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# taz.de -- Scholz und seine Augenklappe: Er sieht nicht in die Tiefe
> Die Augenklappe macht aus Olaf Scholz keinen tollkühnen Kerl. Im
> Gegenteil: Sie illustriert sein Problem – er hat einfach keine Vision.
Bild: Olaf Scholz, verletzt
Politik ist geronnene Milch. Schlagwörter und aus dem Zusammenhang
gerissene Sätze, Bilder, die ikonisch werden, Symbole und Metaphern spielen
eine größere Rolle als Inhalte. Ploppt so etwas auf wie [1][die Dackel auf
Alexander Gaulands Krawatte], ist ein Siegeszug durch die Medien gewiss.
Ein Siegeszug des Nichts.
„Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / Die
Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? / Wer wird sich den Schädel
zerbrechen / über so überflüssige Dinge -“, schreibt Ingeborg Bachmann in
den 1960er Jahren [2][in dem Gedicht „Keine Delikatessen“].
Die Antwort auf Bachmanns Frage ist klar: Die Bundesbürgerinnen und -bürger
zerbrechen sich die Schädel darüber. Gerade wieder über eine weitere
unwichtige Metapher, die dieser Sommer noch bereithält: die Augenklappe von
Scholz. Sie soll, das lassen sich die Leute medial vorkauen, diesen Mann
heben. Der Bundeskanzler als Pirat, als Freibeuter, gar als Gesetzloser.
Der Bundeskanzler als verwegener, risikofreudiger, waghalsiger,
draufgängerischer, tollkühner Bursche. Manche setzen ihm im Internet gar
einen [3][Papagei auf die Schulter].
Und weil dem so ist, attestieren sie dem Einäugigen in der Generaldebatte,
die diese Woche stattfand, [4][nun Angriffslust]. Es reicht, wenn er Worte
wie „Popanz“ (gegen Friedrich Merz) und „Abbruchkommando“ (gegen die Af…
schleudert.
Ingeborg Bachmann hat recht: Unwichtigeres gibt es nicht.
Aber jetzt, wo die Augenklappe in der Welt ist, müsste doch ein ganz
anderer Zusammenhang als der des Piraten herausgeschrien werden. Nämlich
der, dass bei Leuten, die auf einem Auge blind sind, das räumliche Sehen
eingeschränkt ist. Sie sehen nicht in die Tiefe.
Gut, das Hirn kann diesen Mangel ansatzweise ausgleichen. Fraglich, ob bei
Olaf Scholz auch. Denn sein politisches Auftreten rutschte die ersten zwei
Jahre seiner Regentschaft eher an der Oberfläche entlang. Er sieht auch mit
zwei Augen nicht in die Tiefe, konfrontiert nicht mit dem, was hinter den
Dingen liegt: hinter dem Klimawandel, dem Erstarken der Rechten, dem Krieg,
der sozialen Verwerfung, [5][dem Sterben im Mittelmeer]. Scholz äußert sich
nicht, und wenn doch, auf eine Art, dass sofort vergessen wird, dass er den
Mund je öffnete. Seine „Zeitenwende“ ist nur noch Schlagwort.
Wo sind seine Visionen von einer besseren Gesellschaft, wie gelingt es ihm,
die Menschen anzusprechen, und zwar so, dass sie an seinen Lippen hängen,
ihm abnehmen, dass er der Richtige ist, dem sie Verantwortung übertrugen?
Als [6][Martin Luther King seine Traum-Rede hielt], die bis heute unter die
Haut geht, wollte er alle mitreißen, auch seine Gegner*innen. Scholz
dagegen lullt ein.
Der Klimawandel etwa, diese Bedrohung allen Lebens, findet in seinem Reden
nicht als Bedrohung statt, sondern als etwas, das Folgen hat, die man
abfedern muss. Hätten seine Reden Schlagkraft, würde er den Menschen sagen,
was mit dem Klimawandel auf sie zukommt. Würde sagen, dass wir, wenn wir
solidarisch zusammenhalten, dieses Riesenproblem gemeinsam lösen. „I have a
dream …“
Scholz würde die FDP zur Räson bringen und die Grünen bei ihren Bemühungen
um Klimaschutz laut und öffentlich stärken. Stattdessen lässt er sich von
der Rhetorik der CDU treiben, die sich wiederum die Agenda der Rechten zu
eigen macht. Statt das tollkühn zu entlarven, schlottern ihm die Knie
angesichts von Sonntagsfragen.
Wer sagt denn, dass die Bürger*innen, auch die Wutbürger*innen, nicht
verstehen würden, wenn da jemand stünde, der ihnen mit Emphase und mit
Empathie erklärte, dass am Schutz des Klimas nichts mehr vorbeigeht? Oder
dass sie von der Arbeit der MigrantInnen in Deutschland profitieren? Oder
dass sie, wenn die AfD politische Macht hätte, angesichts deren
wirtschaftlicher Ideen die VerliererInnen wären?
Der Klimawandel, die soziale Ungleichheit, die Demontage der Demokratie
sind Fakten, selbst wenn man sie nicht sieht. Die Augenklappe aber ist ein
Fake und macht Scholz nicht stärker, obwohl sie da ist.
8 Sep 2023
## LINKS
[1] /Herrenmode-fuer-die-Neue-Rechte/!5723745
[2] http://www.ingeborg-bachmann-forum.de/ibkd.htm
[3] https://www.der-postillon.com/2023/09/arrrr.html
[4] /Generaldebatte-im-Bundestag/!5958701
[5] /Bootskatastrophe-auf-Fluchtroute/!5941300
[6] https://www.youtube.com/results?search_query=i+have+a+dream+martin+luther+k…
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Olaf Scholz
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Transformation
Schwerpunkt Klimawandel
Kolumne Der rote Faden
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Generaldebatte
Haushalt
Schwerpunkt Rassismus
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