# taz.de -- Verdi-Bundeskongress in Berlin: Mehr Aktion als Herumfrickeln | |
> Bei ihrem Bundeskongress zeigt sich die Gewerkschaft optimistisch. Die | |
> Mitgliederzahl steigt erstmals wieder, die Streikkasse ist gut gefüllt. | |
Bild: Verdi-Chef Frank Werneke umrahmt von seinen Stellvertreterinnen Andrea Ko… | |
BERLIN taz | Frank Werneke gilt als nüchterner Mensch. Dazu passt seine | |
Aussage nicht unbedingt, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sei „das | |
interessanteste und vielversprechendste Projekt auf der hellen Seite der | |
Macht“. Und wer die tagelangen und oft zähflüssigen Antragsberatungen auf | |
dem Verdi-Bundeskongress in Berlin verfolgt, kommt auch nicht direkt auf | |
eine solche Idee. | |
Gleichwohl konnte selbst Robert Habeck bei seinem Auftritt am | |
Mittwochnachmittag eine gewisse Bewunderung für die enorme Kondition der | |
versammelten Gewerkschafter:innen nicht verbergen. Schon grüne | |
Parteitage dauerten ja lange. „Aber das, was Sie hier machen, ist noch | |
eindrucksvoller“, sagte der Bundeswirtschaftsminister, der als drittes | |
Kabinettsmitglied nach Kanzler Olaf Scholz am Sonntag und Arbeitsminister | |
Hubertus Heil am Mittwochmittag den Kongress besuchte. „Danke für diese | |
politisch aufregende Veranstaltung“, antichambrierte Habeck. | |
Unter dem Motto „Morgen braucht uns“ tagen seit Sonntag und noch bis | |
Freitag mehr als 900 Delegierte im Kongresshotel Estrel, die jüngste 19 | |
Jahre alt, die älteste 85. Sie vertreten Angehörige von mehr als tausend | |
Berufen, die in der Multi-Branchen-Gewerkschaft organisiert sind – von der | |
Kita-Erzieherin oder den Postboten über die Straßenbahnfahrerin oder den | |
Krankenpfleger bis hin zur Bankangestellten oder Bestattungsfachkraft. Und | |
im Mittelpunkt des Kongresses steht ihr neuer und alter Bundesvorsitzender. | |
Der Rückhalt für Frank Werneke, der am Montag – wie auch seine | |
Stellvertreterinnen Christine Behle und Andrea Kocsis – mit mehr als 90 | |
Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt wurde, ist offenkundig groß. | |
Seit vier Jahren steht der gelernte Verpackungsmittelmechaniker [1][an der | |
Spitze von Deutschlands zweitgrößter Einzelgewerkschaft]. 2019 löste der | |
heute 56-jährige Ostwestfale mit SPD-Parteibuch den [2][Gründungs- und | |
Langzeitvorsitzenden Frank Bsirske] ab, der heute für die Grünen im | |
Bundestag sitzt. Seitdem hat sich in Verdi einiges verändert. | |
## „Keine Stellvertreterpolitik“ | |
Anders als sein Vorgänger, der eher das Auftreten eines | |
Gewerkschaftsführers alter Schule pflegte, ist die klassenkämpferische | |
Attitüde nicht so Wernekes Sache. Einen Saal zu „rocken“, wie das Bsirske | |
konnte, fällt ihm schwer. Stattdessen setzt er mehr auf Teamarbeit. Sein | |
Führungsstil sei deutlich kooperativer und kommunikativer, berichtet ein | |
Bundesvorstandsmitglied. | |
Wernekes selbst gestecktes Ziel ist es, Verdi zu einer Gewerkschaft | |
umzubauen, „die keine Stellvertreterpolitik organisiert, sondern | |
Selbstermächtigung und Aktivierung unserer Mitglieder im Zentrum des | |
politischen Handelns hat“. Es gehe um „weniger herumfrickeln in manchmal | |
erstarrter Gremienarbeit, stattdessen mehr Betrieb, mehr Aktion“. | |
Manche würden sich ihn nach außen, vor allem in der Auseinandersetzung mit | |
