# taz.de -- Die Wahrheit: Auf Russenkoks im Heimkino | |
> Mit der ausgezeichneten Schauspielerin Sandra Hüller unterwegs auf dem | |
> roten Teppich der ausgefallensten Berlinale aller Zeiten. | |
Bild: Einmal selbst über die Auslegeware der Berlinale schreiten | |
Am Donnerstag dieser Woche war in unseren Breiten „Weiberfastnacht“. Meine | |
Frau stand mit einem lustigen Hütchen auf dem Kopf vor ihrem Laptop und | |
tanzte zu kölscher Musik. Mit den gleichen Leuten, mit denen sie im | |
Normalfall durch die Kneipen gezogen wäre, feierte sie [1][Karneval per | |
Zoom-Konferenz]. Büroparty im Homeoffice quasi. | |
Ohne Corona wäre ich jetzt bereits auf der [2][Berlinale. Internationale | |
Filmfestspiele in Berlin]. Wenn meine Frau im Arbeitszimmer eine Stimmung | |
wie in Heinsberg zaubern kann, dann kann ich auch im Wohnzimmer echtes | |
Berlinale-Feeling schaffen. Ich könnte eigentlich eine kleine | |
[3][Aki-Kaurismäki-Retrospektive vor] dem Fernsehgerät veranstalten. Um es | |
ein bisschen berlinaliger zu machen, würde ich bis zum nächsten Tag nicht | |
lüften und zusätzlich verbrauchte Atemluft aus Luftballons im Raum | |
verteilen. | |
Vor der Filmvorführung musste ich nur eine längere Zeit auf dem Balkon | |
verbringen und dann leicht durchgefroren von dieser typischen Berliner | |
Kälte mit beschlagener Brille das Foyer, also unseren Flur, betreten. | |
Drinnen dann Mütze und Handschuhe in die Jacke stecken und die Jacke | |
irgendwie im Sessel platt sitzen. Bloß nicht die immer überlaufene | |
Garderobe benutzen, damit ich nach dem Film ohne Zeitverlust wieder ins | |
Freie gelangen konnte. Für die Simulation einer Retrospektive sollte das | |
reichen. Der Freitagabend war gerettet. | |
Aber ein wichtiger Aspekt der Berlinale fehlte. Das [4][Warten in | |
Menschenmengen vor dem Einlass], die sogenannte Delphi-Experience. Würde es | |
mir gelingen, im Flur ein echtes Gedrängel herzustellen, könnte es meine | |
Frau im Grunde gleich mitbenutzen, um reale Bedingungen beim Weg zum Klo | |
oder zum Kölsch-Nachschub zu haben. | |
## Umzugskartons als Publikum | |
Das einzige in ausreichender Menge zeitnah zur Verfügung stehende Material | |
waren 72 Umzugskartons. Der gemeine Intellektuelle behauptet ja gern von | |
sich, Ecken und Kanten zu haben; passt doch. Ich baute also Leute aus | |
Kartons, malte ihnen Gesichter, gestaltete Filmkritiker mit dicken Brillen | |
und hipsteresk gekleidete Filmstudentinnen und stattete große Nerds mit | |
diesen Rucksäcken aus, die einem in Menschenmengen bei jeder Drehung gern | |
ins Gesicht schlagen. Für ein einfühlsames usbekisches „Coming of | |
Age“-Drama in der Sektion „Panorama des internationalen Films: Tragik in | |
der Tundra“ ein nachgerade archetypisches Publikum. Der Samstagabend war | |
gerettet. | |
Doch keine Berlinale ohne roten Teppich. Ich musste die Menschenmenge ein | |
bisschen umdrapieren, einen roten Teppich aus Krepppapier in die Mitte | |
legen, und wenn meine Frau dann bereit wäre, sich als Sandra Hüller zu | |
verkleiden, wäre das doch ein irrer Synergieeffekt von Karneval und | |
Berlinale. | |
Die ausgezeichnete Schauspielerin Sandra Hüller ist gefühlt bei jeder | |
Berlinale seit dem Jahr 1871 dabei, und weil unter der dem europäischen | |
Film zugetanen neuen Festivalleitung keine internationalen Stars aus | |
