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# taz.de -- Die Wahrheit: Ich hasse nur ganz wenig
> Wenn das Mindset stimmt, verfällt auch der gutartigste Mensch dem Guilty
> Pleasure.
Wolfgang hat gesagt, er guckt heute „Shopping Queen“. Das wäre sein „Gui…
Pleasure“. Das heißt, es bereitet ihm Vergnügen, aber er fühlt sich
schuldig dabei. Warum? Wähnt er sich dem Pöbel, der „Shopping Queen“ ganz
ohne Schuldgefühle schaut, geistig überlegen? Was für ein Unfug! Es gibt
genug vernünftige Anlässe, sich schuldig zu fühlen. Wenn man unhöflich war.
Wenn man keine Zahnseide benutzt hat. Oder wenn man auf die
Vanessa-Mai-Nippel-Blitzer-Clickbait-Schlagzeile klickt.
Wolfgang hat jetzt auch ein Mindset. Ohne Mindset geht er gar nicht mehr
aus dem Haus. Mindset ist eine Art „Haltung“ für Leute, die keine haben.
Ich sagte Wolfgang, dass sein Guilty-Pleasure-Gerede nur bedeutet, dass er
normale Leute verachtet. Er antwortete ganz ruhig: „Danke für dein
Feedback.“ Das ist modernes Unternehmenskultur-Achtsamkeits-Deutsch und
heißt übersetzt: „Fick dich.“ Aber auf wertschätzende Art.
Wolfgang hat jetzt auch eine Work-Life-Balance. Das heißt, er hat
gelegentlich frei. Wolfgang hat jetzt auch Quality-Time. Das heißt, er hat
gelegentlich frei und macht dann Sachen, die ihm guttun. Was aber ist dann
der Rest der Zeit für Zeit? Lebenszeit minderer Güte? Oder schlicht das
gute alte „Wie geht’s?“ – „Muss ja“.
Früher war dieser Dialog für mich ein klarer Beweis für Frühvergreisung.
Heute weiß ich: Die Antwort ist wahr, weise und von vornehmstem
Understatement: „Muss ja“ fasst alles zusammen. Warum ausführlich Auskunft
geben? „Wie geht’s?“ – „Geht so: Ich habe Rücken und mein Chef hat h…
‚Danke für dein Feedback‘ zu mir gesagt.“ Interessiert niemanden.
Was mich an Männern meines Alters nervt: Sie versuchen mich stets
anzukumpeln, in dem sie über irgendetwas nörgeln. Ich bin aber ungeeignet
für diese Art der Kontaktaufnahme. Denn ich habe nichts gegen E-Scooter,
ich finde, Helene Fischer hat brauchbare Popsongs im Œuvre und ich halte
Broccoli für ein schmackhaftes Gemüse. Ich hasse nur ganz wenig: Aufkleber
direkt auf der Brotrinde, Dreiviertel-Jeans, Hans-Georg Maaßen, diese
Korsika-Ferry-Aufkleber auf Autos, Kniffel und das Wort „Finanzprodukte“.
Neulich stand ich mit meinem elektrischen Lieferwagen an der Ampel neben
einem sportlichen Cabrio. Darin saß ein Kerl mit Dreiviertel-Jeans, Typ
Finanzdienstleister mit Korsika-Ferry-Aufkleber auf dem Kofferraum und
spielte nervös mit dem Gaspedal. Eigentlich bin ich so nicht. Ich bin ein
besonnener und ruhiger Verkehrsteilnehmer. Aber jetzt stellte ich den
Eco-Modus ab und trat bei grün das Pedal durch. Der andere hatte keine
Chance gegen die 254 Newtonmeter meines fiskalisch als Zweisitzer ohne
Sportwagencharakter eingestuften Nissans. Erst bei 53 km/h ließ ich ihn
davonziehen und er wurde prompt geblitzt. Ich bin nicht stolz darauf.
Ehrlich gesagt fühle ich mich ein wenig guilty. Aber ein Pleasure war es
schon.
4 Oct 2023
## AUTOREN
Christian Gottschalk
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Autos
Psychologie
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