Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erinnerung an die „Göttinger Sieben“: Gedanklicher Denkmalsturz
> Sieben Professoren der Uni Göttingen begehrten vor 185 Jahren gegen ihren
> König auf. Christiane Möbus hat ihnen ein Denkmal gesetzt.
Bild: Clever dekonstruiert: Bildhauerin Christiane Möbus 2014 vor (damals noch…
Tritt man in Hannover zur City-Seite aus dem Bahnhof heraus, landet man auf
dem Ernst-August-Platz. Dort steht im Zentrum, wenig verwunderlich,
wenngleich zugemüllt von Kiosken, Sonnenschirmen und anderen sogenannten
fliegenden Bauten, ein Reiterstandbild des Namensgebers.
Nein, es gilt nicht dem als Prügel- oder Pinkelprinzen bekannten
derzeitigen Oberhaupt [1][der Welfen], sondern seinem Ahnherrn Ernst August
I (1771–1851). Dieser Mann, mit komplettem Titel Herzog von
Braunschweig-Lüneburg, Duke of Cumberland and Teviotdale und Earl of
Armagh, war ein [2][britischer Prinz aus dem Hause Hannover] und wurde
1837, mit 66 Jahren, König von Hannover.
Dieser Landesvater war reaktionär. Obwohl er ab 1786 sogar in der Obhut des
Freigeistes Georg Christoph Lichtenberg kurzzeitig an der Universität
Göttingen studiert hatte, blieb Ernst August von stockkonservativem
Gedankengut beseelt. Seine erste Amtshandlung bestand dann darin, das recht
freiheitliche Staatsgrundgesetz wieder zu kassieren: eine Art Verfassung
des Königreichs Hannover, das sein Amtsvorgänger erst 1833 erlassen hatte.
Dagegen protestierten sieben Professoren der Universität Göttingen, unter
ihnen die beiden Sprachforscher und Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm.
Sie teilten mit (und ließen publizieren), sich weiterhin einzig an ihren
auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid gebunden zu fühlen. Alle
„Göttinger Sieben“, in den Augen des Herrschers „Federvieh der
Tintenkleckser“, wurden ihrer Ämter enthoben, drei des Landes verwiesen.
Sie kehrten, meist andernorts, in akademische Würden zurück.
## Protest gegen Backlash
Es dauerte dann rund 130 Jahre, bis sich im jungen Bundesland Niedersachsen
wie in dessen Hauptstadt die Idee eines Denkmals für die Göttinger Sieben,
immerhin ja ehrenwerte Vorkämpfer einer deutschen Demokratie, in den Köpfen
verankerte. Als Standort eines, dann gleich zum „Landesdenkmal“ oder
„Niedersachsen-Wahrzeichen“ erhobenen Monuments wurde ein Platz direkt
neben dem Landtag in Hannover ins Auge gefasst.
Dazu musste allerdings ein kaum kriegsbeschädigtes Bauwerk zur Regulierung
der Leine, dem örtlichen Wasserlauf, abgebrochen werden: die
„Flusswasserkunst“ – was unter heftigem Protest der Bevölkerung geschah.
Ironie der Geschichte: Der Platz musste während anschließender U-Bahn- und
sonstiger Tiefbaumaßnahmen in der Innenstadt dann ausgerechnet dem Ernst
August gewidmeten Reiterstandbild Asyl bieten.
Richtig Fahrt nahm die Idee eines Denkmals für die Göttinger Sieben erst im
Vorfeld der [3][„Expo 2000“] auf; unter 30 eingeladen Künstler:innen
wurde 1993 ein internationaler Wettbewerb abgehalten. Die Jury, vornehmlich
aus Politiker:innen, entschied sich für eine Art barocke Bühnenszenerie mit
naturalistischen, [4][übermenschlich großen Bronzeplastiken] des
italienischen Kirchenbildhauers Floriano Bodini. Sie wurde 1998
fertiggestellt und präsentiert sich seitdem als der Aufgabe nicht
gewachsen.
