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# taz.de -- Die Wahrheit: Ommas Ding
> Tagebuch einer Heimkehrerin: Zurück zu den wahren Kulturstätten im Köln
> der Kindheit – wie einem scheppernden Schacht in die Vergangenheit.
Bild: Drei Frauen im Nachwendeberlin: „Nie wieder schlafen“ (1992) von Pia …
Älterwerden ist ja bekanntlich nichts für Feiglinge, weshalb manche von uns
es mit allen möglich Tricks zu vermeiden suchen. Meiner ist der Enkeltrick.
Aber der Reihe nach.
Vor ein paar Wochen wollte es der Zufall, dass ich nach ewiger Zeit zwei
Tage allein in meiner Heimatstadt Köln verbrachte. Zurückgebeamt in die
Kindheit, suchte ich nach der Ankunft am Hauptbahnhof reflexhaft nach dem
„Riefkoche“-Büdchen auf dem Vorplatz, aber nicht mal das kleinste bisschen
Reibekuchen-Röstaroma wehte durch die herbstlich feuchte Luft.
Enttäuscht und hungrig stand ich wie eine verlorengegangene Sechsjährige
auf der Domplatte, es fehlte nur noch eine Durchsage: „Dat kleine Pia hat
sisch verlaufen und möschte bitte am Domeinjang abjeholt werden.“ Na gut,
also ab ins Museum.
Während mein Erwachsenenkörper sich vorbei an Tauben, Trinkern und
Touristen aufmachte, durchwanderte mein kindlicher Geist verträumt
Stationen der Vergangenheit wie Karneval mit Kamelle, bis er schließlich am
Müllschlucker im Etagenflur meiner Großmutter hängenblieb. Nix Museum, das
war die Kulturstätte, die ich aufsuchen musste!
Das Ding hat mich in meinen Kindertagen fasziniert. Meine Omma trug den
Müll in einer Tüte aus der Wohnung, öffnete im Treppenflur gegenüber vom
Fahrstuhl eine Klappe, hinter der eine Art Rohrpost bis in den Keller
führte, und ließ die Mülltüte reinfallen. Irgendwo ganz unten vereinigte
sich dann der Abfall aller Etagen.
Bevor ich meine Großmutter besuchte, hortete ich in meiner Tasche tagelang
Zeug, um es mit großer Geste bei ihr wegzuschmeißen. Sie versuchte, das
Schlimmste zu verhindern, wenn ich mich nach der Entsorgung meiner
mitgebrachten Sammlung aus leeren Zahnpastatuben, kaputtem Kleinspielzeug
und zerfledderten Comicheften über ihren Wohnungsinhalt hermachte. Mehrmals
rettete sie schimpfend und in letzter Sekunde noch den kostbaren Sportteil
ihrer Tageszeitung; ich entsorgte dafür heimlich Cremedosen und fast leere
Nagellackfläschchen, das schepperte schön. Mit Begeisterung feuerte ich
alles in die Unterwelt, was nicht an die Wand genagelt war.
Nun also endete meine Wallfahrt Jahrzehnte später im Nieselregen vor einem
Nachkriegsmiethaus; ich drückte wahllos eine Klingel und sagte mein
Enkeltricksprüchlein in die Sprechanlage: „Schönen guten Tag, meine Omma
hat mal hier gewohnt, würden Sie mich reinlassen? Ich möchte mir noch mal
den Müllschlucker angucken.“
Man sollte meinen, nach so einem Satz gesundem Misstrauen zu begegnen, aber
auf meine Heimat war Verlass. „Ach, dat is doch schön. Ja, da kommse ma
rein“, freute sich eine Dame, der Stimme nach in einem ähnlichen Enkelalter
wie ich.
Kann schon sein, dass wir Kölner alle ein bisschen bekloppt sind, aber
dafür sind wir freundlich. Mein Müllschlucker war übrigens stillgelegt,
doch der Fahrstuhl mit dem tollen Bullaugenfenster fuhr noch immer.
23 Nov 2023
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
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