der Bundesregierung, etwas kämpferischer wünschen. Denn in etlichen Fragen | |
– angefangen von der Schuldenbremse über die Verkehrspolitik bis hin zum | |
100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr – steht Verdi kritisch der | |
Ampel gegenüber. Doch das Poltern liegt ihm nicht. | |
## Werneke fordert sozial gerechte Klimaschutzpolitik | |
Das bedeutet jedoch nicht, dass Werneke davor zurückschrecken würde, | |
gewerkschaftliche Positionen auch vor politischen | |
Entscheidungsträger:innen klar zu formulieren. So wies er am | |
Mittwochnachmittag vom Podium aus den neben ihm stehenden Habeck höflich, | |
aber bestimmt daraufhin, dass aus Gewerkschaftssicht die Klimaschutzpolitik | |
so organisiert werden müsse, dass sie „tatsächlich sozial gerecht | |
stattfindet“. Deswegen sei es wichtig, dass das von der Ampelkoalition zur | |
Entlastung versprochene Klimageld auch tatsächlich noch in dieser | |
Legislaturperiode komme und „dass es nicht in den Schubladen verschwindet“. | |
Die tarifpolitische Bilanz – zentraler Gradmesser für eine Gewerkschaft – | |
des von ihm geführten Vorstands fällt gemischt aus. Mitunter äußerst | |
mickrigen Tarifabschlüssen mit aberwitzig langen Laufzeiten in der | |
Coronazeit, die schon vor Beginn der durch den Ukraine-Krieg bedingten | |
Inflation zu Reallohnverlusten führten, stehen ganz respektable Abschlüsse | |
in diesem Jahr gegenüber. | |
„Alle Tarifauseinandersetzungen waren in der Hochzeit der Pandemie ein Ritt | |
auf der Rasierklinge“, sagte Werneke dazu in einem kurzen Anflug von | |
Selbstkritik. Mit der gegenwärtigen Situation zeigte er sich hingegen | |
äußerst zufrieden: „Wir haben einen guten Lauf, wir haben deutlich an | |
Kampagnenfähigkeit gewonnen.“ | |
## Deutlicher Mitgliederzuwachs | |
Das lässt sich an den Mitgliederzahlen ablesen. Von 2019 bis 2022 sanken | |
sie um fast 100.000 auf nur noch knapp 1,86 Millionen. Zum Vergleich: Bei | |
ihrer Gründung verzeichnete Verdi noch mehr als 2,8 Millionen Mitglieder. | |
Die Arbeitskämpfe in diesem Jahr, zum Beispiel [3][bei der Deutschen Post] | |
oder [4][im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen] und | |
gegenwärtig im Groß- und Einzelhandel, haben nun zum ersten Mal seit zehn | |
Jahren wieder dazu geführt, dass es mehr Zu- als Abgänge gegeben hat. | |
So verzeichnete Verdi 2023 bislang mehr als 142.000 Neueintritte, denen | |
knapp 106.000 Austritte oder Sterbefälle gegenüberstehen. „Wir werden in | |
diesem Jahr auch im Saldo mit einem deutlichen Mitgliederzuwachs von | |
mehreren Zehntausend Mitgliedern abschließen“, prognostizierte Werneke auf | |
dem Kongress. | |
Das sei jedoch noch keine Trendwende in der Mitgliederentwicklung, warnte | |
er. Denn unverändert habe Verdi damit zu kämpfen, dass sich | |
überdurchschnittlich viele Mitglieder im „lebenserfahrenen Alterssegment“ | |
befänden – das Durchschnittsalter liegt bei 53 Jahren. Zudem gebe es gerade | |
bei Jüngeren „einen Trend zu einer situationsbezogenen Mitgliedschaft mit | |
entsprechender Fluktuation“. | |
Ökonomisch steht Verdi gut da. Die Gewerkschaft geht davon aus, in diesem | |
Jahr mehr als 510 Millionen Euro an Mitgliedsbeiträgen einzunehmen – ein | |
Plus von rund 20 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr. Das wäre die höchste | |