Von all dem war man in Göttingen, dem eigentlichen Ort des Wirkens der
Sieben, nicht angetan. Eine von mehreren lokalen Abhilfen bestand 2011 in
der Spende eines Denkmals für den zentralen Uni-Campus durch den örtlichen
Verleger anspruchsvoller Kunst- und Literaturbände, [5][Gerhard Steidl]. Da
er auch die Weltrechte am Werk von Günter Grass hält, wurde dieser als
Bildhauer tätig. Sein großes G, verschlungen mit der Ziffer 7, beides in
vorkorrodiertem, dickem Stahlblech gefertigt, vermag in seiner Reduktion
ebenfalls nicht recht zu überzeugen – zudem führen Assoziationen zum
Industrienationen-Zusammenschluss G7 in die Irre.
2013 traten neuerlich private Spender auf den Plan, dazu [6][die Stiftung
Niedersachsen], die laut ihrem Leitbild „kritische Reflexionen einer
vielfältigen Gesellschaft“ fördert. Man entsann sich eines Beitrags der
Hannoveraner Bildhauerin Christiane Möbus aus dem Wettbewerb von 1993. Ihre
Idee war so einfach wie überzeugend gewesen und ließ sich perfekt nach
Göttingen bringen: eine exakte Replik des Sockels des Ernst-August-Denkmals
vom Hannoveraner Bahnhofsplatz, gar im Material aus dem historischen
Steinbruch, nun aber vor dem Göttinger Bahnhof. Das ganze versehen mit der
alternativen Widmung der Göttinger Sieben an den Landesvater plus Möbus’
eigenem Namen – aber, und das ist der Clou: ohne Pferd oder reitenden
Herrscher.
Natürlich provozierte dieser Vorschlag allerlei Bedenken, besonders dass
die Künstlerin sich als Achte zu den Göttinger Sieben zu gesellen
ermächtigte, wurde als Anmaßung oder Hybris gesehen. Und doch genehmigte
der kommunale Ausschuss für Kultur und Wissenschaft 2014 die Annahme der
Schenkung, und im November 2015 wurde [7][das Denkmal selbst] übergeben.
## Relevanz stabil
Nun müssen Denkmäler immer wieder ihren gedanklichen Bestand in der
Gegenwart beweisen: Wie weit ist das Ereignis, an das sie erinnern, eines
Gedenkens weiterhin würdig? Und vor allem: wie gesellschaftlich relevant?
Das scheint beim Göttinger Denkmal in mehrfacher Hinsicht gegeben.
Demokratie und auch die Freiheit der Wissenschaften sind ja keine
Selbstläufer; sie fordern, wie aktuell weltweit Beispiele zeigen, immer
wieder den Mut persönlichen, mitunter existenziellen Risikos.
So initiiert Möbus’ subtiler und vollkommen gewaltfreier Denkmalsturz,
besonders auch in seiner beiläufig peripheren Positionierung auf dem
Göttinger Bahnhofsplatz, den Dialog über eine räumliche wie historische
Distanz, zu den Grundfesten der Demokratie, gar mit feministischer Pointe.
Und: Die Kunst als eine Disziplin des Denkens vermag sehr wohl anderes zu
liefern als Fragwürdigkeiten [8][im öffentlichen Raum].
9 Aug 2023
## LINKS
[1] /Welfen-Ausstellung/!5158962
[2] /Archiv-Suche/!306792
[3] /Archiv-Suche/!529749
[4] /Denkmal/!5152291
[5] /Gerhard-Steidls-Kunsthaus-Goettingen/!5814377
[6] https://www.stnds.de/
[7] /Archiv-Suche/!5255190
[8] /!s=%2522kunst+im+%25C3%25B6ffentlichen+raum%2522/
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Hannover
Göttingen
Universität Göttingen
Gedenken
Kunst
Niedersachsen
Feminismus
Denkmäler
## ARTIKEL ZUM THEMA
Feministinnen besprühen Skulptur: Frauenskulptur als Propagandacoup
Aktivistinnen haben Hannovers Königinnendenkmal von 1910 besprüht. Es
würdige nicht die Frauen, sondern nur deren Funktion im Politik-Geschäft.
Peinliche Denkmäler: Steine des Anstoßes
Die Bürgerinitiative Braunschweig (Bibs) fordert, sämtliche Denkmäler der
Stadt kritisch zu bewerten. Drei gelten als besonders problematisch.
Denkmal: Die umstrittenen Sieben
Die Knigge-Gesellschaft fürchtet, die Bronzeskulpturen der "Göttinger
Sieben" könnten der Umgestaltung des Niedersächsischen Landtages zum Opfer
fallen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.