# taz.de -- Die Wahrheit: Ewige Kanzelkultur | |
> Seit der Antike wird die Jugend ununterbrochen von starrsinnigen Alten | |
> drangsaliert, die es halt besser wissen. Geändert hat sich da: nichts. | |
Bild: Einst im Epizentrum von Schikane und Maulzerreißen: der langhaarige Gamm… | |
Die Menschheit verfügt über einen festen Kanon zentraler Lamentos, die wie | |
wohl behütete Schätze von Generation zu Generation weitergetragen werden. | |
Teil dieses immateriellen Weltkulturerbes ist zum Beispiel der uralte | |
maledictio vehiculi (Fluch des Verkehrsmittels), das rituelle Schimpfen auf | |
das Pferd, die Kutsche, die Bahn oder eben die eigenen Füße: „Mann, Mann, | |
Mann, die Füße schon wieder; umgekehrte Zehenreihung, Personen im Pfad, | |
sowie verspätete Bereitstellung – kriegen die überhaupt mal irgendwas | |
gebacken?“ | |
Nicht totzukriegen ist auch das Lästern über „die Jugend“, die von den | |
Älteren zu allen Zeiten renitent, faul und verweichlicht geziehen wurde, | |
sobald sie mit empathischeren Ansätzen experimentierte. So gab es schon bei | |
den antiken Olympischen Spielen Überlegungen, keine Sieger mehr zu küren | |
und damit auch keine Verlierer zu beschämen. Doch Götterunions-Vorsitzender | |
Zeus wischte das woke Gedöns kurzerhand vom selben Tisch, unter den die | |
jungen Griechen ja noch immer ihre Füße stellten. | |
Bereits Homer wusste: „Kein Wunder, dass Griechenland immer weniger | |
Streitwagen produziert, wenn alle nur noch vom ‚Affen, der den Esel reitet‘ | |
(heute ‚Work-Life-Balance‘ genannt) schwallern und keiner mehr Leistung | |
bringen, kämpfen und verzichten will.“ | |
Das Phänomen des Jugendbashings im Altertum wird gerne mit 5.000 Jahre | |
alten Tontafeln der Sumerer oder Zitaten des griechischen Philosophen | |
Sokrates (470–399 v. Chr.) belegt: „Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie | |
widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.“ | |
## Gefakte Glückskeksbinsen | |
Zwar dürfte es sich bei den meisten dieser „Überlieferungen“ um gefakte | |
Glückskeksbinsen handeln, wie bei jener angeblichen „Weissagung der Cree“ | |
(„ werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann“), die sich in | |
Wahrheit mal irgendeine Wiesenyogalehrerin aus exakt dem Chakra gezogen | |
hat, in das kein Licht mehr hineinfällt, doch das Prinzip bleibt wahr. | |
Vor allem aber nölten die Altvorderen genauso wie heute schon immer | |
darüber, dass man dieses „nicht mehr sagen“ und jenes „nicht mehr tun“ | |
dürfe, nur weil es von den Jungen Widerspruch erfährt. So beklagt im 18. | |
Jahrhundert der berühmte Philosoph Cosimar von der Senke in einem | |
Briefwechsel mit dem Abt von Kloster Brummthal verschiedenste, einem | |
unseligen Zeitgeist geschuldete Einschränkungen der gewohnt freien | |
Entfaltung. | |
Er schreibt: „Leider darf man Diebe nicht mehr kreuzigen, so wie es früher | |
gute Sitte war und was auch niemandem geschadet hat. Und jetzt soll das auf | |
einmal nicht mehr in Ordnung sein? Es sei ‚unmenschlich‘ und passe ‚nicht | |
mehr in unsere Zeit‘. Verurteilte fühlten sich ‚in ihrer Würde verletzt u… | |
ihrem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt‘. Ja, du liebe Güte, ich | |
komme mit dieser Geisteshaltung beim besten Willen nicht mehr mit. Aber | |
wenn du auch nur irgendetwas dagegen sagst, prügelt sofort die | |
Gesinnungspolizei auf dich ein. Und stellt Euch vor, mein lieber Abt: | |
Manche wollen sogar das Rädern verbieten. Nur weil irgendwelche | |
Schneeflocken an einer Richtstätte vorbeigekommen sind, wo jemand ein paar | |
Stunden lang ‚Aua, aua‘ gesagt hat. Ja, sind die Menschen nun total | |
verrückt geworden? Soll man die Übeltäter für das Wildern eines Hasens aus | |
dem herzoglichen Forst etwa auch noch mit dem Strang belohnen?“ | |
Der Gottesmann stimmt dem Philosophen zu: Im Gegensatz zum Vierteilen, das | |
den beteiligten Pferden schade, sei das Rädern eine ökologisch nachhaltige | |
und zugleich dem Tierwohl zuträgliche Hinrichtungsmethode, die aufs Rad | |
Geflochtenen dienten den hungrigen Raben im Winter schließlich als | |
Meisenknödel. Außerdem würden die Wilderer auf diese Weise effektiv vor | |
ungesundem Fleischverzehr geschützt, der gemäß Gottes Willen ohnehin den | |
Adeligen vorbehalten sei, ebenso wie Flugreisen … | |
## Was im Jahre 1680 noch völlig normal war | |
Auf das Wort „Flugreisen“ geht Meister Cosimar in seiner Replik nicht | |
weiter ein. Jedermann wusste, dass man zu Brummthal starkes Bier braute | |
und Zauberpilze auf dem Mist zog. Stattdessen tauschten sich die alten | |
Herren nun darüber aus, dass „man 1720 nicht mehr sagen darf, was 1680 noch | |
völlig normal“ gewesen wäre: „Rottet alle Protestanten aus mit Stumpf und | |
Stiel, schändet ihre Frauen, verbrennt ihre Häuser und werft ihre Kinder | |
ins Feuer.“ | |
Von der Senke notiert: „Das haben wir damals alle so gesagt, und das war ja | |
nie böse gemeint. Wir trugen halt das Herz am rechten Fleck, nämlich auf | |
der Zunge, und redeten freiweg, wie uns der Schnabel gewachsen war. Diese | |
künstlichen Beschönigungen helfen doch nicht weiter. Aber wenn du das | |
RAP*AMSUSSIF(LINTA*)VIHUWIKIF+-Wort sagst, wirst du sofort gekanzelt. Als | |
könne man Diskriminierungen abschaffen, indem man bestimmte Wörter | |
verbietet. Dabei ist doch nur wichtig, wie man am Ende miteinander umgeht: | |
dass die Ketzer mit allem gebotenen Respekt in ihre Schranken gewiesen | |
werden.“ | |
Bald nach diesen Worten stirbt der Gelehrte im Jahre 1723, einsam und | |
verbittert. | |
13 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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