| # taz.de -- Titel des „Spiegel“ irritiert: Überall wie im falschen Film | |
| > Und noch eine „Migrationskrise“. Und schon wieder rücken alle nach | |
| > rechts, die Medien und die Wirklichkeit. | |
| Bild: Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt Foto: Reto Klar/imago | |
| Ich stehe in einer Bäckerei in einem ländlichen Vorort Stuttgarts. Hier | |
| lebe ich mittlerweile. Im Grünen. Nahe der Natur. Und unter vielen | |
| Pensionisten, die nichts anderes kennen. „Drei Brötchen und einmal die | |
| hier“, sagt der ältere Herr vor mir, während er die Bild am Sonntag in der | |
| Hand hält. „Noch eine. Richtig schlimm“, sagt die Verkäuferin. Sie bezieht | |
| sich nicht auf die Zeitung, sondern [1][auf die aktuelle Schlagzeile]. Noch | |
| eine Migrationskrise. Neue, „fremde“ Menschen wollen wieder einmal zu | |
| „uns“. „So geht es nicht weiter“, titelt die BamS mit einem panikmachen… | |
| Weltuntergangsaufmacher. Doch es ist nicht nur der Springer-Verlag, der in | |
| diesen Tagen wie gewohnt weitermacht. Auch der aktuelle Spiegel, für den | |
| ich selbst immer wieder schreibe, [2][spielt mit seinem „Schaffen wir das | |
| nochmal?“-Titel] von der am Samstag erschienenen Ausgabe – mit der Angst | |
| der Deutschen vor der angeblichen Geflüchtetenkrise. Das Titelbild, das nun | |
| zu Recht heftig kritisiert wird, hätte auch jenes des rechtsradikalen | |
| Compact-Magazins sein können. | |
| Seit Tagen bestimmen die jüngsten AfD-Erfolge, der Rechtsruck der | |
| Gesellschaft und vor allem das Flucht- und Migrationsthema abermals die | |
| Schlagzeilen und Sendungen hierzulande. Es ist kein gutes Gefühl, wenn man | |
| als Kind Geflüchteter im Auto durch deutsche Städte fährt, während man | |
| zeitgleich im Radio hören muss, dass immer mehr Deutsche mit | |
| rechtsradikalen Positionen sympathisieren oder Krisen dort sehen, wo es sie | |
| gar nicht gibt. Währenddessen nehmen auf den Sesseln deutscher Talkshows | |
| weiterhin jene Platz, die meinen, viel zu sagen zu haben: Herausgeber | |
| konservativer Zeitungen, Hauptstadtjournalisten, elitäre | |
| „Migrationsexperten“ und Politiker, die immer mehr Grenzkontrollen und | |
| Abschiebungen fordern. Für die Namenlosen und Verdammten aus Moria, | |
| Lampedusa und anderswo spricht niemand. Sie sind der unbekannte Feind, der | |
| den gesellschaftlichen Wohlstand bedroht und den es weiterhin zu | |
| entmenschlichen gilt. | |
| In diesem Kontext berichten viele Medien gerne, ohne ihre eigene Rolle zu | |
| hinterfragen. Die aktuellen Entwicklungen sind nämlich auch das Resultat | |
| einer rassistischen und im Grunde menschenfeindlichen Berichterstattung, | |
| die in den letzten Jahren zum Alltag geworden ist und von nahezu allen | |
| medialen Spektren bedient wurde. Dies geschah oft in einer Symbiose mit der | |
| vorherrschenden Politik, die sich gerne als „liberal“, „weltoffen“ oder | |
| „divers“ tarnte und im Zweifelsfall nach rechts abbog, um bestimmte | |
| Wählerschaften nicht zu verlieren. | |
| Noch verrückter, oder besser gesagt, angsteinflößender ist es, das | |
| gegenwärtige Geschehen nach der Rückkehr von einem echten Konfliktherd zu | |
| beobachten. Bis vor Kurzem hielt ich mich zum wiederholten Male in | |
| Afghanistan auf. Einem Land, in dem seit über vier Jahrzehnten [3][Krieg, | |
| Chaos und dystopische Verhältnisse] vorherrschen. Seit über zwei Jahren | |
| wird das Land von den extremistischen Taliban regiert. Praktisch jeder | |
| junge, gebildete Mensch, den ich getroffen habe, will das Land verlassen | |
| oder hat dies bereits schon getan. Der gegenwärtige Status quo am | |
| Hindukusch ist eine direkte Folge westlicher Machtpolitik. Zwanzig Jahre | |
| lang hat man Krieg gemacht. Letzten Endes verließ man das Land so planlos, | |
| wie man einst einmarschiert ist. | |
| All diesen Realitäten kann ich mich auch hier nicht entziehen. Während ich | |
| beim Bäcker anstehe, meldet sich einer meiner afghanischen Kollegen über | |
| Whatsapp. Er ist Journalist und lebt in Angst vor den Taliban. Mal zensiert | |
| er sich, mal versteckt er sich. Eigentlich hätte er schon längst vom | |
| Auswärtigen Amt evakuiert werden sollen, doch geschehen ist nichts. „Gibt | |
| es etwas Neues?“, will er wissen. Ich bezahle meine Brötchen und frage | |
| mich, ob ich im falschen Film lebe. | |
| 24 Sep 2023 | |
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| [1] https://www.ikiosk.de/shop/epaper/bild-am-sonntag.html | |
| [2] https://twitter.com/golatschen/status/1705634612381093928 | |
| [3] /Humanitaere-Krise-in-Afghanistan/!5955200 | |
| ## AUTOREN | |
| Emran Feroz | |
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