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# taz.de -- Arbeitskampf im Einzelhandel: Tarifverhandlungen des Grauens
> Arbeitskräftemangel, Inflation, Konsumflaute: Im Einzelhandel fallen
> gerade alle Krisen zusammen. Doch auf Arbeitgeberseite tut sich wenig.
Bild: Angst vor Reallohnverlust: Beschäftigte beim letzten Warnstreik am 30. O…
Berlin taz | Kurz vor dem Weihnachtsgeschäft spitzt sich der
[1][Tarifkonflikt im Einzel- und Großhandel] weiter zu. Nachdem es in den
Verhandlungen in den vergangenen sechs Monaten kaum Bewegung gegeben hatte,
sagte der die Arbeitgeberseite vertretende Deutsche Handelsverband (HDE)
überraschend alle künftigen Verhandlungstermine ab. Auch in Berlin und
Brandenburg liegen die Verhandlungen damit auf Eis. Die
Dienstleistungsgewerkschaft Verdi rief deshalb ab Freitag zu einem
viertägigen Warnstreik auf.
„Die Situation ist dramatischer denn je“, berichtet Katja Vaternam der taz.
Die Betriebsrätin arbeitet in einer Berliner Kauflandfiliale; seit 20
Jahren ist sie im Einzelhandel beschäftigt. Über 90 Prozent der
Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten Teilzeit, viele ihrer
Kolleg:innen müssten in mehreren Jobs arbeiten. „Beschäftigte haben
schon immer von der Hand in den Mund gelebt, aber jetzt wissen viele nicht
mehr, wie sie ihre Lebenshaltungskosten zahlen sollen.“
Auch in ihrem Markt bestehe der Großteil der Belegschaft aus
alleinstehenden und alleinerziehenden Frauen, die Preissteigerungen würden
sie besonders hart treffen, erklärt Vaternam. Dazu käme der
Arbeitskräftemangel, der die Beschäftigten noch weiter belaste. Viele
würden die Branche daher verlassen. „Die Arbeit ist nach wie vor da, nur
bleibt sie auf dem Rücken der Kollegen liegen“, so Vaternam.
„Wir verlangen endlich ein Angebot, das für die Beschäftigten keinen
Reallohnverlust bedeutet“, fordert Gewerkschaftssekretärin Conny Weißbach.
Das in den vergangenen beiden Jahren durch die Inflation verlorene Geld
werde auch mit dem neuesten Angebot bei weitem nicht ausgeglichen. Verdi
fordert unter anderem 2,50 Euro mehr Lohn pro Stunde. Bislang war die
Arbeitgeberseite in Berlin nur zu einer Erhöhung von 90 Cent für dieses
Jahr bereit. Seit diesem letzten Angebot im Juli haben sich beide Seiten in
den Verhandlungen kaum aufeinander zubewegt.
## Ausgehölter Tarifvertrag
„Dass die Tarifverhandlungen so haken, habe ich in 30 Jahren noch nicht
erlebt“, sagt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands
Berlin-Brandenburg, der taz. Verantwortlich macht er dafür naturgemäß die
Gegenseite. Die Forderungen der Gewerkschaft seien „in Zeiten von Pleiten
und sterbenden Innenstädten“ deutlich überzogen. Angesichts [2][des
sinkenden Konsumklimas] sei einfach nicht mehr leistbar. „Wenn wir besser
zahlen könnten, würden wir das tun.“
Weißbach vermutet hinter der Härte der Arbeitgeberverbände jedoch den
Versuch, die Funktion des Tarifvertrags zu unterhöhlen. Denn statt
tariflich festgelegter Lohnsteigerungen boten diese vor allem freiwillige
Einmalzahlungen in Form von Inflationsausgleichsprämien an. „Wenn bei einem
Tarifabschluss die tarifierten Löhne unterhalb dessen liegen sollten, was
Unternehmen tatsächlich zahlen, verliert der Tarifvertrag seine Funktion.“
Statt weiterer Verhandlungsrunden fordert der Handelsverband ein
Spitzengespräch mit der Verdi-Fachbereichsleitung auf Bundesebene, um ein
neues Verhandlungsformat zu erarbeiten. Während Busch-Petersen die Absage
der Verhandlungen als „deutliches Signal“ bezeichnet, sieht
Verdi-Gewerkschaftssekretärin Conny Weißbach in dem Schritt eine
„beispiellose Eskalation“ und einen „Kulturbruch“.
Derzeit finden in allen Bundesländern parallel Tarifverhandlungen im
Einzel- und Großhandel statt. Weil die Verhandlungen unabhängig voneinander
sind, wäre der erste Tarifabschluss tonangebend für die übrigen
Auseinandersetzungen.
## Weihnachtsgeschäft in Gefahr
Hinter der Forderung der Arbeitgeberverbände nach einem Spitzengespräch
sieht Verdi einen Versuch, die regionalen Verhandlungen auf Bundesebene zu
bewegen. „Zentralisierte Verhandlungen schwächen die Gewerkschaften“,
erklärt Gewerkschaftssekretärin Franziska Foulong. „Darauf werden wir uns
niemals einlassen.“
Derweil versucht die Gewerkschaft, [3][mit einem erneuten Warnstreik] den
Druck zu erhöhen. Beschäftigte im Einzel- und Großhandel streiken zusammen.
Betroffen sind unter anderem Rewe, Kaufland, Edeka sowie deren
Logistikpartner. Zu Arbeitsniederlegungen kommt es außerdem bei Ikea und im
Pharmagroßhandel. „Man muss damit rechnen, dass einige Kassen geschlossen
sind und einige Regale leer bleiben“, schätzt Foulong die Auswirkungen des
Streiks ein. Arbeitgebervertreter Busch-Petersen gibt sich hingegen
gelassen: „Wir nehmen die Streiks sehr ernst, aber wir werden unseren
Versorgungsauftrag sicherstellen.“
Sollte sich auch nach dem viertägigen Streik am Wochenende keine Lösung
anbahnen, „werden die Streiks fortgeführt und ausgeweitet“, warnt Foulong.
Ziel sei es dann, auch das Weihnachtsgeschäft, die traditionell
umsatzstärkste Zeit im Einzelhandel, zu treffen. „Das Weihnachtsgeschäft
steht vor der Tür, wir auch.“
Nicht beteiligen werden sich die Beschäftigten von
Galeria-Karstadt-Kaufhof. Nachdem das letzte Insolvenzverfahren erst im Mai
beendet wurde, bangen die Unternehmenden angesichts der Krise des
Mutterkonzerns Signa wieder mal um ihre Zukunft. Unklar ist derzeit, ob
Signa die zugesagten Investitionen tätigen kann. Einbrüche im
Weihnachtsgeschäft träfen den Konzern besonders schmerzhaft.
9 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Jonas Wahmkow
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