| # taz.de -- Nach Protesten in Belarus: Das erstarrte Land | |
| > Drei Jahre sind die Proteste gegen das Regime in Belarus her. Bei vielen | |
| > war damals die Hoffnung groß – nun dominiert die Resignation. | |
| Bild: Hoffen auf ein Ende von Diktator Lukaschenko: Protest von Frauen in Minsk… | |
| Minsk taz | Die Frauen, die sich an diesem Sommertag auf dem zentralen | |
| Markt von Minsk versammelt haben, tragen weiße Oberteile. In ihren Händen | |
| halten sie Blumen in derselben Farbe. Sie stehen ganz vorne in der | |
| „Menschenkette der Solidarität“ in der belarussischen Hauptstadt. Sie | |
| hoffen auf einen Wandel in ihrem Land, auf ein Ende der Diktatur. | |
| Drei Jahre ist das nun her. Viele von ihnen sind nicht mehr in Belarus. Sie | |
| waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, um dem Gefängnis zu entgehen. Auch | |
| der Baumpfleger Stepan Latypow hatte den Frauen damals Blumen auf dem | |
| „Platz der Veränderungen“ geschenkt. Er sitzt gerade eine Haftstrafe von | |
| achteinhalb Jahren ab. | |
| An diesem Tag im Sommer 2023 ist der Zentralmarkt nur spärlich besucht. Die | |
| Hälfte der Stände hat geschlossen, das Angebot ist überschaubar. Die | |
| Verkäufer*innen bitten, die Einkäufe bar zu bezahlen. Für eine | |
| Transaktion an einem Bankschalter wird eine Provision von rund 5 Prozent | |
| fällig. „Ich weiß gar nicht, ob ich hier noch in einem Monat werde arbeiten | |
| können“, seufzt die Besitzerin eines kleinen Ladens, der auch | |
| EU-europäische Produkte verkauft. Die Sanktionen haben auch ihr Geschäft | |
| getroffen. Ein Kilo Käse für umgerechnet 20 Euro? Bei einem | |
| Durchschnittslohn von 300 Euro können sich das immer weniger leisten. | |
| ## Faktisch vom Kreml besetzt | |
| Es war ein Leben voller Hoffnung, das 2020 kurzzeitig aufblitzte. Jetzt | |
| wirkt alles wie erstarrt. Oder sogar tot. Lächelnde Teenager mit | |
| belarussischen Stickereien auf ihrer Kleidung tanzen nicht mehr auf der | |
| Straße. Dafür laufen betrunkene Gestalten mit der russischen Trikolore auf | |
| ihren Schultern wie Sieger durch Minsk – so wie kürzlich aus Anlass der II. | |
| Spiele der GUS-Staaten. Das Sportfest wird auf der offiziellen Webseite der | |
| Republik Belarus als „vergleichbar mit Europa- und Weltmeisterschaften“ | |
| angepriesen. | |
| Belarus ist faktisch vom Kreml besetzt. Das Land mutet unheimlich, fast | |
| unsichtbar an, als ob die Menschen erstickt seien. Immer mehr | |
| Belaruss*innen denken über Auswanderung nach. Sogar diejenigen, die | |
| sich seit jeher aus der Politik heraushalten. Denn sie sehen keine Chancen | |
| für ihr Business, ihre Entwicklung sowie die Zukunft im Allgemeinen. Hinzu | |
| kommt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Eiserne Vorhang wieder senken | |
| wird, ist keineswegs illusorisch. Ein Schengen-Visum zu bekommen, ist für | |
| Belaruss*innen heutzutage kein leichtes Unterfangen. Man wartet vor den | |
| Botschaften mindestens drei Monate und muss Reisebüros beauftragen, die | |
| viel Geld verlangen. | |
| Doch selbst mit Visum sind Belaruss*innen in der EU unerwünscht. Erst | |
| vor Kurzem startete die litauische Regierung vor den Wahlen im kommenden | |
| Jahr eine Hexenjagd auf sie. Ein Gesetz ist geplant, aufgrund dessen | |
| Russ*innen und Belaruss*innen gleichermaßen inhaftiert und | |
| abgeschoben werden können. Von dieser populistischen Maßnahme des | |
| Präsidenten Gitanas Nausėda waren bereits etwa 1.000 Menschen betroffen. | |
| Laut Schätzungen leben derzeit etwa 60.000 Belaruss*innen in dem | |
| baltischen Land. | |
| Kürzlich fand in Warschau turnusgemäß eine Konferenz des sogenannten Neuen | |
| Belarus statt. Die dort versammelten demokratischen Kräfte, die im Exil | |
