# taz.de -- Tarifkonflikt im Einzelhandel: Ein Arbeitskampf aus Nadelstichen | |
> Verdi fordert für die Beschäftigten im Einzelhandel 2,50 Euro pro Stunde | |
> mehr. Trotz zahlreicher Warnstreiks zeigen sich die Arbeitgeber | |
> unnachgiebig. | |
Bild: Eine Berliner Lebensmittelfiliale am Samstag: Die Streikaktionen von Verd… | |
BERLIN taz | Es ist ein Arbeitskampf, der weitgehend unter dem Radar der | |
breiten Öffentlichkeit stattfindet, obwohl er einen existentiellen Bereich | |
betrifft. Seit Monaten laufen die Tarifverhandlungen für den Einzelhandel. | |
Bislang ergebnislos. Die [1][Dienstleistungsgewerkschaft Verdi] fordert | |
eine Stundenlohnerhöhung um 2,50 Euro sowie eine Mindestvergütung von 13,50 | |
pro Stunde. [2][Trotz zahlreicher dezentraler Warnstreiks] liegt das | |
Angebot der Arbeitgeber weiterhin wesentlich niedriger. | |
Am Montag kam es unter anderem zu Protestaktionen in Bremen, Niedersachsen, | |
Rheinland-Pfalz und im Saarland. Die Arbeitsniederlegungen in Hamburg | |
sollen noch bis Mittwoch dauern, die in Hessen bis Samstag, teilte Verdi | |
mit. | |
Die Arbeitgeber böten auch nach etlichen Verhandlungsrunden „nur | |
Reallohnverluste“ an, viele Beschäftigte im Handel seien akut von | |
Altersarmut bedroht, sagte die Hamburger Verdi-Verhandlungsführerin Heike | |
Lattekamp. „Dass Kolleginnen und Kollegen nach 45 Jahren harter Arbeit | |
fürchten müssen, mit ihrer Rente nicht über die Runden zu kommen, nehmen | |
wir nicht hin.“ | |
Monika Di Silvestre, die Verhandlungsführerin für Rheinland-Pfalz und das | |
Saarland, forderte die Arbeitgeber auf, „endlich ein wertschätzendes | |
Angebot zur Verhandlung mitzubringen“. | |
## Keine bundesweiten, sondern regionale Tarifverhandlungen | |
Die Verhandlungen werden regional in den jeweiligen Tarifgebieten geführt. | |
Für Sachsen-Anhalt und Thüringen wird am 4. Oktober weiterverhandelt, für | |
Nordrhein-Westfalen am 17. Oktober und für Bayern am 26. Oktober. In | |
Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein | |
gehen die Tarifverhandlungen Anfang November weiter. | |
Die Erfolgsaussichten sind mehr als ungewiss. So wirft der Handelsverband | |
Deutschland (HDE) der Gewerkschaft vor, „weiter störrisch an ihren | |
utopischen Eingangsforderungen“ festzuhalten. Um Verdi das Wasser | |
abzugraben, hat der HDE inzwischen den tarifgebundenen Handelsunternehmen | |
eine Entgelterhöhung von 5,3 Prozent ohne Tarifabschluss empfohlen. | |
Wobei der Verband darauf hinweist, dass es für die entsprechenden | |
Einzelhandelsunternehmen keinerlei Verpflichtung gebe, diese Empfehlung | |
exakt und in voller Höhe umzusetzen. „Sie ist nur bezüglich ihrer | |
Obergrenze verpflichtend“, so HDE-Tarifgeschäftsführer Steven Haarke. Es | |
kann also auch weniger sein. | |
Bei anhaltender Inflation und steigenden Preisen sei eine außertarifliche | |
Lohnerhöhung von 5,3 Prozent „ein Schlag ins Gesicht für die Beschäftigten | |
im Handel“, kritisierte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke die | |
HDE-Empfehlung scharf. „Das sind für eine Verkäuferin 92 Cent die Stunde, | |
und das bedeutet Reallohnverlust“, sagte Werneke. Die berechtigten | |
Erwartungen der Beschäftigten gingen deutlich darüber hinaus. | |
## Geringer Organisierungsgrad, geringe Tarifbindung | |
Insgesamt arbeiten [3][rund 3,1 Millionen Menschen im Einzelhandel]. Davon | |
sind rund 1,2 Millionen Beschäftigte sozialversicherungspflichtig | |
vollzeitbeschäftigt. Der weit überwiegende Teil ist in unteren | |
Entgeltgruppen eingruppiert, was bedeutet, dass er je nach Region nur einen | |
Stundenlohn zwischen 12 und 17,44 Euro brutto bekommt. | |
Was es für Verdi schwer macht: Zum einen ist der gewerkschaftliche | |
Organisationsgrad in der Branche niedrig. So können Filialen beispielsweise | |
von Kaufland, Rewe oder Edeka kaum und schon gar nicht flächendeckend per | |
Warnstreik zur temporären Schließung gezwungen werden. Mehr als einzelne | |
Nadelstiche sind nicht möglich. | |
Zum anderen hat die schon zuvor nicht gerade hohe Tarifbindung im | |
Einzelhandel im vergangenen Jahrzehnt weiter deutlich abgenommen, wie aus | |
der Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf eine | |
schriftliche Frage des Linken-Abgeordneten Pascal Meiser hervorgeht. | |
Danach sank der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung im | |
Einzelhandel von 45 Prozent im Jahr 2012 auf nur noch 26 Prozent im Jahr | |
2022. Dabei hat es gravierende Auswirkungen, ob ein Betrieb tarifgebunden | |
oder -ungebunden ist. Denn die Entlohnung ist in Betrieben ohne | |
Tarifbindung erheblich niedriger. | |
## Linke fordert von Bundesregierung, Tarifflucht zu bekämpfen | |
Die Bundesregierung dürfe „nicht länger zusehen, wie immer mehr Unternehmen | |
im Einzelhandel Tarifflucht begehen und so deren Beschäftigte am Ende | |
gerade einmal den Mindestlohn bekommen“, sagte Meiser der taz. | |
„Tarifverträge müssen deshalb endlich auch gegen die Blockadehaltung der | |
Arbeitgeberseite für allgemeinverbindlich erklärt werden können“, forderte | |
der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion. Denn das | |
verhindere, dass sich einzelne Unternehmen schmutzige Wettbewerbsvorteile | |
auf dem Rücken ihrer Beschäftigten verschafften. | |
Meiser zeigte sich solidarisch mit dem aktuellen Arbeitskampf von Verdi. | |
„Die Beschäftigten im Einzelhandel, die uns mit den Gütern des täglichen | |
Bedarfs versorgen, trifft die anhaltende Inflation aufgrund ihres | |
unterdurchschnittlichen Verdienstes weiter besonders hart“, sagte er. | |
Deshalb sei es „absolut nachvollziehbar, dass sie jetzt ihrer Forderung | |
nach anständigen Lohnerhöhungen Nachdruck verleihen“. | |
3 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Verdi-Bundeskongress-in-Berlin/!5958349 | |
[2] /Warnstreik-im-Einzelhandel/!5950064 | |
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/6306/umfrage/entwicklung-der… | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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