# taz.de -- Die Wahrheit: Die Krawallbraut | |
> Tagebuch einer Gleichmütigen: Nach langem Leben fern rheinischer Heimat | |
> lässt sich Berlin aushalten unter dem alten Motto: „Jede Jeck is anders“. | |
Bild: Drei Frauen im Nachwendeberlin: „Nie wieder schlafen“ (1992) von Pia … | |
Neulich in Charlottenburg. „Sie haben wohl keine Ahnung, wie man sich im | |
Verkehr verhält!“, keift eine kleine Frau fortgeschrittenen Alters, | |
bewaffnet mit einem Beutel, auf dem ein Piratenkopf und die Worte „Sea | |
Shepherd“ gedruckt sind, einen gutmütig wirkenden Best Ager an. „Ja, lassen | |
Sie einfach alles mal raus“, ermuntert er sie. „Sie kommen doch vom Dorf, | |
so wie Sie hier rumlaufen“, zickt sie zurück. „Jedenfalls nicht aus | |
Berlin!“ | |
Der nichtberlinische Dorfbewohner wird von der eiligen Beutelfrau forsch | |
überholt, jetzt bin nur noch ich übrig. An einer Fußgängerampel bietet sich | |
der Dame endlich die Gelegenheit, auch auf mich loszugehen, in meinem | |
Rücken aggressives, unverständliches Gezeter. „Geht es Ihnen nicht gut?“, | |
frage ich die schnappatmende Piratenschäferin der Meere; nicht dass ihr auf | |
dem trockenen Stadtpflaster noch die Luft ausgeht. | |
Zwar habe ich kein sonderlich friedliches Temperament, bin aber auch nicht | |
aus Berlin, was meinen dörflichen Gleichmut erklärt. In mir überdauert | |
selbst nach jahrzehntelangem Leben fern von meiner rheinischen Heimat | |
hartnäckig der Grundsatz „Jede Jeck is anders“. | |
Ich hänge die Krawallschachtel auf der Höhe des früheren Amtsgerichts an | |
der Kantstraße ab. In dessen rückwärtigem Teil befindet sich ein ehemaliges | |
Frauengefängnis, in dem während der Nazizeit Widerstandskämpferinnen | |
eingesperrt waren; seit einiger Zeit beherbergt das Gebäude ein Hotel und | |
ein angesagtes Restaurant. In Zeitungsartikeln wurde der „behutsame“ Umbau | |
gelobt. | |
## Furchtbar behütet in der Gefängniszelle | |
Warum und wie man sich in einer ehemaligen Gefängniszelle behütet fühlen | |
soll, erfahre ich beim Studium der Website. „Entdecken Sie einen Ort, der | |
entspannter nicht sein könnte.“ Auch bei der Unterkunftauswahl ist für | |
jeden was dabei: „Cosy, klein, aber fein – dieses kompakte Zimmer bietet | |
alles, was Sie für einen gemütlichen Aufenthalt benötigen.“ | |
In der Kamin-Lounge findet der Gast schließlich „so viel Privatheit und | |
Stil – ein bisschen wie zuhause“. Ein wenig beklemmend nur, dass viele, die | |
hier „zu Hause“ waren, ihr eigenes Zuhause nie wiedergesehen haben. Was | |
daran „gemütlich“ sein soll, in einem Raum zu schlafen, in dem Menschen | |
jahrelang verrotteten oder auf ihre Hinrichtung warteten, erschließt sich | |
mir nicht so recht, aber wahrscheinlich bin ich einfach zu empfindlich. | |
Dagegen hilft körperliche Betätigung. Was früher der Hofgang war, ist jetzt | |
auf den neuesten Stand gebracht. „Starten Sie Ihren Tag in unserem Gym mit | |
einer kleinen Auswahl an hochwertigen Fitnessgeräten.“ Oder ab ins | |
Erfrischungsbecken und „… nehmen Sie im Winter ein Eisbad nach der Sauna | |
(aus ökologischen Gründen nicht beheizt)“. Ist das Eisbad unbeheizt? Oder | |
die Sauna kalt? Egal, vorbildlich! | |
Plötzlich sehne ich mich nach der Krawallbraut. Soll sie hier bitte den | |
ganzen Tag gegen behutsamen Knasttourismus krakeelen. Anregung könnte ich | |
liefern, aber ihr fällt bestimmt auch ohne mich was ein. | |
26 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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