| # taz.de -- Die Wahrheit: Mein erstes Pony | |
| > Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: In den dunklen Abgründen eines | |
| > düsteren Familienfestes leuchtet mit zwei glühenden Augen ein Licht der | |
| > Hoffnung. | |
| Wie immer war Weihnachten nicht schön. Mutter war ja gestorben. Die kurzen | |
| düsteren Tage, hingeworfene Brosamen aus der finstersten Hölle, | |
| verrichteten ihr Tun freudlos wie unglückliche Straßenprostituierte. Im | |
| Grunde war das ganze Jahr schon scheiße gewesen. | |
| Auf dem Weg von der Busendhaltestelle zu der zwischen Industrie-brachen und | |
| Armenfriedhöfen gelegenen Bruchbude, in der mein alter Vater „lebte“, | |
| schnappten tollwütige Riesenratten nach meinen Hosenbeinen, ehe sie heiser | |
| hustend im kalten Nebel verschwanden. Fröstelnd schlug ich den Mantelkragen | |
| hoch und versuchte, mich zu erwärmen, indem ich an die Weihnachtsfeste | |
| meiner Kindheit dachte. | |
| Beharrlich hatte ich mir jedes Mal ein Pony gewünscht, obwohl wir wenig | |
| Geld hatten. So gab es bei uns nur entweder zu essen oder zu trinken – das | |
| konnten wir uns am Morgen jeweils aussuchen und auf einer Liste eintragen. | |
| Bloß zu Weihnachten gab es ausnahmsweise beides. | |
| Und es gab sogar Geschenke. Ich bekam meist eine volle Mülltüte überreicht, | |
| die ich aber gleich nach draußen in die Tonne bringen musste. Die Gabe war | |
| eher symbolischer Natur. Ebenso bei meinen Geschwistern, die kunstvoll | |
| gerollte Popel, Gutscheine für eine Tracht Prügel oder eine Unze Hausstaub | |
| kriegten. Stumm weinte ich in mich hinein: Schon wieder hatte ich kein Pony | |
| bekommen. | |
| Weihnachten 1953 erlebte ich dann jedoch die schönste Überraschung meines | |
| Lebens. Unter dem Weihnachtsbaum stand, eingewickelt in silbrigen | |
| Stacheldraht, doch tatsächlich ein Pony. Es hatte sechs Beine, | |
| kohlrabenschwarzes Fell, und in dem bösen Gesicht funkelten wie glühende | |
| Kohlen zwei tückische kleine Augen. Es schnaubte verächtlich und scharrte | |
| mordlustig mit den Hufen: Golden Spoon war ein klassisches | |
| Systemsprengerpony. | |
| Nicht einmal die große Pferdemetzgerei Strubel am Ortsrand, an deren Pforte | |
| es der verzweifelte Vorbesitzer bei Nacht und Nebel angebunden hatte, war | |
| mit ihm fertig geworden. Im Gegenteil hatte es sich im Schlachtraum | |
| losgerissen und sich derart rabiat gewehrt, dass die Mitarbeiter panisch | |
| das Weite suchten. Zuvor hatte das Pony einem von ihnen das | |
| Bolzenschussgerät entwunden und das gesamte Magazin laut wiehernd auf die | |
| Belegschaft abgefeuert. Denn was keiner wusste: Golden Spoon war ein | |
| direkter Nachkomme des grasfressenden Sleipnir, des kilometerfressenden | |
| Black Beauty, und des Gyros, eines der fleischfressenden Rosse des | |
| Diomedes. Die drei Hengste bildeten eine schwule Patchwork-Familie, in | |
| deren Schutz das kleine Pony sämtliche Freiheiten genoss. Er tollte sommers | |
| froh über die grünen Wiesen, schnupperte an den Blumen und tötete alles, | |
| was sich ihm in den Weg stellte. Seine Väter lobten ihn dafür. | |
| ## Gerüchteküche nach Blutbad | |
| Vielleicht hätte man dem Fohlen doch mehr Grenzen setzen sollen, aber | |
| hinterher ist man immer schlauer. Pferdemetzgermeister Strubel hatte das | |
| Blutbad jedenfalls als Einziger überlebt und war nun gezwungen, sich | |
| beruflich neu zu orientieren. Die Gerüchteküche brodelte. So munkelte man | |
| im Dorf von einem Jobangebot als Wurzelschäler in der Küche eines veganen | |
| Schweigeklosters auf den Nordmolukken. | |
