# taz.de -- Games im Schulunterricht: Super Mario als Mathelehrer | |
> Manche Lehrkräfte nutzen Computer- und Videospiele im Unterricht. Das | |
> kann Schüler:innen das Lernen erleichtern, zeigt ein Berliner | |
> Modellprojekt. | |
Bild: „It's-a me, Mario!“ Games können Kinder motivieren, die sonst in der… | |
BERLIN taz | Super Mario düst mit Vollgas über die Rennstrecke. Der | |
Bananenschale, die ein:e Mitspieler:in platziert hat, kann er noch | |
ausweichen. Dann aber trifft ihn ein dunkelblauer Schildkrötenpanzer, und | |
die anderen Fahrer:innen rauschen an ihm vorbei. Seine Führung ist Super | |
Mario los. | |
In dem Game „Mario Kart Tour“ erhalten Spieler:innen Gegenstände wie | |
Bananenschalen, Turbopilze oder eben Schildkrötenpanzer. Die sind mal mehr | |
und mal weniger nützlich. Und diese Gegenstände erscheinen nicht zufällig, | |
sondern nach festen Wahrscheinlichkeiten: Weiter vorne liegende | |
Fahrer:innen erhalten schlechtere Items als jene weiter hinten im Feld. | |
Genau diesen Zusammenhang sollten Schüler:innen an der Berliner | |
Gesamtschule Campus Efeuweg erkennen und berechnen – in einer regulären | |
Mathestunde. 16 Klassen an zehn Berliner Schulen nahmen Ende 2021 an dem | |
Modellprojekt der Initiative „[1][Games machen Schule]“ teil. Geplant und | |
durchgeführt wurde es von der Stiftung Digitale Spielekultur. | |
Als Luciano Sbaraglia davon hörte, war er begeistert. Der Lehrer meldete | |
sich mit seiner 8. Klasse vom Campus Efeuweg an. Seit vier Jahren arbeitet | |
er an der Brennpunktschule im Berliner Neubaubezirk Gropiusstadt mit etwa | |
750 Schüler:innen. Games begleiten Sbaraglia schon sein ganzes Leben. | |
Als Jugendlicher spielte er das Strategiespiel „Civilization“ und | |
begeistert sich seitdem für Geschichte – so sehr, dass er später | |
promovierte und Historiker wurde. | |
## Keine Widerstände gegen Games aus Kollegium | |
Nun unterrichtet er [2][als Quereinsteiger] die Fächer Geschichte und | |
Mathe. Games sollten Teil des Unterrichts werden, findet Sbaraglia: „Sie | |
sind ein Kulturgut wie Bücher und Filme, werden aber leider noch nicht | |
überall akzeptiert. Als Teil der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern | |
sollte man sie auch im Unterricht abbilden.“ Im Kollegium wurde das Projekt | |
laut Sbaraglia intensiv besprochen, „es gab keine Widerstände dagegen“. | |
Also setzten Sbaraglia und andere Lehrer für acht Schulstunden Games im | |
Mathe- und Geschichtsunterricht ein. In Geschichte etwa nutzen sie das | |
Strategiespiel „Brass“, das auf einem Brettspiel basiert. Darin schlüpfen | |
Spieler:innen in die Rolle eines Unternehmers, der während der | |
industriellen Revolution so viel Geld wie möglich verdienen will. Die | |
grafische Umsetzung faszinierte die Schüler:innen, sagt Sbaraglia. | |
Allerdings setzt das Spiel sehr viel Vorwissen voraus. | |
„Ich glaube nicht, dass das Game die industrielle Revolution den | |
Schülerinnen und Schülern nachhaltig nähergebracht hat“, resümiert | |
Sbaraglia. „Das ist aber auch ein allgemeines Problem.“ Die Vorauswahl der | |
richtigen Spiele sei wichtig, um einen Lernerfolg zu erzielen. Begeistert | |
hingegen waren die Schüler:innen von „Mario Kart Tour“ in Mathe, bei dem | |
sich sonst auch eher passiv auftretende Jugendliche stärker einbrachten, | |
sagt Sbaraglia. „Es war eine sehr gute Lernerfahrung: vor allem der | |
Einfall, Statistik mithilfe von ‚Mario Kart Tour‘ zu vermitteln.“ | |
## Datenbank für Lehrkräfte | |
Entwickelt wurden die Game-Unterrichtseinheiten um Mario und Co. von Jan | |
Boelmann und Lisa König. Der 42-jährige Boelmann ist Direktor des | |
Freiburger Zentrums für didaktische Computerspielforschung, das er zusammen | |
