Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Gut gelogen und betrogen
> Schlechte Nachsätze fürs neue Jahr: Ein Hoch auf die abgrundtiefe
> Selbstzerstörung. Mit viel üblem Willen und besinnungsloser Niedertracht.
Bild: Endlich Rauchen anfangen und dann richtig was durchziehen
Am Vormittag begegne ich auf der Treppe einer Nachbarin. „Guten Morgen“,
begrüßt sie mich freundlich. „Du mich auch“, sage ich und setze noch einen
drauf: „Du blöde Sau.“ Mein Verhalten tut mir fast körperlich weh, denn i…
bin eigentlich ein höflicher Zeitgenosse, doch wie jeden Winter habe ich
für das alte Jahr, und hoffentlich auch endlich mal darüber hinaus, die
allerschlechtesten Nachsätze gefasst.
Dazu gehört es, möglichst scheiße zu meinen Mitmenschen zu sein. Lügen,
betrügen, beleidigen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, auch stehlen,
verleumden, und Humoriges verbreiten stets auf Kosten derer, die eh schon
am Boden liegen. Körperverletzung nur hinterrücks (Steinwürfe,
Bremsleitungen), denn ich bin feige. Tierquälerei, Sachbeschädigung und
Volksverhetzung.
Mich selbst nehme ich nicht aus. Kein Sport mehr, stattdessen mehr Rauchen,
mehr Trinken und schlechte Ernährung. Viel Fett, viel Zucker, viel billiges
Fleisch. Anfangs muss ich mich noch zwingen, denn ich merke die
unangenehmen Folgen des Lebenswandels immer stärker. Die werden im Alter ja
auch zunehmend gefährlicher, wie mir der Arzt bestätigt hat. Der Ekel
steigt zunächst und gerade auch der Selbstekel.
Doch genau hier kann ich mit meinen schlechten Nachsätzen prima andocken:
Schließlich habe ich mir ja auch vorgenommen, nicht nur ungesünder zu
leben, sondern auch unglücklicher zu sein und mehr Unglück zu verbreiten.
Und wie ginge das besser, als mit beständig schmerzendem, leerem Kopf
herumzulaufen, rundum verkatert und so richtig unzufrieden mit mir und der
Welt. Den ganzen Tag ist es dunkel – was liegt da näher als brodelnder Hass
und der Wunsch, diesen auszuleben, gegen sich und andere?
## So destruktiv wie möglich
Und schon geht es leichter. Auch kommen mir die Adventszeit, Weihnachten
und vor allem Silvester bei der Selbstzerstörung sehr entgegen. Ein Anlass
jagt den nächsten, ob es sich häufende private Treffen sind oder
Weihnachtsfeiern, diese spritverseuchten Hochämter der besinnungslosen
Niedertracht. Und wenn ausnahmsweise einmal keins von beidem anliegt,
findet sich mit wenig Fantasie und reichlich üblem Willen immer noch ein
Weg, das Jahr so destruktiv wie möglich zu beschließen. Denn eigens dafür
gibt es die zahlreichen, täglich geöffneten Weihnachtsmärkte – mit einem
Besuch dort lässt sich die angestrebte Schädigung von Körper, Geist und
Seele jederzeit bequem erreichen.
Auf den Märkten trinkt man zum Teil sogar mit Leuten zusammen, die ganz
klassisch gute Vorsätze fürs neue Jahr beschlossen haben. Jetzt wollen
diese Dünnbrettbohrer es vorher noch einmal krachen lassen. Sie blicken auf
uns herab, als wären sie weiß Gott was Besseres. Dabei sind wir viel
konsequenter und ehrlicher als sie. Auch härter: Uns erwartet ein
verfrühter Tod nach einem ungesunden Leben in gesellschaftlicher Ächtung.
