| # taz.de -- Großbritannien und Nordirland: Der deprimierende Ort im Königreich | |
| > Seit 102 Jahren hat Großbritannien Probleme mit Nordirland. Doch darüber | |
| > schweigt man öffentlich lieber – wie nach einer Explosion in London 2004. | |
| Bild: Am Rande eines Protests gegen das Karfreitagsabkommens im April in London… | |
| Im Jahr 2004 ereignete sich in einer der besten Wohngegenden Londons eine | |
| große Explosion. Niemand wurde verletzt, aber die Nachbarschaft befand sich | |
| in Aufruhr. Ziel des Anschlags war mit großer Wahrscheinlichkeit ein | |
| prominenter Politiker, der bei den Friedensverhandlungen in Nordirland eine | |
| Rolle gespielt hatte. Am nächsten Tag erschien kein Wort zu dem Vorfall in | |
| der Presse. | |
| Die Regierung hatte eine Defence and Security Media Advisory Notice (DSMA) | |
| an die Medien verhängt, eine „Empfehlung“, aus Gründen der nationalen | |
| Sicherheit nicht darüber zu berichten. DSMAs sind eine britische | |
| Besonderheit. Es ist nicht bekannt, wie häufig sie angeordnet und wie oft | |
| sie von der Presse befolgt werden. | |
| In der Vergangenheit hat es immer wieder Skandale gegeben, wenn ihr | |
| Missbrauch bekannt wurde: [1][im Wikileaksfall] oder als 2008 versucht | |
| wurde, Inkompetenz zu vertuschen (ein hoher Beamter hatte damals einen | |
| Laptop mit geheimen Informationen im Zug liegen lassen). | |
| Bei der Wohnungsexplosion 2004 gab es allerdings einen besseren Grund für | |
| die DSMA: Premier Tony Blair hatte sechs Jahre zuvor das | |
| Karfreitagsabkommen für Nordirland ausgehandelt. Mitglieder der New IRA | |
| verspürten jedoch keine Lust, in Rente zu gehen, sie buhlten um | |
| Aufmerksamkeit. Das Bekanntwerden einer Explosion mitten in London hätte | |
| ihre Wünsche erfüllt und einen Rückschlag für den Friedensprozess bedeutet. | |
| Aus diesem Grund wurde entschieden, dass die Explosion einfach nicht | |
| stattgefunden hatte. | |
| ## Dokus über Troubles in den 1970ern | |
| Seit 102 Jahren ist Nordirland ein brodelndes Problem. Wenn man einen | |
| Durchschnittsbriten fragt, welche Gefühle er für Nordirland hegt, würde er | |
| erst einmal erklären, dass er noch nie dort gewesen ist („deprimierender | |
| Ort“) und dass man mittlerweile genug habe von Dokus über die Troubles der | |
| 1970er Jahre. Es interessiert wenige, dass Nordirland seit Februar 2022 | |
| keine Regierung hat. Die 1,8 Millionen Einwohner werden sowieso von London | |
| aus regiert, wo ein ganzes Ministerium für sie zuständig ist. | |
| All das kostet ein Vermögen, aber eine Vereinigung Irlands mit Nordirland | |
| will trotzdem keine britische Partei: Für die Tories wäre das ein | |
| Zugeständnisse an Irland und damit an die EU. Und die Labour-Partei | |
| befürchtet, wenn Nordirland geht, würden Wales und Schottland folgen | |
| wollen. Gerade in Schottland hat Labour sich diesen Monat einen kleinen | |
| Wahlerfolg gegen die schottischen Nationalisten erkämpft. Bei den | |
| Unterhauswahlen 2024 könnte das wichtig werden. | |
| Die Probleme in Nordirland werden daher lieber von allen verdrängt. Dabei | |
| marschieren die protestantischen Oranier unverdrossen und ihre katholischen | |
| Gegner schlafen nicht. 2019 wurde die [2][Journalistin Lyra McKee] von der | |
| Neuen IRA „aus Versehen“ erschossen. Der Kriminalbeamte, der ihren Fall | |
| untersuchte, wurde 2023 angeschossen. | |
| ## Datenleck 2023 bei der nordirischen Polizei | |
| Im August kam es dann zu einem massiven Datenleck bei der nordirischen | |
| Polizei – drei Stunden lang standen die Namen und Einheiten von 10.000 | |
| Polizistinnen plötzlich online. Einige von ihnen hatten ihren Bekannten – | |
| aus Sorge vor gesellschaftlicher Ächtung – verschwiegen, dass sie bei der | |
| Polizei arbeiteten. Journalist oder Polizist in Nordirland zu sein, ist | |
| traditionell eine gefährliche Berufswahl. | |
| Rein demografisch wäre es naheliegend, wenn man Nordirland und Irland nun | |
| endlich vereinigen würde: Es leben mittlerweile mehr Katholiken als | |
| Protestanten in Nordirland. Doch auch die Krone will auf keinen Fall | |
| Nordirland verlieren. König Charles III. teilt das ausgeprägte | |
| Besitzstandsdenken seiner Vorfahrin Queen Victoria. Sie hielt wenig von den | |
| Iren und wehrte sich im 19. Jahrhundert vehement gegen die Selbstverwaltung | |
| Irlands. Ihr Motto lautete bei Besitzungen aller Art immer: „Man gibt | |
| nichts her, was man hat.“ | |
| 19 Nov 2023 | |
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| [2] /Brief-der-ermordeten-Journalistin-McKee/!5592122 | |
| ## AUTOREN | |
| Karina Urbach | |
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