mit der Literatur- und Mediendidaktikerin Lisa König leitet. Seit 15 Jahren | |
erforscht er, wann und wie der Einsatz von Games im Unterricht sinnvoll | |
ist. | |
Am Zentrum gibt es Fortbildungen für interessierte Lehrkräfte. Aber auch | |
Entwickler:innen wenden sich mit ihren pädagogischen Spielideen an | |
Boelmann und König. „Wir kommen mit den Anfragen nicht hinterher“, sagt | |
Boelmann. Für den Unterricht geeignete Games wandern [3][in die Datenbank], | |
die mittlerweile prall gefüllt ist. Sie soll Lehrkräften den Zugang | |
erleichtern. | |
Mehr als 130 Games sind darin enthalten, dazu gibt es Tipps, für welche | |
Fächer und Jahrgangsstufen die Titel geeignet sind. So würde sich das | |
Action-Adventure „Firewatch“ etwa für Deutsch, Englisch und Ethik eignen. | |
Darin steuern Spieler:innen einen einsamen Parkwächter im | |
Yosemite-US-Nationalpark und klären rätselhafte Vorkommnisse auf. „Es geht | |
hier nicht ums bloße Zocken, sondern um konkrete Kompetenzen, die | |
vermittelt werden sollen“, sagt Boelmann. | |
Auch abseits des Berliner Modellprojekts nutzen Lehrer:innen Games im | |
Unterricht. An der Staatlichen Gemeinschaftsschule Kulturanum in Jena | |
entdecken Schüler:innen das antike Griechenland im Game „Assassin’s | |
Creed Discovery Tour“. Auch Aïsha Hellberg unterrichtet mit Games am | |
Max-Planck-Gymnasium im baden-württembergischen Lahr. Das Adventure-Game | |
„The Stanley Parable“ verwendet sie im Philosophieunterricht im | |
Zusammenhang mit den Themen Willensfreiheit und Existenzialismus. In dem | |
Game steuert man den namensgebenden Stanley durch ein menschenleeres | |
Bürogebäude; die Aktionen des Spielers kommentiert ein Erzähler, der auch | |
immer wieder Einfluss nimmt. | |
## Eine Handreichung für Games im Deutschunterricht | |
Im August [4][erscheint von Hellberg im Westermann-Verlag] eine | |
Handreichung zu Games im Deutschunterricht. „Es handelt sich um drei | |
narrative Computerspiele, die sich besonders für den Literaturunterricht | |
anbieten“, sagt sie. Das Point-and-Click-Adventure „Ceville“, die | |
Coming-of-Age-Geschichte „Life is Strange“ und das bereits erwähnte „The | |
Stanley Parable“. Allen Modulen ist laut Hellberg gemein: „Sie schulen | |
klassische Kompetenzen, Methoden und Schreibformen des Deutschunterrichts | |
mit dem Medium Computerspiel.“ | |
Das Hineinschlüpfen in andere Rollen hält auch Jan Boelmann für den | |
Unterricht geeignet. Ein Highlight ist für ihn das Strategiespiel „Through | |
the darkest of Times“. Darin steuert man eine Gruppe Widerständler in der | |
Nazi-Diktatur. „Das Game hilft Schüler:innen wunderbar dabei, in die | |
Rolle von jemand anderem zu schlüpfen. Und das weniger abstrakt als auf | |
einem Arbeitsblatt“, sagt Boelmann. Im Spiel wird man etwa Zeuge eines | |
Übergriffs von SA-Schergen auf einen Rabbi. Ob man eingreift oder nicht, | |
bleibt den Spieler:innen überlassen. „Es zeigt, wie komplex und | |
schwierig der Alltag der Menschen war. Schüler:innen können das dann | |
zumindest ansatzweise nacherleben.“ | |
Historische Szenarien sind auch in anderen Games beliebt. Seit 2007 | |
veröffentlicht der französische Hersteller Ubisoft seine „Assassin’s | |
Creed“-Reihe. Darin wandern Spieler:innen frei durch nachgebaute | |
historische Landschaften wie das antike Griechenland oder das alte Ägypten. | |
Für den Schulunterricht hat Ubisoft [5][„Discovery Touren“ als | |
eigenständige Ableger entwickelt]. Textkästen erläutern, welche Rolle | |
Gegenstände und Artefakte in der antiken Gesellschaft gespielt haben. | |
Kämpfe gibt es in dieser gewaltfreien Version nicht. Laut Ubisoft waren an | |
der Entwicklung auch Historiker:innen beteiligt. | |