Ich wäre auch gern beliebt und äße gern mehr Obst. Ich liebe Obst und
Gemüse. Aber der schamlose Opportunismus, den man benötigt, um tumben
Maultieren gleich die ausgetretenen Pfade des sogenannten Wohlverhaltens
dahinzuzuckeln, ist nun mal nicht jedem gegeben. Oft gibt es an den
Glühweinbuden Massenschlägereien zwischen uns und den Vorsatzheinis. Die
Polizei schaut meistens weg.
## So windig wie nötig
Idealerweise sollten die schlechten Nachsätze nicht an Neujahr enden, sonst
könnten wir ja auch gleich gute Vorsätze fassen wie so windige
Charakterschweine. Da steht das eigene Durchhaltevermögen gehörig auf dem
Prüfstand. Hat man doch jahrelang über die Wendehälse gespottet, die im
Dezember zwar fanatisch keinen Sport getrieben, Unmengen Alkohol getrunken
und Dreck gefressen, fremdgevögelt, gelogen und andere gewissenhaft
verletzt haben, nur um spätestens am zweiten Januar sämtliche schlechten
Nachsätze über Bord zu werfen. Als wäre nichts gewesen, joggen diese
Andenturnbeuteldenker wieder durch den Park, sind freundlich zu allen
Menschen, und knallen sich Fenchel-Anis-Kümmel-Tee hinter die Binde.
Das ist weder nachhaltig noch redlich. Einzig die Lüge bleibt kollateral
von den vollmundigen Ankündigungen übrig, fortan alles schlechter zu
machen. Hier zeigt sich: große Schnauze und nichts dahinter. Nur dem, der
den negativen Drive nachweislich selbst gegen größte Widerstände wie
Frühling oder Sommer, Verliebtheit, Erfolgserlebnisse und Anfälle guter
Laune durchzuhalten versteht, wird man seine schlechten Nachsätze auch in
Zukunft als das verheißungsvolle Versprechen abnehmen, unsere Welt wieder
ein kleines Stückchen schlechter zu machen.
Solltet ihr also zurzeit so jemandem begegnen und vorschnell urteilen, „Was
für ein Granatenarschloch“, dann denkt daran: Bestimmt ist hier einfach nur
eine besonders prinzipienfeste Person dabei, ihre schlechten Nachsätze
akribisch einzuhalten. Respektiert das bitte schön, und macht ihr das Leben
nicht auch noch schwerer.
15 Dec 2023
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Vorsätze
Neujahr
Moral
wochentaz
Augenoperation
Regierung
Weihnachten
Optiker
Abschiebung
Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gute Vorsätze: Neues Jahr, neues … Ach, egal!
Wir alle schlagen uns mit Dingen herum, die wir gerne ändern würden. Doch
das ist oft schwieriger als gedacht. Fünf Geschichten vom Scheitern.
Die Wahrheit: Das Geheimnis der Urinsekten
Wenn die Lesefähigkeit beeinträchtigt ist und der notwendige Besuch beim
Augenarzt nur Gutes vorsieht. Ein Ortstermin beim Ophthalmologen.
Die Wahrheit: Knippeln am Deckel
Die Befriedung der Gesellschaft ist erreicht – auch mithilfe der
Verschlusskappen von Tetrapacks oder der allseits beliebten
Steuerklärungen.
Die Wahrheit: Mein erstes Pony
Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: In den dunklen Abgründen eines düsteren
Familienfestes leuchtet mit zwei glühenden Augen ein Licht der Hoffnung.
Die Wahrheit: Der Nahe Osten der Optik
Brille? Fielmann, Apollo oder andere Feinde fürs Leben – ein Guide durch
ein Augen-Minenfeld mit dunklen Hintergedanken und einer Friedensutopie.
Die Wahrheit: Schweinchen Schnuffel muss weg
Abschiebung auf weiche Art: Die Bundesregierung greift endlich „im ganz
großen Stil“ durch und lässt Heimzuführende sanft abtransportieren.
Die Wahrheit: Ewige Kanzelkultur
Seit der Antike wird die Jugend ununterbrochen von starrsinnigen Alten
drangsaliert, die es halt besser wissen. Geändert hat sich da: nichts.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.