# taz.de -- Kunst im öffentlichen Raum: Von Blechen und Menschen | |
> Auf dem Kirchvorplatz in Hamburg-St. Georg interagieren rostende | |
> Schiffsbleche und eine mittelalterliche Kreuzigungsskulptur. Eine | |
> Ortsbegehung. | |
Bild: Schiffsbleche erinnern an den Niedergang der Werften | |
HAMBURG taz | Als Erstes denkt man: Das ist Schrott. 24 über-menschhohe | |
rostige Stahlbleche stehen da beieinander, als wären sie zum Plausch | |
verabredet. Vor der evangelischen [1][Dreieinigkeits-Kirche in Hamburg-St. | |
Georg] lümmeln sie auf einem etwas erhöhten Platz herum, einige sind mit | |
Graffiti besprüht. Aber es ist keine geschlossene Gesellschaft: Man kann | |
zwischen ihnen durchgehen, sich dazustellen, wenn man mag. | |
Das soll man auch, soll Tuchfühlung aufnehmen mit dem, was der 1999 | |
verstorbene Künstler Horst Hellinger 1986 inszenierte: ein Mahnmal für den | |
Niedergang der Werftindustrie. Bleche aus abgewrackten Schiffen hat er | |
verarbeitet, so nutzlos geworden wie die zugehörigen Werktätigen. Da stehen | |
sie nun, vom Künstler unvergesslich, fast unvergänglich gemacht: Samt | |
Betonsockel hat Hellinger sie einen Meter tief im Boden verankert; so | |
schnell kriegt man die nicht wieder weg aus dem längst gentrifizierten | |
Viertel hinter dem Hauptbahnhof. | |
Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) hat 2004 mal versucht, die Bleche | |
in den Hafen zu versetzen, wollte lieber mehr Cafés auf dem Platz. Er hat | |
es nicht geschafft. Hellingers Nachlassverwalter drohte mit Klage, auch der | |
Pastor war dagegen, und heute redet keiner mehr davon. Zumal die | |
Installation neue Aktualität bekam in Zeiten des gesundheits- und | |
umweltschädlichen Abwrackens ausgemusterter Schiffe im Globalen Süden. Ganz | |
zu schweigen davon, dass Schiffswrackteile an ganz real ertrinkende | |
Menschen denken lassen, nicht nur im Mittelmeer. | |
Außerdem haben die Bleche 2004 interessante Gesellschaft bekommen: Wenige | |
Meter daneben, vor dem Eingang der im Zweiten Weltkrieg zerstörten, ab 1954 | |
neu errichteten Backsteinkirche steht die Kopie einer bronzenen | |
„Kreuzigungsgruppe“ aus dem Mittelalter: der gekreuzigte Jesus, darunter, | |
trauernd, Mutter Maria und Jünger Johannes, dazu zwei ebenfalls gekreuzigte | |
Verbrecher. | |
## Endpunkt des Kreuzwegs christlicher Wallfahrer | |
Sie stehen auf schmalen Steinsockeln, überragen Mensch und Blech: Die 1490 | |
geschaffene Gruppe musste weithin sichtbar sein, denn sie war Endpunkt des | |
Kreuzwegs christlicher Wallfahrer, der vom Dom in der Innenstadt hierher | |
nach St. Georg führte. | |
Der Zielpunkt war klug gewählt: Die Kirche gehörte zum einstigen | |
Leprahospital, 1194 gestiftet vom Kreuzritter Graf Adolf III. von | |
Schauenberg und Holstein zum Zeichen seiner „christlichen Bußfertigkeit“, | |
genauer: aus schlechtem Gewissen – weil Kreuzritter die Lepra aus dem | |
Orient eingeschleppt hatten. Da sie als unheilbar und sehr ansteckend galt, | |
durften daran Erkrankte St. Georg nicht verlassen und mussten Almosen | |
erbetteln, mit Schellenringen an den deformierten Händen. Angemessen also, | |
eine dem Leiden des „Gottessohns“ gewidmete Prozession bei den irdisch | |
Leidenden enden zu lassen. | |
Überraschend allerdings, dass die Skulptur noch existiert: Die in St. Georg | |
stationierten französischen Besatzungstruppen des 19. Jahrhunderts hätten | |
die Bronze sicher gern für Waffen eingeschmolzen. Aber die St. Georger | |
strichen die Figuren bunt, sodass sie aussahen wie aus Stein. Und 1938 | |
brachte man die Skulpturen in einem Bunker unter. | |
Nach Kriegsende gab es allerdings Streit darüber, ob das wertvolle | |
Kunstwerk der Kirche oder der Stadt gehörte. Ein Gericht entschied: der | |
Stadt, weil die Figuren vor der Kirche auf städtischem Grund gestanden | |
hatten. Trotzdem gab man das Kunstwerk der Kirche zurück, die es | |
restaurierte und das Original in die Turmkapelle stellte. Auf den Vorplatz | |
platzierte man eine Kopie, ergänzt um Details, die beim Original verloren | |
gingen: Die Teufelskralle auf dem Kopf des „bösen“ Mitgekreuzigten, der | |
Jesus verhöhnt hatte, ist deutlich zu sehen – als Gegenstück zum Engel über | |
dem Haupt des „guten“, reumütigen Verbrechers. Die Idee dahinter: Reue noch | |
in der letzten Lebenssekunde führt ins Paradies. | |
Und auch wenn das Prozessionsgeschehen nachlässt und die Angst vorm | |
Fegefeuer schwindet – die Faszination Kreuzigungsgruppe bleibt: Alljährlich | |
an Karfreitag ereignet sich dort die bundesweit einzige ökumenische und | |
interreligiöse Kreuzwegandacht. Da versammeln sich Gläubige aus beiden | |
christlichen Gemeinden sowie der Centrum-Moschee zum gemeinsamen Gebet – | |
die MuslimInnen stoßen nach ihrem regulären Freitagsgebet dazu. | |
Theologische Probleme gebe es nicht, sagt Ahmed Yazici von der | |
Moscheegemeinde: Es sei ja ein Gebet und kein gemeinsames Ritual. Sensible | |
Grenzen würden also nicht überschritten. | |
1 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hl.-Dreieinigkeits-Kirche_(Hamburg-St._Georg) | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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