Steigerung, die Verdi je verzeichnen konnte. Erstmals würde damit die | |
Schwelle von einer halben Milliarde Euro überschritten. | |
## Gut gefüllte Strekkasse | |
Entsprechend gefüllt dürfte die Streikkasse sein. Auch wenn es ein gut | |
gehütetes Geheimnis ist, wie voll sie genau ist, so verriet das für die | |
Finanzen zuständige Vorstandsmitglied Christoph Meister immerhin, dass sie | |
in den vergangenen vier Jahren um rund 206 Millionen Euro aufgefüllt worden | |
sei. Dem stehen im selben Zeitraum Streikkosten in Höhe von 95 Millionen | |
Euro gegenüber. | |
Auch die erhöhten Streikaufwendungen in diesem Jahr werde Verdi „ohne | |
Substanzverlust stemmen können“, versprach Meister. Daran dürften auch | |
mögliche Warnstreiks im Umfeld der Ende Oktober beginnenden Verhandlungen | |
für den Öffentlichen Dienst der Länder nichts ändern, der größten | |
Tarifauseinandersetzung, die in diesem Jahr noch ansteht. | |
Doch zunächst gehen erst einmal noch die Antragsberatungen auf dem | |
Verdi-Bundeskongress weiter. Für diesen Donnerstag steht die [5][mit | |
Spannung erwartete Diskussion] über den Krieg in der Ukraine auf dem | |
Programm. Werneke hat bereits am Sonntag an die Delegierten appelliert, | |
diese Diskussion „mit gegenseitigem Respekt und ohne Unterstellungen zu | |
führen“. | |
20 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Verdi-Bundeskongress-in-Leipzig/!5625172 | |
[2] /Frank-Bsirske-ueber-Klimastreiks/!5621168 | |
[3] /Beigelegter-Tarifkonflikt-bei-der-Post/!5918542 | |
[4] /Tarifeinigung-im-oeffentlichen-Dienst/!5927175 | |
[5] /Verdi-Bundeskongress-in-Berlin/!5960684 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
## TAGS | |
Bundeskongress | |
Frank Werneke | |
Verdi | |
Arbeitskampf | |
Arbeitnehmer | |
Tarifvertrag | |
Einzelhandel | |
Verdi | |
Warnstreik | |
Verdi | |
Transport | |
Bundeskongress | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tarifkonflikt im Einzelhandel: Ein Arbeitskampf aus Nadelstichen | |
Verdi fordert für die Beschäftigten im Einzelhandel 2,50 Euro pro Stunde | |
mehr. Trotz zahlreicher Warnstreiks zeigen sich die Arbeitgeber | |
unnachgiebig. | |
Verdi-Gewerkschafter:innen und der Krieg: Selbstverständnis auf dem Prüfstand | |
Zwischen Antimilitarismus und Solidarität: Beim Verdi-Bundeskongress wurde | |
mühsam, aber fair um die Haltung der Gewerkschaft zum Ukraine-Krieg | |
gerungen. | |
Streik im Anne Frank Zentrum: Ein „Leuchtturm“ der Branche | |
Beschäftigte des Anne Frank Zentrums und anderer Träger aus dem | |
Sozialbereich haben am Donnerstag gestreikt. Sie fordern gleiche | |
Arbeitsbedingungen. | |
Vorstandswahl beim Verdi-Kongress: Die meisten Stimmen und Applaus | |
Rebecca Liebig ist die erste Schwarze Frau im Verdi-Bundesvorstand. Die | |
Delegierten der Gewerkschaft wählten sie mit stolzen 94,7 Prozent. | |
Lkw-Fahrer-Streik in Gräfenhausen: „Wir bleiben, bis wir sterben“ | |
In der hessischen Stadt harren immer noch rund 30 Lkw-Fahrer aus – | |
inzwischen im Hungerstreik. Nun bekommen sie Unterstützung aus der Politik. | |
Verdi-Bundeskongress: Für mehr soziale Klimagerechtigkeit | |
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sucht den Schulterschluss mit der | |
Klimabewegung. Gleichzeitig mahnt Verdi an, ihn sozial zu gestalteten. |