach einer | |
England-Tour im Vorprogramm von Slade und Thin Lizzy. Der Song verdient | |
eine nähere Betrachtung. Komponiert haben ihn die Hitlieferanten Mike | |
Chapman und Nicky Chinn, verantwortlich auch für „The Ballroom Blitz“ von | |
The Sweet. „Can the Can“ ist so eingängig wie eigenartig. Musikalisch hat | |
er etwas von einem überdrehten Bo Diddley, nur ohne dessen Swing. | |
„Can the Can“ prescht ohne viel Federlesen nach vorne. Interessant wird es | |
beim Text, den eben zwei Männer einer Frau schrieben: „Make a stand for | |
your man, honey, try to can the can/ Put your man in the can, honey, get | |
him while you can/ Can the can, can the can, if you can, well can the can.“ | |
Nach Nicky Chinn meint „can the can“ etwas schlichtweg Unmögliches, wie | |
büchst man eine Büchse? Dabei könnte „put your man in the can“ genauso g… | |
einer Fantasie Chapmans und Chinns entsprungen sein. | |
## So viel Identität muss sein | |
Dass Quatros Eigenkomposition, der Midtempo-Piano-Stomper „Ain’t Ya | |
Somethin’ Honey“, auf die B-Seite der Single verbannt wurde, spricht für | |
sich. In ihm nämlich zeigt sich die Erzählerin, von der angenommen werden | |
kann, dass es sich bei ihr um Quatro selbst handelt, gründlich genervt. | |
Genervt von einem Liebhaber, der was fürs Auge ist, aber das war’s dann | |
auch. Er hat ihr Haarspray aufgebraucht und darf neues besorgen. Bei der | |
Gelegenheit wäre noch eine Flasche Wein nicht schlecht. Ach so, er hat ja | |
kein Geld. Sie begleicht seine Rechnungen und versucht, ihm einen Schuss | |
Selbstbewusstsein zu verpassen: „You’re looking prettier than me/ What the | |
hell you tryin’ to be“?, fragt sie. Und: „On your way out baby, don’t | |
forget to shut the door.“ Ob der Schöne noch mal zurückkommen darf? | |
So direkt und unverblümt ist dann wenige Jahre später eher Punk | |
aufgetreten. Die Popgeschichte lebt von ihren Brüchen, doch finden sich | |
unzählige Spuren und Querverweise, wie Reynolds in seinem in die Gegenwart | |
führenden Schlusskapitel schreibt, wo er die Spuren von Glamrock bei Stars | |
wie Lady Gaga und Marilyn Manson untersucht. Und dann ist da noch Amanda | |
Palmer, Sängerin und Pianistin des brechtianischen Punkduos Dresden Dolls. | |
2005 coverten die Dresden Dolls Black Sabbaths „War Pigs“, einen wichtigen | |
Antikriegssong von 1972. | |
Bryan Ferry, niemand muss jetzt seine Alben verscheuern, sollte sich zwei | |
Jahre später in einem Interview für Leni Riefenstahls Filme begeistern. | |
Auch das Spielen mit der Überschreitung gehört zu Glam, wie man bei | |
Reynolds nachlesen kann. Und was die 34-jährige US-Rapperin Nicki Minaj an | |
Glam interessant findet, einem Stil, der älter ist als sie. Minaj, mit | |
Wurzeln in Trinidad und Tobago, nennt als Künstlerin über ein Dutzend Egos | |
ihr eigen. „Sie sagt, sie ist einfach sie selbst. Aber wer sie ist, ändert | |
sich jeden Tag.“ So viel Identität muss sein. | |
4 Dec 2017 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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