Hollywood mehr eingeladen werden, muss sie nun ganz allein die Rolle als | |
Liebling der Massen für Paparazzi und Autogrammjäger übernehmen. | |
Meine Frau erklärte jedoch, „Synergieeffekt“ sei voll das „Neunziger-Wor… | |
Und ich solle mich nicht so hineinsteigern in meine Simulation. Sie habe am | |
Sonntag auch gar keine Zeit, da müsse sie nachmittags zur alternativen | |
„Stunksitzung“. Dafür habe sie sich extra eine unbequeme Bierbank besorgt, | |
außerdem sei es echt schade, dass ich nicht mir ihr schunkeln wolle. Sie | |
sei jetzt auf die zwei Federbetten mit Pappnasen und Biergeruch angewiesen, | |
die sie rechts und links von sich platziert habe. | |
Dann spiele ich eben selber Sandra Hüller, beschloss ich leicht beleidigt, | |
roter Teppich, das wollte ich schon immer mal, im Grunde war mein ganzes | |
Leben eine Vorbereitung auf diesen Augenblick! Als Sandra Hüller müsste ich | |
dann selbstverständlich auch auf eine originalgetreue Prominentenparty, | |
also fragte ich meinen Grasdealer nach dem dafür notwendigen Kokain. | |
Leider hatte der Händler keins, weil er nur fair gehandelte Biodrogen führt | |
und „Kokain lieferkettenmäßig voll die Sauerei“ sei. Er empfahl Wodka und | |
eine Scheibe Zitrone, mit einem Gemisch aus Zucker und Kaffee | |
darübergestreut, das sogenannte Russenkoks sollte für mich aufregend genug | |
sein. | |
## Blitzlichtgewitter vorm Filmpalast | |
Am Sonntagabend war Sandra Hüller sehr aufgeregt. Im Wettbewerb sollte | |
„Exil“ laufen, ein Film von 2020, der günstig im Magenta-Probemonat zu | |
bekommen war, und dieser irre Erfolg von „Toni Erdmann“ setzte sie immer | |
noch unter Druck. So toll war der Film nun auch wieder nicht gewesen, | |
dachte sie und nahm etwas von dem Russenkoks. | |
Roter Teppich, das war so gar nicht ihr Ding, aber es gehörte nun mal zum | |
Spiel in dieser Branche. Sie nahm noch etwas Russenkoks und schritt | |
würdevoll durchs Blitzlichtgewitter in den prächtigen Zoopalast. Hier saß | |
sie nun leicht angeheitert zwischen Mišel Matičević und ihrem Regisseur | |
Visar Morina und nahm mehr Russenkoks. | |
Es gongte, das Licht wurde dunkler, der Vorhang ging auf, der Film begann, | |
und um etwas runterzukommen, trank sie ein, zwei Bier und aß einen | |
Haschkeks. Zoopalast, Wettbewerb, womöglich ein Goldener Bär, auf einmal | |
fühlte sich alles so verdammt richtig an. Kurz vor dem zweiten Plotpoint | |
musste sie mal auf die Toilette. Sie stand auf und hielt sich ein bisschen | |
an Mišels starker Schulter fest. | |
Im Foyer war ganz schön viel los. Ein Typ, der aussah wie Oskar Roehler, | |
starrte sie an. Aus einem Nebenraum erklang Karnevalsmusik. Voll strange. | |
Noch sonderbarer wurde es, als Ruth Bader Ginsburg aus dem Klo kam und | |
sagte: „Hey, komm mit, wir machen Party.“ Ruth und Sandra tanzten zu den | |
Bläck Fööss, und die sonderbaren Gestalten auf dem Bildschirm freuten sich, | |
dass ich nach all den Jahren endlich vernünftig geworden war und mit ihnen | |
im Kostüm feierte. | |
„Ich bin Sandra Hüller!“, rief ich. „Klar, haben wir doch direkt erkannt… | |
sagte ein großer rosa Hase, „ ‚Toni Erdmann‘ war echt super!“ Es wurde… | |
ein sehr schöner Abend. Die beste Berlinale aller Zeiten. Und im nächsten | |
Jahr gehe ich als Goldener Bär. | |
15 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Christian Gottschalk | |
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