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# taz.de -- Historischer Gerichtsprozess zu Belarus: Morde im Auftrag des Regim…
> In Belarus verschwanden vor über 20 Jahren viele Regimekritiker. Juri
> Garawski sagt, er war daran beteiligt. Deshalb steht er in der Schweiz
> vor Gericht.
Bild: Der 45-jährige Juri Garawski (mit Kapuze) vor dem Gericht in der Schweiz
Basel taz | Die Schilderungen des Angeklagten könnten aus einem Krimi
stammen: Ein Mann behauptet, er sei an mehreren Morden beteiligt gewesen.
Laut seiner Aussage befällt ihn nach mehr als 20 Jahren Reue. Er
beschließt, zu gestehen. Aber da die Opfer als verschollen gelten, sind
weder Beweise noch Zeug:innen vorhanden und niemand glaubt ihm.
Die Beamten, denen er seine Geschichte erzählt, tun diese als fiktionalen
Einfall ab. Also setzt er alles daran, seine eigene Schuld zu beweisen.
Gemeinsam mit der Tochter eines der Opfer gibt er einer [1][Zeitung ein
Interview]. „Ich glaube Ihnen, dass Sie meinen Vater umgebracht haben“,
sagt die Tochter zu ihm. „Alles, was ich will, ist eine faire Verhandlung“,
meint der Mann.
Zu einer Verhandlung kam es diese Woche am Kreisgericht Rorschach in der
Ostschweiz. Das internationale Interesse am Fall war derart groß, dass die
Verhandlung an das Kantonsgericht St. Gallen verlegt werden musste. Der
Prozess erregt vor allem wegen seiner politischen Bedeutung Aufmerksamkeit.
1999 in Belarus war der damals 20-jährige Juri Garawski laut eigener
Aussage Teil der Sondereinheit Sobr, die Oppositionelle entführt und
ermordet habe – darunter der [2][ehemalige Innenminister Juri Sacharenko].
Bis 2003 sei Garawski in der Einheit geblieben, deren angebliche Aufgabe
war, Kriminalität zu bekämpfen.
## Wie Lukaschenko an die Macht kam
Die Entführungen Ende der 1990er-Jahre seien Teil des Kampfes gegen die
Opposition gewesen, meint die Politikwissenschaftlerin und Herausgeberin
der [3][Belarus-Analysen] Olga Dryndova: „Mit dem Image des einfachen,
normalen Mannes fuhr Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen
klaren Sieg ein. Er inszenierte sich als Volkspräsident im Gegensatz zu den
alten Eliten und intensivierte die Bekämpfung der Korruption.“
Gleichzeitig habe er eine Politik der Annäherung an Russland betrieben,
basierend auf sowjetnostalgischen Gefühlen in der Gesellschaft. Im
wirtschaftlichen Chaos nach dem Zerfall der Sowjetunion argumentierte
Lukaschenko mit Stabilität. In zwei Referenden 1995 und 1996 trieb er eine
Annäherung an Russland sowie die Konsolidierung der Autokratie voran. Auf
die Parlamentarische folgte die Präsidiale Republik, die rot-weiße
Nationalflagge musste den alten sowjetischen Symbolen weichen. „Alles, was
einen Bezug zur belarussischen Sprache oder Kultur hatte, musste bekämpft
werden“, sagt Dryndova.
Die Methoden des Sicherheitsapparates gegen die Opposition seien bis heute
dieselben. Wer in Belarus mit rot-weißen Symbolen auf der [4][Straße
erwischt wird, muss mit einer Verhaftung rechnen]. Die gewaltsam
niedergeschlagenen Proteste nach der manipulierten Präsidentschaftswahl
2020 verleihen dem Prozess gegen Juri Garawski in St. Gallen zusätzliche
Bedeutung.
Doch wie kommt es, dass ein Kreisgericht in der Ostschweiz über ein
Verbrechen verhandelt, das sich vor über 24 Jahren im Norden von Minsk
zugetragen haben soll? Das liegt am Tatbestand des Verschwindenlassens.
Weil der Vorwurf so lautet, kommt das Weltrechtsprinzip zur Anwendung. 2015
wurde die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen durch einen Entscheid
des Schweizer Parlamentes ins Strafrecht integriert. Das Weltrechtsprinzip
bezieht sich auf Straftaten, die direkt durch das Völkerrecht geregelt
werden. Sie können überall auf der Welt angeklagt werden, auch in der
Schweiz, wo Juri Garawski als vorläufig Aufgenommener lebt.
Da er sich in Belarus nicht mehr sicher gefühlt habe, sei der heute
45-jährige Garawski 2018 in die Schweiz geflohen und habe Asyl beantragt,
wie die NZZ berichtete. Laut Garawskis Worten brach er sein Schweigegebot
als Mitglied der Sobr-Einheit Anfang 2019, als er seine Geschichte Beamten
des Staatssekretariats für Migration erzählte. Doch weil das, was er
beschrieb, so abenteuerlich klang und es an Beweisen mangelte, vermuteten
diese, Garawski erfinde die Geschichte, um einen positiven Asylentscheid zu
erhalten.