| Doch ehe er auf Nimmerwiedersehen aus der Gegend verschwand, hatte Strubel | |
| noch die kluge und charmante Idee, das Pony einem Kind zu Weihnachten zu | |
| schenken, dessen Eltern sich keines leisten konnten oder wollten: Hier | |
| zeigte der Abdecker noch ein letztes Mal sein wahrhaft großes Herz.Und an | |
| dieser Stelle kamen meine Eltern ins Spiel. Denn da mein Vater als Gehilfe | |
| des örtlichen Tatortreinigers arbeitete, war er einer der Ersten, die von | |
| dem hübschen kleinen Rappen erfuhren, der im Hochsicherheitstrakt des | |
| Dorfzuchthauses auf ein armes Kind wartete, um dessen Weihnachtsgeschenk zu | |
| werden. | |
| Des einen Leid, des anderen Freud. Am Heiligen Abend fiel ich meinen Eltern | |
| weinend um den Hals, eine Gemütsregung, die in unserem Hause überhaupt | |
| nicht vorgesehen war. Zu meiner Geburt sowie zu der meiner Geschwister | |
| erhielt das Neugeborene einen kurzen Händedruck, der bis zum Lebensende | |
| reichen musste. Jede weitere Berührung hätte praktisch schon als | |
| außerehelicher Sex gegolten. Dennoch wirkte Mutter fast gerührt, als sie | |
| ihren Elftgeborenen so außer sich vor Glück erlebte. Das merkte ich daran, | |
| dass ihre Maulschelle beinah zärtlich ausfiel. | |
| Im Schein der Kerzen aus Wespenwachs sangen wir zusammen: „Großer Gott, wir | |
| loben dich.“ Anschließend wurde die Brennnesselsuppe aufgetragen, dazu gab | |
| es für jeden ein schönes Glas Wasser aus der Regentonne. Und endlich | |
| durften wir mit unseren Geschenken spielen. Die Mülltüte hatte diesmal mein | |
| Bruder Klünter bekommen. Das Pony ritt auf mir um den Weihnachtsbaum und | |
| gab mir mit den scharfen Hufen seiner drei Hinterbeine ordentlich die | |
| Sporen. „Hüh“, wieherte es, „hüh!“ Wenn ich mich dagegen gewehrt hät… | |
| hätte es mich garantiert sofort getötet. Trotzdem liebte ich es auf Anhieb | |
| mehr als alles andere in der Welt: mein erstes eigenes Pony! | |
| ## Humpeln nach Zehenfraß | |
| Es sollte mit mir im Kinderzimmer wohnen, denn für einen Stall hatten wir | |
| kein Geld. In meinem Bettchen bereitete ich meinem bösen Liebling ein | |
| weiches Lager. Er fraß erst das Kopfkissen aus Stroh und dann drei meiner | |
| Zehen, weshalb ich bis heute humple wie Reinhold Messner: Daran erinnerte | |
| ich mich nun, während ich die Gartentür zum Anwesen meines nahezu | |
| hundertjährigen Vaters aufdrückte. | |
| Ich besuchte ihn stets an runden Jahrestagen, und heuer war es wieder mal | |
| so weit: Vor exakt siebzig Jahren hatte Mutter am Weihnachtsmorgen den | |
| Fehler begangen, ohne anzuklopfen, die Tür des Kinderzimmers zu öffnen, | |
| hinter der, gebettet auf meinen mageren Knabenkörper, mein neues Pony | |
| schlief. Immerhin dürfte sie nicht lang gelitten haben – vom Zustand ihrer | |
| Leiche zu schließen, muss der Tod in Sekundenschnelle eingetreten sein. Sie | |
| war nur 26 Jahre alt geworden. | |
| Als Vater gebackene Fichtenzapfen auf drei Teller verteilte, trabte Golden | |
| Spoon in die Küche. Gleich mir war er in der Zwischenzeit völlig ergraut. | |
| Sein einst so lebhaftes, wiewohl nicht unproblematisches Temperament war | |
| tiefer Güte und Weisheit gewichen – die ayurvedische Lobotomie nach Dr. | |
| Precht hatte erfolgreich sein Mütchen gekühlt. Gemeinsam warteten wir auf | |
| den Weihnachtsmann. Hoffentlich würde er klopfen, denn wenn jemand einfach | |
| so ins Zimmer platzte, konnte das Pony weiterhin komplett ausrasten. | |
| 23 Dec 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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