| leben, präsentierten das Ergebnis ihrer einjährigen Arbeit: den Entwurf des | |
| neuen Belarus-Passes. Allerdings äußerte sich niemand dazu, ob es | |
| Vereinbarungen darüber gibt, dieses Papier als Dokument anzuerkennen. | |
| Natürlich müssen Lösungen für die Probleme der Menschen her, die | |
| gezwungenermaßen im Exil leben, sowie für die Kinder, die in den | |
| vergangenen drei Jahren in anderen Länder geboren wurden. | |
| ## „In einer Sackgasse“ | |
| Doch ist es nicht viel wichtiger, was die Menschen in Belarus vom Büro der | |
| Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, dem Übergangskabinett und | |
| anderen Strukturen erwarten, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind? | |
| Die Kluft wird jeden Tag größer. Die Belaruss*innen haben aufgehört, | |
| aufeinander zu hören und einander zu verstehen. Ein Freund sagt verbittert: | |
| „Wir, die übrig geblieben sind, sind für sie Menschen zweiter Klasse.“ Se… | |
| drei Jahren hat niemand die Verantwortung übernommen und gesagt: „Wir | |
| stecken in einer Sackgasse.“ Aus diesem Grund wurde auf der Konferenz kein | |
| wirklich schmerzhaftes Thema angesprochen, die Frage der Freilassung | |
| politischer Gefangener etwa. Sie sind vergessen. | |
| Niemand weiß, was jetzt mit Wiktar Babaryka, der 2020 aussichtsreicher | |
| Kandidat für die Präsidentenwahl war, oder der Bürgerrechtlerin Maryja | |
| Kalesnikawa passiert, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Das sind in | |
| Europa immerhin bekannte Namen. Aber was ist mit den Unzähligen, die | |
| niemand kennt? | |
| In der Freiheit gibt es noch Dinge des täglichen Bedarfs. Im Gefängnis sind | |
| eine Garnrolle, eine Seife oder ein einfacher Lippenbalsam von | |
| unglaublichem Wert. Pyjamas aus natürlichen Stoffen sind praktisch wie ein | |
| Luxusauto. Angesichts der Tatsache, dass das Gehalt eines Häftlings in der | |
| Strafkolonie umgerechnet etwa 3 Euro pro Monat beträgt, sind all diese | |
| luxuriösen Dinge nur mithilfe von Verwandten zu bekommen. Aber deren Pakete | |
| kommen nicht immer an. | |
| ## Der erstickte Protest | |
| Der belarussische Protest wurde erstickt, auch in seinem eigenen Blut. | |
| Waren die Opfer umsonst? „Viel Zeit werden sie nicht absitzen müssen“, hie… | |
| es über die ersten Prozesse gegen die Demonstrant*innen. Sie mussten. Wer | |
| konnte, verließ nach der Freilassung das Land. Mit einem kaputten Leben und | |
| einer kaputten Psyche. Andere haben für die Illusion von Veränderungen mit | |
| ihrem Leben bezahlt, wie [1][der Künstler Ales Puschkin, der im Gefängnis | |
| starb.] | |
| Niemand hat behauptet, dass diese Konfrontation nur kurz sein und die | |
| Revolution schnell stattfinden würde. Aber die Zivilgesellschaft wurde | |
| zerstört, Staatschef Alexander Lukaschenko verfolgt gezielt eine Politik | |
| der verbrannten Erde. | |
| Das lässt nichts Gutes erwarten. Die belarussischen demokratischen Kräfte | |
| im Ausland können sich so viel sie wollen auf Wahlen in zwei Jahren | |
| vorbereiten, aber das hat keine Folgen für das Land. Ihren | |
| Vertrauensvorschuss bei den in Belarus Verbliebenen haben sie verspielt. | |
| Erst neulich wurde eine weitere Augenklinik geschlossen: Lukaschenko | |
| braucht ein blindes Volk – Menschen, die ihm blind glauben. | |
| Heute sind die Aussichten für Belarus negativ. Ein winziges Zeitfenster | |
| kann sich nur im Falle einer baldigen Niederlage Putins [2][im Krieg gegen | |
| die Ukraine] öffnen. Sonst wird Belarus nur ein Puffer zwischen dem Westen | |
| und dem Aggressor sein – Verhandlungsmasse, die von Russland verschlungen | |
| wird. | |
| Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
| 16 Aug 2023 | |
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