Danach suchte Garawski Öffentlichkeit. Er schilderte die Ereignisse in
einem Film der Deutschen Welle, ließ sich von der NZZ gemeinsam mit der
Tochter Juri Sacharenkos interviewen.
## Die Tat einer Todesschwadron
In dem Film legte Garawski Dokumente vor, die beweisen sollen, dass er
Mitglied der Sondereinheit Sobr gewesen sei, sowie eine Namensliste jener
Leute, die an den Entführungen und Ermordungen teilgenommen haben sollen.
Als Soldat sei er jedoch bloß ein Ausführender gewesen, meint Garawski.
„Wir haben sie nur festgenommen.“ Den Abzug gedrückt habe jeweils Dmitri
Pawlitschenko, ein Offizier des weißrussischen Innenministeriums und
Gründer der Sobr-Einheit, so Garawski.
Zwei Ermittler des Europarates kamen nach Untersuchungen zum Fall 2004 zum
Schluss: Der Mord am Ex-Innenminister Juri Sacharenko sei zweifellos die
Tat einer Todesschwadron gewesen. Davon geht auch Jelena Sacharenka aus,
die Tochter des verschwundenen Politikers. Im Film der Deutschen Welle
äußerte sie zu Garawski: „Es geht nicht um ihn, es geht um das ganze
System, das hinter ihm steht. Ihm kann man nichts vorwerfen. Menschen wie
er sind abhängig von diesem System. Sie sind gezwungen, dessen blutige
Verbrechen auszuführen.“
Als Privatklägerin ist Jelena Sacharenka vor Gericht in St. Gallen. Für sie
und die Tochter Anatoli Krasowskis, eines weiteren verschwundenen
Oppositionellen, die ebenfalls als Privatklägerin auftritt, sei die
Bedeutung des Prozesses hoch, wie ihr Anwalt Severin Walz im Gespräch mit
der taz sagt: „Seit 24 Jahren warten sie auf einen solchen Prozess und
darauf, dass es vor Gericht zu einer Gewissheit kommt.“
## Eine Woche bis zum Urteil
Obwohl Staatsanwaltschaft und Gerichte an der Glaubwürdigkeit des
Angeklagten zweifeln, gehe der Anwalt von einem Schuldspruch aus. Die
Urteilsverkündung soll in der kommenden Woche schriftlich erfolgen. Solange
hat sich das Gericht für eine Konsultation zurückgezogen.
Ob die lange Wartezeit mit dem medialen Druck zusammenhänge, darauf gibt
das Kreisgericht Rorschach auf Anfrage der taz keine Antwort. Längere
Beratungen seien üblich, und da während der Verhandlung neue Akten
hinzugekommen seien, brauche das Gericht die Zeit, um zu einem Urteil zu
kommen.
Wegen der 2015 angenommenen UN-Konvention könnte das Kreisgericht Rorschach
Garawski nun aufgrund des Tatbestandes des Verschwindenlassens, nicht
jedoch für die Entführung und die Morde verurteilen. „Das
Verschwindenlassen wird von autokratischen Regimen dazu eingesetzt, um
Angst und Schrecken zu verbreiten“, sagt Walz.
Mit der Liquidierung des ehemaligen Innenministers Sacharenko, der das Land
zurück zum Recht hatte führen wollen, sei der Weg für Lukaschenko in
Richtung Autokratie frei gewesen. „Niemand wurde jemals zur Verantwortung
gezogen, es fand keine Aufklärung statt“, meint Walz weiter.
Vor Gericht bat Garawski die [5][Angehörigen der Opfer um Verzeihung].
Während seine Anwältin auf Freispruch plädierte, forderte die
Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, eines davon
unbedingt.
Eine Verurteilung hätte eine politische Signalwirkung, wie Severin Walz
sagt: „Es wäre das erste Mal, dass jemand aus dem Lukaschenko-Regime
verantwortlich für jene Taten gemacht würde.“ Gleichzeitig könnte eine
Verurteilung bewirken, dass sich Menschen, die sich an
Menschenrechtsverbrechen von Regimen beteiligen, nicht mehr sicher vor
Strafverfolgung fühlen können. Doch an der Tatsache, dass man in Belarus
nicht zu seinem Recht kommen kann, würde dies nichts ändern.
Klar ist jedoch, dass eine Verurteilung Druck auf das Regime in Belarus
ausüben würde. Denn eines der Tatbestandsmerkmale besagt, dass die Morde im
Auftrag des Staates vollzogen wurden. So blickt die Welt gespannt in die
Ostschweiz – und wartet auf das Urteil von nächster Woche.
21 Sep 2023
## LINKS
[1] https://www.nzz.ch/schweiz/ld.1756905
[2] /Archiv-Suche/!1266459&s=Juri+Sacharenko&SuchRahmen=Print/
[3] https://www.laender-analysen.de/belarus-analysen/
[4] /Repressionen-in-Belarus/!5932215
[5] https://www.20min.ch/story/gericht-lukaschenko-stgallen-leute-versschwinden…
## AUTOREN
Jonas Frey
## TAGS
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