Angela Schwarz von der Universität Siegen begrüßt Ubisofts Initiative. Sie | |
ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte und forscht unter anderem | |
dazu, wie populäre Geschichte in Games umgesetzt und gemacht wird. „So | |
etwas Abstraktes wie Vergangenheit lebendig zu machen ist faszinierend und | |
unterhaltsam“, sagt die Wissenschaftlerin. Skeptisch ist sie, wenn die | |
„Discovery Touren“ als alleiniges Lernmittel für historische Inhalte etwa | |
in der Schule eingesetzt werden. „Man darf nie vergessen, dass ein Spiel | |
die Basis bildet, also eine Inszenierung. Und inszeniert wird darin nicht | |
akademische Geschichte, sondern populäre Geschichte“, sagt Schwarz. | |
Populärgeschichte zielt auf eine breite Leserschaft ab und legt den | |
Schwerpunkt auf lebendige Details und eine stringente Erzählung im | |
Gegensatz zur Geschichtswissenschaft. Ubisoft hat in Zusammenarbeit mit der | |
McGill-Universität im kanadischen Montreal [6][eigene Unterrichtseinheiten | |
und Leitfäden entwickelt]. Dabei gibt es auch Unterrichtsstunden, in denen | |
Schüler:innen ohne Betreuung die Welt erkunden können. Angela Schwarz | |
ist skeptisch: „Wenn die ‚Discovery Touren‘ im Unterricht eingesetzt | |
werden, geht es nicht ohne Fachkraft.“ | |
## Kein WLAN und alte Rechner an vielen Schulen | |
Neben der ständigen Betreuung ist auch die technische Ausstattung an | |
deutschen Schulen eine Herausforderung. An fast allen Standorten gibt es | |
einen Sanierungsstau, ein akuter Personalmangel trifft auf veraltete und | |
marode Strukturen, weshalb Lehrkräfte zu einem bundesweiten Protesttag am | |
23. September aufgerufen haben. Alte Schulrechner sind von modernen Games | |
schnell überfordert und flächendeckendes WLAN gibt es auch in Städten nicht | |
immer. Mitarbeiter:innen des Modellprojekts mussten sogar eigene | |
WLAN-Router und Tablets mitbringen. | |
Am Campus Efeuweg sei die digitale Ausstattung hingegen sehr gut, sagt | |
Luciano Sbaraglia. Es gibt Smartboards, Tablets und flächendeckendes WLAN. | |
Ein Problem sei aber auch hier fehlendes IT-Personal. Das Aufspielen und | |
Warten der Games beim Modellprojekt wurde deshalb von den Lehrkräften | |
gestemmt. | |
„Alles, was man im Unterricht machen will, bleibt als Aufwand am Lehrer | |
kleben, das wird nicht vergütet oder honoriert“, kritisiert Sbaraglia. Ein | |
weiteres Problem: Games sind oft nicht offiziell als Unterrichtsmaterialien | |
anerkannt, weshalb im Zweifel die Schule oder die Lehrer:innen die | |
Spiele kaufen müssen. Ohne die zusätzlichen Mittel durch das Modellprojekt, | |
glaubt Sbaraglia, hätte er Games zumindest in seiner Klasse nicht einsetzen | |
können. | |
Aktuell laufen Gespräche über ein Nachfolgeprojekt zwischen der Stiftung | |
Digitale Spielekultur und der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend | |
und Familie. Das Projekt sei in Planung, konnte aber noch nicht finanziert | |
werden. Sollte es in die zweite Runde gehen, will Luciano Sbaraglia auf | |
jeden Fall wieder teilnehmen. „Dann würde ich darauf achten, eine noch | |
bessere Auswahl zu treffen, und auf ‚Brass‘ eher verzichten.“ „Mario Ka… | |
Tour“ will er aber auf jeden Fall wieder dabeihaben. | |
6 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/project/games-schule-unterric… | |
[2] /Mangel-an-Lehrerinnen-in-Berlin/!5877782 | |
[3] https://zfdc.ph-freiburg.de/spieledatenbank/ | |
[4] https://www.westermann.de/artikel/978-3-14-108010-0/EinFach-Deutsch-Unterri… | |
[5] https://www.ubisoft.com/de-de/game/assassins-creed/discovery-tour | |
[6] https://www.ubisoft.com/en-gb/game/assassins-creed/discovery-tour/curriculu… | |
## AUTOREN | |
Denis Gießler | |
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